BT-Drucksache 18/1183

Zahlbarmachung von Ghetto-Renten an jüdische Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer sowie Jüdinnen und Juden mit Wohnsitz in Polen

Vom 15. April 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/1183
18. Wahlperiode 15.04.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Azize Tank, Ulla Jelpke, Matthias W. Birkwald, Sabine
Zimmermann (Zwickau), Katja Kipping, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Birgit Wöllert, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Zahlbarmachung von Ghetto-Renten an jüdische Widerstandskämpferinnen und
Widerstandskämpfer sowie Jüdinnen und Juden mit Wohnsitz in Polen

Seit dem Jahr 2000 bemüht sich die polnische Vereinigung der Jüdischen Kom-
battantinnen und Kombattanten und Geschädigten des Zweiten Weltkrieges mit
Sitz in Warschau um die Anerkennung der Ansprüche ihrer Mitglieder auf die
Zahlbarmachung deutscher Renten. Die Vereinigung versammelt ehemalige
jüdische Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer, Aufständische,
Partisaninnen und Partisanen, Häftlinge von Ghettos und faschistischen Kon-
zentrationslagern sowie Holocaust-Überlebende, die sich u. a. durch sog. ari-
sche Papiere vor der Vernichtung durch die Deutschen retten konnten.
Von den im Jahr 2000 noch lebenden polnischen Jüdinnen und Juden haben
860 Überlebende einen Antrag auf Auszahlung einer Rente an deutsche Be-
hörden gestellt. Bislang wurden jedoch alle Anträge von deutschen Behörden
abgelehnt. Zum 1. Oktober 2009 belief sich die Zahl der noch lebenden Antrag-
stellerinnen und Antragsteller lediglich auf ca. 250 Personen. Diese Personen
sind in einem Alter von 84 bis 90 Jahren und häufig gesundheitlich angeschla-
gen. Die Bundesrepublik Deutschland vertritt im Rahmen der sog. Deutschland-
Doktrin die Auffassung, dass sie seit dem 8. Mai 1945 subjektidentisch mit dem
Dritten Reich sei (vgl. Bundestagsdrucksache 17/14807). Die Bundesrepublik
Deutschland hat eine besondere Verpflichtung gegenüber den Opfern des
deutschen Faschismus, um ihnen angesichts der begangenen Verbrechen einen
humanen Lebensabend zu gewährleisten.
Mit dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 3. Juni 2009 (B 5 R 26/08 R)
wurden Kriterien präzisiert, nach welchen Jüdinnen und Juden, die in den be-
setzten Gebieten in Ghettos gearbeitet haben, der Weg für die Auszahlung einer
deutschen Rente freigemacht wurde. Nach Auskunft des Bundeskanzleramtes an
die Vereinigung der Jüdischen Kombattantinnen und Kombattanten vom 1. April
2010 „gilt [dies] allerdings nur für ehemalige NS-Verfolgte mit Wohnsitz außer-
halb Polens. Für NS-Verfolgte in Polen hat die Rechtsprechung zu keiner Ände-
rung geführt. Für Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt am 31.12.1990
in Polen hatten, gilt nämlich für die weitere Dauer ihres Aufenthalts in Polen das
deutsch-polnische Rentenabkommen vom 9.10.1975 weiter“. Dabei sollte unter-
strichen werden, dass dem wegweisenden Urteil des Bundessozialgerichts ge-
rade die Klage einer polnischen Jüdin auf Regelaltersrente vorlag, die im Ghetto
Drohiczyn (im damals von Deutschen besetzten Polen) gearbeitet hat und nach
der Befreiung, im Jahr 1956, nach Israel auswanderte.

