BT-Drucksache 18/11723

Neustart für eine friedliche und gerechte Europäische Union

Vom 28. März 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/11723
18. Wahlperiode 28.03.2017
Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Matthias W. Birkwald,
Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Heike
Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Katja Kipping, Katrin Kunert, Stefan Liebich,
Niema Movassat, Dr. Alexander S. Neu, Azize Tank, Alexander Ulrich, Kathrin
Vogler, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Neustart für eine friedliche und gerechte Europäische Union

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Seit der Entscheidung für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen
Union (EU), der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA und dem
Erstarken rechter (rechtsextremistischer, rechtpopulistischer) Parteien in Mit-
gliedstaaten der EU wird die existenzielle Krise der Europäischen Union von den
Regierenden der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union anerkannt. In
Übereinstimmung mit Forderungen von US-Präsident Trump zeichnet sich eine
weitere Militarisierung der EU ab. Im Inneren findet eine Zentralisierung bei der
EU-Kommission und den Regierungen der Mitgliedstaaten bei mangelnder de-
mokratisch parlamentarischer Kontrolle statt, während unsoziale, neoliberale und
autoritäre Entwicklungen verstärkt werden und die notwendige ökologische Um-
gestaltung nicht wirklich angegangen wird. Das von der EU-Kommission veröf-
fentlichte „Weißbuch zur Zukunft Europas“ stellt gegenüber den genannten Ten-
denzen keine tragfähige Perspektive dar. Der EU-Austritt weiterer Mitgliedstaa-
ten scheint denkbar. Ohne einen Neustart auf der Basis grundlegend veränderter
EU-Verträge kann selbst der Zusammenbruch der EU nicht ausgeschlossen
werden.

2. Frieden im Hinblick auf eine Staatengemeinschaft darf nicht nur bedeuten, dass
zwischen ihren Mitgliedern keine kriegerischen Konflikte bestehen, Frieden muss
weltweit auch mit allen anderen Ländern bestehen. Dem muss die EU in vollem
Umfang gerecht werden. Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
war kein Teil der „Römischen Verträge“. Als Möglichkeiten der Militarisierung
wurden sie erst durch den Vertrag von Maastricht eingeführt und durch den Ver-
trag von Lissabon verschärft. Selbst nach EU-Recht sind die militärischen Akti-
onen der Bundeswehr in Syrien indes nicht zugelassen. Die Forderungen des Eu-
ropäischen Rates vom 15. Dezember 2016 nach einer verstärkten Militarisierung,

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einem Aktionsplan im Verteidigungsbereich, einem Verteidigungsfonds und ei-
nem gemeinsamen Stab sind als weitere Maßnahmen zur Militarisierung der EU
zu qualifizieren.

3. Auf der Flucht ertranken in den vergangenen Jahrzehnten mehr als 30.000 Men-
schen im Mittelmeer oder kamen auf andere Weise ums Leben. Dennoch wird
keine Umkehr der Abschottungspolitik der EU diskutiert, um das Grundrecht auf
Asyl und die Genfer Flüchtlingskonvention praktisch umzusetzen. Stattdessen
wird auf Abwehr und Abschreckung gesetzt und mit anderen, auch autoritären
Staaten werden Abkommen auf dem Rücken von Flüchtlingen geschlossen. Da-
bei hat die Politik der EU und einzelner Mitgliedstaaten zu den Fluchtursachen
beigetragen: Das betrifft die Kriegseinsätze in Afghanistan, Libyen und Syrien,
Waffenexporte, aber auch die Zerstörung heimischer Märkte in Afrika durch den
Export subventionierter Nahrungsmittel aus der EU, durch ungerechte Wirt-
schafts- und Handelsbeziehungen sowie das Leerfischen der Meere vor Afrika
durch europäische Fangflotten.

