BT-Drucksache 18/12089

Neustart der Europäischen Union auf der Grundlage Sozialer Menschenrechte

Vom 25. April 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/12089
18. Wahlperiode 25.04.2017
Antrag
der Abgeordneten Andrej Hunko, Azize Tank, Wolfgang Gehrcke, Sabine
Zimmermann (Zwickau), Jan van Aken, Matthias W. Birkwald, Christine
Buchholz, Sevim Dağdelen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Heike Hänsel,
Inge Höger, Katja Kipping, Katrin Kunert, Stefan Liebich, Niema Movassat,
Dr. Alexander S. Neu, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Birgit Wöllert, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Neustart der Europäischen Union auf der Grundlage Sozialer Menschenrechte

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen
zur Gewährleistung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte
(weiter: Soziale Menschenrechte) verpflichtet. Der Vertrag über die Europäische
Union (EUV) legt in Artikel 3 neben der Errichtung des Binnenmarkts fest, dass
die EU auf eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“
hinwirkt. Weitere im Artikel benannte Ziele wie Vollbeschäftigung und sozialer
Fortschritt, die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung, die Förderung sozialer Ge-
rechtigkeit und des sozialen Schutzes, die Förderung des wirtschaftlichen, sozia-
len und territorialen Zusammenhaltes und der Solidarität zwischen den Mitglied-
staaten spielen in den Verträgen nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr wirken
vertragliche Grundlagen wie die Maastricht-Kriterien, die Regeln des Gemeinsa-
men Marktes und die Statuten der Europäischen Zentralbank zusammen mit der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) als ein Rahmen, der die
Mitgliedstaaten systematisch auf einen wirtschaftspolitisch neoliberalen Kurs
festlegen soll und so die Verteidigung und Weiterentwicklung sozialer Rechte
erheblich behindert. Keine praktische Rolle spielen dagegen die Sozialen Men-
schenrechte, die sich aus Artikel 6 EUV ergeben, der die Europäische Grund-
rechtecharta formal als den Verträgen gleichrangiges Recht anerkennt und die
Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention als allgemeine
Grundsätze zum Teil des Unionsrechts macht.

2. Die reale Entwicklung in der EU zeigt, dass sie sich von ihren sozialen Zielen
immer weiter entfernt. Massenarbeitslosigkeit, Armut, Obdachlosigkeit, unzu-
reichende Gesundheitssysteme, wachsende Entsolidarisierung und immer grö-
ßere soziale Ungleichheit innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten prägen den
Alltag in vielen Mitgliedsländern. Entgegen des angekündigten Ziels der Europa-
2020-Strategie ist die Armutsquote gestiegen. Die Krisenpolitik der EU und der

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meisten Mitgliedstaaten, einschließlich der Governance-Reformen von Europäi-
schem Semester bis Fiskalpakt bedeuten für die Menschen in der EU nicht Fort-
schritt, Wohlstand, soziale Rechte und Demokratie, sondern die Bedrohung die-
ser Werte. Die Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Inter-
nationalem Währungsfonds trägt, wie auch die Bundesregierung, Verantwortung
für die Verletzung Sozialer Menschenrechte in den sogenannten Programmlän-
dern: In Griechenland wurden Kollektivverhandlungen und Tarifverträge kom-
plett ausgehebelt und das Gesundheitswesen beschädigt. Die Divergenz und Kon-
kurrenz der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten
wird verstärkt durch eine ökonomische Steuerung, die auf eine Politik der Aus-
terität und der exportorientierten Wettbewerbsfähigkeit setzt. Die geforderten
Strukturreformen führen zum Abbau sozialer Sicherheit, zu sinkenden Löhnen
und bedrohen etablierte soziale Errungenschaften und Rechte.

3. Um die neoliberalen Antworten auf die Finanz- und Wirtschaftskrise durchzuset-
zen, wurde und wird der bestehende Rechtsrahmen der EU beständig geändert,
um die Mitgliedstaaten dauerhaft stärker auf Austerität und neoliberale Struktur-
reformen zu verpflichten. Gleichzeitig verhindert die Bundesregierung als einer
der zentralen Akteure Sanktionsmaßnahmen für hohe und stabilitätsgefährdende
Exportüberschüsse, wie sie Deutschland seit Jahren erwirtschaftet. In diesem
Kontext diskutieren die Eliten der Mitgliedstaaten und der EU seit Jahren die
Weiterentwicklung oder „Vollendung“ der Wirtschafts- und Währungsunion
(WWU). Zuletzt wurden mit dem 5-Präsidenten-Bericht und dem Weißbuch der
Kommission entsprechende Vorschläge gemacht.

4. In diesem Rahmen wurde die „Europäische Säule sozialer Rechte“ konzipiert, die
die EU-Kommission mit der Konsultation 2016 weiter konkretisiert hat. Offenbar
ging es der Kommission in diesem Prozess nicht darum, tatsächlich soziale
Rechte auf EU-Ebene zu verankern. Vielmehr zielte sie darauf ab, dem neolibe-
ralen Integrationsprozess einen sozialen Anstrich zu geben. Stellungnahmen des
Europäischen Gewerkschaftsbundes, des Generalsekretärs des Europarates und
der Bundesländer Thüringen, Brandenburg und Berlin zeigen, dass soziale Rechte
gar nicht das Fundament der „Europäischen Säule sozialer Rechte“ bilden. Das
Problem, dass die heutige EU Integration einen steuer- und sozialpolitischen
Wettlauf zu immer niedrigeren Standards bedeutet, in dem öffentliche Dienste
und Sozialleistungen zunehmend abgebaut werden, wird nicht einmal angespro-
chen. Die strukturelle Unterordnung sozialer Belange unter die Interessen der
Wirtschafts- und Finanzwelt bleibt unangetastet. Stattdessen wird die Säule sys-
tematisch mit den Erfordernissen der Effektivität und „Resilienz“ der WWU be-
gründet.

