BT-Drucksache 18/11796

Programm für soziale Gerechtigkeit - Konsequenzen aus dem Fünften Armuts- und Reichtumsbericht

Vom 30. März 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/11796
18. Wahlperiode 30.03.2017
Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W.
Birkwald, Dr. Petra Sitte, Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Birgit
Wöllert, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Programm für soziale Gerechtigkeit – Konsequenzen aus dem Fünften Ar-
muts- und Reichtumsbericht

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist im Grundsatz ein wichtiges und
geeignetes Instrument zur Analyse der sozialen Wirklichkeit in Deutschland.
Ausdrücklich zu begrüßen ist, dass Befunde, Gutachten und Studien, Veranstal-
tungsberichte und Daten auf einer eigenen Homepage öffentlich zugänglich ge-
macht wurden und werden. Bedauerlich ist aber, dass die Perspektive der be-
troffenen Menschen zwar in einem Workshop aufgegriffen wurde, aber in dem
Bericht selbst keine erkennbare Rolle spielt.

2. Unverändert liegt die Zuständigkeit für die Armut- und Reichtumsberichterstat-
tung in den Händen der Bundesregierung. Die politisch verantwortliche Instanz
berichtet und vor allem bewertet sie die Entwicklung der sozialen Ungleichheit.
Dieses Verfahren führt streckenweise zu einer geschönten Darstellung der Wirk-
lichkeit. Auch beim Entwurf des Fünften Armuts- und Reichtumsberichts von
Dezember 2016 (5. ARB) wurden kritische Aussagen früherer Entwürfe schön-
färberisch umgedeutet. So werden etwa die Befunde der Begleitforschung, dass
die Interessen von Reichen durch die Politik stärker umgesetzt werden als die
Interessen von Armen, in dem endgültigen Bericht nicht hinreichend wiederge-
geben (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 15.12.2016). In Teilen liest sich der Bericht
als eine Apologie des Regierungshandelns.
Der Deutsche Bundestag begrüßt daher ausdrücklich die Veröffentlichungen al-
ternativer Armutsberichte – etwa durch den Paritätischen Gesamtverband oder
die Schattenberichte der Nationalen Armutskonferenz.

3. Der Bericht stellt weiterhin den Lebenslaufansatz in den Vordergrund der Ana-
lyse (Teil B). Dieser Ansatz hat zwar durchaus Stärken und Vorzüge für die Ana-
lyse von Erfolgs- und Risikofaktoren für gelingende Teilhabe, neigt aber zu einer
Vernachlässigung struktureller Faktoren der sozialen Polarisierung. So wird in
dem Bericht das „Armutsparadox“ – Armut geht trotz vermeintlich günstiger
wirtschaftlicher Rahmenbedingungen nicht zurück – nicht hinreichend erörtert.
Auch wird nur unzureichend nach den politischen Ursachen von sozialer Un-
gleichheit und Armut gefragt. In dem Bericht wird beispielsweise behauptet, dass
die Leistungen der Grundsicherung das sozio-kulturelle Existenzminium von hil-
febedürftigen Personen decken, ohne die kaum bestreitbare Bedarfsunterdeckung

Drucksache 18/11796 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

und Armutslage der Leistungsberechtigten auch nur zu erwähnen (vgl. S. 251,
342; im Glossar ist von „bekämpfter Armut“ die Rede, S. 613). Unmittelbar ein-
sichtige politische Ursachen von sozialer Ungleichheit am unteren Ende – näm-
lich Grundsicherungsleistungen unterhalb der Armutsgrenze – werden ignoriert
und damit verschleiert. Mit der sozialen geht die gesundheitliche Ungleichheit
einher, deren Ausmaß und Ursachen im 5. ARB keinen angemessenen Raum ein-
nehmen.
Die Bundesregierung hat sich im Vorfeld auf drei inhaltliche Schwerpunkte für
den 5. ARB verständigt, die im Teil A zusammengefasst werden: Reichtum, aty-
pische Beschäftigung und sozialräumliche Segregation. Die Schwerpunktsetzun-
gen sind durchaus zu begrüßen und bringen auch etwa in Bezug auf die Frage der
sozialräumlichen Segregation einen Erkenntnisfortschritt. Leider ist aber insbe-
sondere der Schwerpunkt Reichtum unzureichend umgesetzt, wenn der Bericht
selbst ausführt, dass offizielle Zahlen nicht vorliegen und Analysen auf Stichpro-
benerhebungen angewiesen sind, die tendenziell die Hochvermögenden unter-
schätzen (S. 581).

4. Ungeachtet der Schwächen dokumentiert der Fünfte Bericht das Ausmaß der so-
zialen Spaltung in Deutschland:
a) Die obersten zehn Prozent der Haushalte verfügen nach Angaben des

SOEP über fast 60 Prozent des Gesamtvermögens, während die untere
Hälfte der Haushalte lediglich nur über etwa 1 Prozent des gesamten Net-
tovermögens verfügt (S. 497 ff.). An anderer Stelle zitiert der Bericht
Schätzungen, die den Anteil des obersten 1 Prozents auf zwischen 31 und
34 Prozent und der obersten 10 Prozent auf 63 bis 74 Prozent des Ge-
samtvermögens beziffern (S. 122 f.).

b) Auch die Einkommen sind zunehmend ungleich verteilt. Unabhängig von
der gewählten Datenquelle (SOEP, EU-SILC, EVS) nimmt der Anteil des
Einkommens, der an die ärmeren Haushalte geht, ab, während der Anteil
der einkommensreichsten Haushalte zunimmt (S. 491 ff.). Besonders aus-
geprägt sind die Einkommenszuwächse in der Spitze der Einkommens-
verteilung (S. 126). Die reichsten 10 Prozent verdienen etwa so viel wie
die unteren 40 Prozent zusammen.