4. Die Krisenpolitik von EU und den meisten Mitgliedstaaten bedeutet für Bürge-
rinnen und Bürger heute nicht Fortschritt, Wohlstand, soziale Rechte und Demo-
kratie, sondern die Bedrohung dieser Werte. Die Troika aus Europäischer Zent-
ralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds trägt wie die Bun-
desregierung Verantwortung für die Verletzung sozialer Menschenrechte in den
sogenannten Programmländern: In Griechenland wurden Kollektivverhandlun-
gen und Tarifverträge komplett ausgehebelt und das Gesundheitswesen beschä-
digt. Massenarbeitslosigkeit, Armut, Obdachlosigkeit, unzureichende Gesund-
heitssysteme, wachsende Entsolidarisierung und immer größere soziale Un-
gleichheit innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten prägen den Alltag für viele
Menschen in der EU. Vermittelt wird das über eine ökonomische Steuerung, die
auf Austerität, Armut und exportorientierten Wettbewerb setzt. Mitgliedstaaten
sollen die sozialen Sicherungssysteme und Arbeitsmärkte neoliberal reformieren,
während keine Maßnahmen zur notwendigen Reduzierung des übermäßigen, vor
allem deutschen, Exportüberschusses getroffen werden. Die Eliten der Mitglied-
staaten und der EU diskutieren seit Jahren über die Weiterentwicklung der Wirt-
schafts- und Währungsunion (WWU). Die dabei konzipierte „Europäische Säule
sozialer Rechte“ zielt aber nicht auf deren Verankerung und Stärkung ab, sondern
soll der neoliberalen Integration nur einen sozialen Anstrich geben. Die bestehen-
den Widersprüche zwischen den Rechtsvorschriften der EU und den Verpflich-
tungen der Mitgliedstaaten aus der Europäischen Sozialcharta, der Europäischen
Menschenrechtskonvention und den ILO-Konventionen werden dagegen nicht
angesprochen. Ohne einen Neustart mit sozialem Fortschritt und Konvergenz
zwischen den Mitgliedstaaten wird die EU kein politisch legitimiertes Integrati-
onsprojekt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. unter demokratischer Einbeziehung einer Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern
Vorschläge für einen Neustart der Europäischen Union (EU) zu erarbeiten und
dafür eine breite gesellschaftliche Diskussion in Deutschland und darüber hinaus
anzustoßen. Die Ergebnisse eines solchen Diskussionsprozesses sind dem Rat als
Entwürfe zur Änderung der Verträge vorzulegen, um sie einem nach Artikel 48
des EU-Vertrags einzuberufenden Konvent zur Beratung mit dem Ziel der For-
mulierung von grundlegenden Änderungen der EU-Verträge nach dem ordentli-
chen Änderungsverfahren vorzulegen;

2. innerhalb der EU die Ablehnung der aktuellen Vorschläge zur weiteren Militari-
sierung der EU durchzusetzen und stattdessen eine Abschaffung der Vorschriften
über die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik im EU-Vertrag zu

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/11723

betreiben und dafür zu sorgen, dass die EU eine weltweites Abrüstungsprogramm
erarbeitet und sich für die Umsetzung in den internationalen Gremien und zwi-
schen den verschieden Staaten einsetzt;

3. für eine weltweite Entspannungs- und Friedenspolitik, auch gegenüber Russland,
und zugleich für eine Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollek-
tives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands einzutreten;

4. auf nationaler und EU-Ebene alles zu unternehmen, um insbesondere die von EU-
Mitgliedstaaten zu verantwortenden Fluchtursachen zu bekämpfen, das Massen-
sterben von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer zu beenden und eine grundlegende
Neuausrichtung der EU-Asylpolitik mit dem Ziel einer offenen, gerechten und
solidarischen Politik im Sinne eines effektiven Flüchtlingsschutzes zu erreichen.
Der EU-Türkei-Deal ist aufzukündigen. Frontex muss als Agentur, die das Ziel
einer möglichst effektiven Abschottung und Vorverlagerung der Grenzabwehr
verfolgt, abgeschafft werden. Es müssen legale und sichere Einreisewege für
Schutzsuchende geschaffen werden. Die rechtlichen Mindeststandards in den
EU-Asylrichtlinien sind anzuheben, etwa um die Inhaftierung von Schutzsuchen-
den in geschlossenen Aufnahmeeinrichtungen auszuschließen;

5. ihre Blockade gegen den notwendigen Paradigmenwechsel in der EU-Krisenpo-
litik aufzugeben und sich für eine wachstumsorientierte, soziale und ökologische
Antwort auf die Wirtschaftskrisen einzusetzen, die unter anderem koordinierte
EU-weite Vermögenssteuern sowie Maßnahmen gegen Steuerwettbewerb, -ver-
meidung und -hinterziehung, eine koordinierte Investitions- und Industriepolitik
in der EU und ein öffentliches, ökologisch und sozial ausgerichtetes Investitions-
programm sowie eine Überführung der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank
unter demokratische Kontrolle beinhaltet. Die Regelungen des Stabilitäts- und
Wachstumspakts müssen grundlegend geändert werden. Der Druck von EU-In-
stitutionen in Richtung steigender Renteneintrittsalter und zur Forcierung des Fle-
xicurity-Ansatzes sind zu verhindern, ebenso jede Schwächung der Rechte zum
Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Stattdessen müssen die EU-
Verträge um ein soziales Fortschrittsprotokoll ergänzt werden, mit dem klarge-
stellt wird, dass soziale Rechte Vorrang gegenüber den wirtschaftlichen Freihei-
ten haben.

Berlin, den 28. März 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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