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Nach der Urteilsbegründung des Gerichts stehe einem Leistungsexport der Ren-
tenzahlung ins Ausland nichts im Wege, da Deutschland mit Israel ein Sozial-
versicherungsabkommen abgeschlossen hat. Dabei betonte der 5. Senat des
BSG in diesem Urteil, dass „[d]ie einmalige historische Situation von Zwangs-
aufenthalten im Ghetto mit der Ausbeutung der Arbeitskraft der Verfolgten,
ohne welche die Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse im Ghetto rentenversiche-
rungspflichtig gewesen wäre, jedoch ein hinreichend sachbezogenes Differen-
zierungsmerkmal [ist], um dem Einwand einer willkürlichen Unterscheidung zu
begegnen. Verfassungsrechtliche Bedenken wegen der finanziellen Belastung
der Rentenversicherung durch Einbeziehung weiterer Personen ohne Beitrags-
leistung (vgl. BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nummer 3, Rdnr. 118) hält der
Senat mit Rücksicht auf den zusätzlichen Bundeszuschuss zur pauschalen Ab-
geltung nicht beitragsgedeckter Leistungen nach § 213 Absatz 3 SGB VI nicht
für überzeugend.“
Die Bundesrepublik Deutschland stellt sich auch im Kontext einer Novellierung
des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem
Ghetto (ZRBG) und der Zahlbarmachung von Rentenansprüchen an jüdische
Ghetto-Arbeiterinnen und -Arbeiter bislang auf den Standpunkt, dass eine Zahl-
barmachung von Renten in alle Länder möglich sei, außer an ehemalige Ghetto-
Arbeiterinnen und -Arbeiter, die ihren Wohnsitz nach der Befreiung vom deut-
schen Faschismus in der Republik Polen beibehalten hatten (vgl. Antwort der
Bundesregierung auf die Schriftliche Frage 74 der Abgeordneten Azize Tank
auf Bundestagsdrucksache 18/815).
Im Anschluss an das Urteil des BSG wandte sich die Vereinigung der Jüdischen
Kombattantinnen und Kombattanten wiederholt im Jahr 2009 an die Deutsche
Rentenversicherung Bund und wies auf die Ungleichbehandlung hin. Darüber
hinaus bat ihr Vorsitzender Tomasz Miedziński die Bundeskanzlerin Dr. Angela
Merkel persönlich, diese sachfremde Ungleichbehandlung der Ghetto-Arbeiter
zu beenden und den wenigen noch lebenden jüdischen Ghetto-Arbeitern in
Polen, deren Antragsdokumente sich bereits seit mehreren Jahren bei dem
Bundesamt für soziale Dienste und offene Vermögensfragen befinden, eine
Rente nach dem ZRBG auszuzahlen.
Die Bundesrepublik Deutschland verweigert jedoch bis heute eine Zahlbar-
machung von Renten für polnische Jüdinnen und Juden, die in Ghettos gearbei-
tet haben und ihren Wohnsitz in der Republik Polen haben. Das Bundeskanzler-
amt erklärte den betroffenen Holocaust-Überlebenden in Polen dazu, dass „[aus]
den Ghetto-Beitragszeiten nach dem ZRBG und etwaigen anderen deutschen
Zeiten […] kein Anspruch auf Zahlung einer deutschen Rente nach Polen [be-
steht]. An dieser Rechtslage hat auch der Beitritt Polens zur Europäischen Union
nichts geändert. […] Auch für den Fall, dass die deutsche Zeit zu keiner Renten-
erhöhung führt oder polnische Versicherungsträger eine Leistung nach polni-
schen Vorschriften ablehnen, besteht gleichwohl kein Anspruch auf eine
Rentenleistung aus der deutschen Rentenversicherung. Ebenso kann in diesem
Fall aus der deutschen Rentenversicherung kein Härteausgleich und keine
Erstattung früher entrichteter Beiträge gewährt werden“.
Die Begründung der Bundesregierung bei der Verweigerung der Zahlbar-
machung von Ghetto-Renten nach dem ZRBG an jüdische Ghetto-Arbeiterinnen
und -Arbeiter mit Wohnsitz in Polen wurde bereits am 12. Januar 2010 auch von
der polnischen Sozialversicherungsanstalt ZUS verifiziert und zurückgewiesen.
Nach Auskunft der ZUS „[betrifft] das deutsch-polnische Abkommen von 1975
Personen, die ihren Wohnsitz gewechselt und in das Gebiet des anderen Staates
bis 31.12.1990 übersiedelt sind[,] bzw. diejenigen Personen, die bis 31.12.1990
auf dem Gebiet eines der Vertragsstaaten beschäftigt und versichert waren und
in Zusammenhang damit verunglückten bzw. sich eine Berufskrankheit zu-
gezogen haben. […] Der gegenständliche Vertrag (Abkommen) vom 9.10.1975