c) Das Ausmaß an atypischer und vielfach prekärer Beschäftigung hat spür-
bar zugenommen. Der Anteil der Erwerbstätigen, die trotz Arbeit arm
sind, stieg von 6,5 Prozent (2000) auf 9,1 Prozent (2013) an. Beide Pro-
zesse hängen zusammen: Atypisch Beschäftigte sind deutlich häufiger
von Armut bedroht.

d) Trotz aktuell vergleichsweise günstiger Arbeitsmarktentwicklung hat die
Armut nicht abgenommen („Armutsparadoxon“). Stattdessen hat Armut
in der jüngeren Vergangenheit deutlich zugenommen – auf 15 bis fast 17
Prozent (abhängig von der Datenquelle, S. 543 ff.). Besonders problema-
tisch ist die dauerhafte Verfestigung von Armut: Wer in Armut fällt,
bleibt häufiger dauerhaft arm (von 5,1 Prozent in 1995 auf 8,5 Prozent in
2013, S. 545). Zu dem Problem „verdeckter Armut“, also hilfebedürftige
Personen, die ihre Leistungsansprüche nicht realisieren, schweigt der Be-
richt bedauerlicherweise.

e) Die Zahl der Langzeiterwerbslosen stagniert. Kinder sind insbesondere
in Haushalten von Alleinerziehenden und kinderreichen Familien unver-
ändert massiv von Armut bedroht. Altersarmut ist bereits jetzt in
Deutschland Realität und droht ohne politische Kurskorrektur zu einem
Massenphänomen zu werden. Die genannten Gruppen profitieren keines-
wegs von der vermeintlich positiven Konjunktur und der Ausweitung der
Beschäftigung.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/11796

f) Soziale Problemlagen konzentrieren sich auch räumlich. Insbesondere
große Teile im Osten Deutschlands und zunehmend Regionen in Nord-
rhein-Westfalen bleiben in zahlreichen sozialen Aspekten – von Arbeits-
losigkeit über prekäre Arbeit und Armut bis hin zur Alterssicherung –
gegenüber der Entwicklung im restlichen Land zurück.

5. Die Befunde des Fünften Armuts- und Reichtumsberichts zeigen einen dringen-
den Handlungsbedarf zur Herstellung von sozialer Gerechtigkeit. Soziale Gleich-
heit bedeutet auch, dass die sozialen Ursachen für gesundheitliche Ungleichheit
konsequent bekämpft werden. Der Bericht zeigt, dass der ökonomische Reichtum
der Gesellschaft insgesamt zunimmt. Die notwendigen Ressourcen für eine le-
benswerte und solidarische Gesellschaft für alle sind vorhanden.
Leider bleibt in dem Bericht die Notwendigkeit der sozialpolitischen Umvertei-
lung zur Herstellung einer gerechteren Gesellschaft unterbelichtet. Die zentrale
Verteilungsfrage wird nicht gestellt. Auch wird nicht hinreichend auf die sozialen
und ökonomischen Kosten der Ungleichheit hingewiesen. So werden die Aussa-
gen der OECD oder auch des DIW (DIW Wochenbericht 10/2017), dass stei-
gende Einkommensungleichheit das Wirtschaftswachstum negativ beeinflussen,
nicht positiv aufgegriffen, sondern eher relativiert.
In dem Berichtsentwurf fehlt ein politisches Aktionsprogramm. Das eigentliche
Anliegen der Berichterstattung, über das Aufzeigen von sozialen Problemlagen
politisches Handeln zu befördern, wird damit verfehlt. Es finden sich keine kon-
kreten Vorschläge zur nachhaltigen Bekämpfung von Armut und Ungleichheit
und zur Formulierung eines Programms für soziale Gerechtigkeit für alle. Soll
der 5. ARB nicht politisch ebenso folgenlos bleiben wie seine Vorgänger, so ist
er zwingend durch eine koordinierte und verbindliche Strategie gegen soziale Un-
gleichheit und Armut zu ergänzen. Notwendig sind konkrete politische Ziele, die
mit konkreten Maßnahmen und Aktivitäten zu untersetzen sind.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

6. die Zuständigkeit für die Armuts- und Reichtumsberichterstattung auf eine unab-
hängige Sachverständigenkommission unter Beteiligung von Armut betroffener
Personen zu übertragen. Die Sachverständigenkommission erhält den Auftrag für
eine unabhängige und kritische Analyse der sozialen Wirklichkeit und für die Er-
arbeitung von konkreten Vorschlägen zur Bekämpfung von sozialer Ungleichheit
und offener und verdeckter Armut.

7. Die regierungsunabhängige Sachverständigenkommission hat folgende Aufga-
ben:
a) Analyse der Ursachen von sozialer Ungleichheit, (verdeckter) Armut und

sozialer Ausgrenzung;
b) Analyse der sozialen Folgen von politischen Initiativen und Maßnahmen;
c) Erarbeitung von Vorschlägen für Maßnahmen gegen Armut und soziale Un-

gleichheit – insbesondere gegen sozial bedingte gesundheitliche Ungleich-
heit und gegen Ungleichheit der Einkommen und Vermögen; sowie

d) Entwicklung eines Programms zur Durchsetzung sozialer Grundrechte und
des garantierten Schutzes vor Armut.

8. Die Bundesregierung nimmt zu den Aktivitäten und Vorschlägen der Sachver-
ständigenkommission Stellung und berichtet darüber dem Bundestag.

Berlin, den 28. März 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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