5. Die von der Bundesregierung veröffentlichte Stellungnahme begrenzt selbst die
schwachen sozialen Ambitionen der EU-Kommission und blockiert damit jeden
Versuch mit einer sozialen Dimension auch die Legitimation der EU zu stärken.
Auch nach der Konsultation zahlreicher kritischer Stellungnahmen gelangen we-
der die Bundesregierung noch die Kommission zur Erkenntnis, dass ein neuer,
selbstkritischer und grundlegenderer Ansatz für die soziale Säule notwendig ist:
Sie wollen weiterhin keine bessere Durchsetzung oder Weiterentwicklung sozia-
ler Rechte, sondern lediglich ein auf den Euro-Raum begrenztes Leistungsscree-
ning etablieren, mit dem auch Strukturreformen wie die Erhöhung des Renten-
eintrittsalters und der Flexicurity-Ansatz vorangetrieben werden sollen. Die be-
stehenden Widersprüche zwischen den Rechtsvorschriften der EU und den Ver-
pflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Europäischen Sozialcharta, der Europä-
ischen Menschenrechtskonvention, des UN-Sozialpaktes und der ILO-Konven-
tionen werden dagegen nicht angesprochen.

6. Setzen sich Bundesregierung und EU-Kommission mit diesem verfehlten Kurs
durch, wäre vor dem Hintergrund der umfassenden Krise wohl die letzte Chance

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/12089

zum sozialen Umsteuern in der EU vertan. Die EU wäre auch künftig nicht Prob-
lemlöserin, sondern Teil des Problems. Auch wenn heute die Regierungen mehr-
heitlich den neoliberalen Kurs mittragen, würde die EU weiter die Rolle überneh-
men, Druck auf die Mitgliedstaaten auszuüben, damit eine Politik gegen soziale
Interessen und Rechte der Menschen durchgesetzt wird. Anstatt in der Diskussion
um die Zukunft der EU auf militärische Stärke und neoliberale Kürzungs- und
Wettbewerbspolitik zu setzen, muss die EU mit einem sozialen Neustart einen
Weg aufzeigen, um zu einem legitimierten, neuen Integrationsprojekt werden zu
können, dass wirklich auf sozialen Fortschritt und Konvergenz ausgerichtet ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einer Ausrichtung der sozialen Säule entgegenzutreten, die im Rahmen des Euro-
päischen Semesters auf steigende Renteneintrittsalter und Flexicurity setzt, keine
systematische Stärkung sozialer Rechte in der EU anstrebt und im Rahmen des
Better-Regulation/Refit-Programms die bestehende Rechtsetzung zum Schutz
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu schwächen droht;

2. sich im Prozess der Ausgestaltung der Europäischen Säule sozialer Rechte dafür
einzusetzen, dass die revidierte Europäische Sozialcharta als „soziale Verfassung
Europas“ in die Säule integriert wird und dass tatsächlich Soziale Menschen-
rechte in der EU gestärkt und dafür alle bestehenden Potentiale in den Verträgen
maximal ausgeschöpft werden;

3. sich dafür einzusetzen, dass die EU-Verträge um ein soziales Fortschrittsproto-
koll ergänzt werden, mit dem klargestellt wird, dass soziale Rechte Vorrang ge-
genüber den wirtschaftlichen Freiheiten haben;

4. sich dafür einzusetzen, die politisch motivierte Blockade des Beitrittsabkommens
der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europäischen
Gerichtshof durch einseitige Erklärungen oder ein Vertragsprotokoll der Mit-
gliedstaaten zu überwinden;

5. die Voraussetzungen für eine bessere Verwirklichung Sozialer Menschenrechte
zu verbessern, indem sie die Blockade gegen den notwendigen Paradigmenwech-
sel in der EU-Krisenpolitik aufgibt und sich für eine wachstumsorientierte, sozi-
ale Antwort auf die Wirtschaftskrisen einsetzt, die unter anderem koordinierte
EU-weite Vermögenssteuern sowie Maßnahmen gegen Steuerwettbewerb, -ver-
meidung und -hinterziehung, eine koordinierte Investitions- und Industriepolitik
in der EU und ein öffentliches Investitionsprogramm sowie eine Überführung der
Geldpolitik der Europäischen Zentralbank unter demokratischer Kontrolle bein-
haltet. Die im Protokoll Nr. 12 bestimmten Regelungen des Stabilitäts- und
Wachstumspakts müssen grundlegend geändert werden;

6. sich bis zum Sozialgipfel des Rates am 17. November 2017 in der Diskussion um
die Weiterentwicklung der Union auf einen Paradigmenwechsel für eine Stärkung
der Sozialen Menschenrechte und der sozialen Dimension in der Europäischen
Union zu fokussieren, um einen grundlegenden demokratischen Neustart der EU
zu ermöglichen.

Berlin, den 25. April 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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