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schließt jedoch die Leistungen an Opfer des II. Weltkrieges nicht mit ein. Die
angesprochene Angelegenheit – der Entschied des Bundessozialgerichts be-
treffend Renten aus Beschäftigungen in Ghettos während des II. Weltkrieges –
fällt nicht in die Kompetenzen der polnischen Sozialversicherungsanstalt
(ZUS)“.
Diese Rechtsgrundlage in Polen ist spätestens seit dem 4. März 2010 auch der
Bundesregierung bekannt (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Schrift-
liche Frage 74 der Abgeordneten Azize Tank, Bundestagsdrucksache 18/815).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Was hat die Bundesregierung bislang unternommen, und was unternimmt sie

gegenwärtig, um die Ansprüche der bislang von der Zahlbarmachung deut-
scher Altersrenten – nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus
Beschäftigungen in einem Ghetto – ausgenommenen jüdischen Ghetto-Ar-
beiterinnen und -Arbeiter mit Wohnsitz in Polen zu gewährleisten und sie mit
anderen jüdischen Ghetto-Arbeiterinnen und -Arbeitern gleichzustellen?

2. Welche rechtlichen Hindernisse stehen der Gewährleistung einer Zahlbar-
machung deutscher Renten nach dem ZRBG an jüdische Ghetto-Arbeiterin-
nen und -Arbeiter mit Wohnsitz in Polen durch Umwandlung der Alters-
renten in Entschädigungszahlungen oder periodische Zahlungen entgegen,
die in voller Höhe den Renten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von
Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto gleichgestellt wären (bitte ggf.
konkrete Normen des Völkerrechts sowie des Staatsrecht der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Polen nennen)?

3. Was steht nach Ansicht der Bundesregierung einer Umwandlung der Alters-
renten nach dem ZRBG in Entschädigungsrenten oder periodische Zahlun-
gen entgegen, um so der deutschen historischen Verpflichtung und Verant-
wortung zu genügen, welche die Regierungskoalition (CDU, CSU und SPD)
in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt hat, damit „den berechtigten Interes-
sen der Holocaust-Überlebenden nach einer angemessenen Entschädigung
für die in einem Ghetto geleistete Arbeit Rechnung getragen wird“, auch an-
gesichts der überschaubaren Zahl von Anspruchsberechtigten in Polen?

4. Welche unüberbrückbaren Bestimmungen des Völkerrechts oder politischen
Tatsachen stehen der Bundesrepublik Deutschland im Wege, um mit der
Republik Polen eine sofortige und einvernehmliche bilaterale Lösung zur
Zahlbarmachung von Ghetto-Renten nach dem ZRBG für jüdische Ghetto-
Arbeiterinnen und -Arbeiter mit Wohnsitz in Polen zu vereinbaren bzw. Ent-
schädigungsrenten oder periodische Zahlungen zu gewähren, die in voller
Höhe den Renten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Be-
schäftigungen in einem Ghetto gleichgestellt wären?

5. Welche unüberbrückbaren Bestimmungen innerstaatlichen Rechts oder
politischen Tatsachen stehen der gesetzgeberischen Handlungsfreiheit der
Bundesrepublik Deutschland im Wege, um einseitig eine sofortige Zahlbar-
machung von Ghetto-Renten nach dem ZRBG für jüdische Ghetto-Arbeite-
rinnen und -Arbeiter mit Wohnsitz in Polen zu gewährleisten bzw. Entschä-
digungsrenten oder periodische Zahlungen zu gewähren, die in voller Höhe
den Renten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäf-
tigungen in einem Ghetto gleichgestellt wären?

6. Auf der Grundlage welcher konkreten politischen und rechtlichen Erwägun-
gen vertritt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Bundesregierung
völkerrechtlich zu einer Modifizierung bestehender Abkommen mit Polen
nicht handlungsfähig wäre und mithin zu einer Änderung der geltenden
Rechtslage im Hinblick auf eine Zahlbarmachung von Ghetto-Renten an

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jüdische Ghetto-Arbeiterinnen und -Arbeiter in Polen nicht im Stande sei,
weil das Abkommen von 1975 „nach § 110 Absatz 3 Sechstes Buch Sozial-
gesetzbuch (SGB VI) als zwischenstaatliche Vereinbarung über dem inner-
staatlichen Recht“ stehe (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Schrift-
liche Frage 74 der Abgeordneten Azize Tank, Bundestagsdrucksache 18/
815)?

7. Auf der Grundlage welcher konkreten politischen und rechtlichen Erwägun-
gen vertritt die Bundesrepublik Deutschland die Auffassung, dass „[für] die
Zahlung von Renten an in Polen lebende Personen sowohl aus polnischen
als auch aus deutschen Versicherungszeiten […] ausschließlich der polni-
sche Versicherungsträger zuständig“ sei, wenn sie sich zugleich seit dem
8. Mai 1945 als subjektidentisch mit dem Deutschen Reich betrachtet und
laut Koalitionsvertrag ihrer „historischen Verantwortung für die Überleben-
den des Holocaust[s], die in der NS-Zeit unsägliches Leid erlebt haben, be-
wusst“ sei (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage 74
der Abgeordneten Azize Tank, Bundestagsdrucksache 18/815)?

8. Inwiefern ist nach Auffassung der Bundesregierung die in der Vorbemer-
kung zitierte Rechtsauffassung des polnischen Sozialversicherungsträgers
ZUS, derzufolge das Sozialversicherungsabkommen aus dem Jahr 1975 kei-
neswegs den Export der Ghetto-Renten nach Polen ausschließe, zutreffend
(bitte begründen)?

9. Hat sich der Normenkontrollrat (NKR) im Zuge seiner Prüfung der
Kabinettsvorlage zum Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Be-
schäftigungen in einem Ghetto auch bezüglich der besonderen Problematik
der Zahlbarmachung von Ghetto-Renten an jüdische Ghetto-Arbeiterinnen
und -Arbeiter mit Wohnsitz in Polen beschäftigt?
a) Wenn nein, warum nicht?
b) Wenn ja, mit welchem Ergebnis?
c) Welche alternativen Lösungsvorschläge wurden vom NKR im Rahmen

seiner Prüfung hierbei vorgelegt?
10. Mit welchem Ergebnis fand eine Evaluierung des ZRBG durch den Normen-

kontrollrat (NKR) nach Ablauf der Zweijahresfrist nach Verabschiedung des
ZRBG statt, und welche Rolle spielte dabei die besondere Problematik der
Zahlbarmachung von Ghetto-Renten an jüdische Ghetto-Arbeiterinnen und
-Arbeiter mit Wohnsitz in Polen, die der Bundesregierung spätestens seit
dem Jahr 2000 durch Hinweise an die Deutsche Rentenversicherung seitens
der Vereinigung der Jüdischen Kombattantinnen und Kombattanten und
Geschädigten des Zweiten Weltkrieges mit Sitz in Warschau bekannt gewor-
den war?

Berlin, den 15. April 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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