BT-Drucksache 18/1116

Kürzungspolitik beenden - Soziale Errungenschaften verteidigen - Soziales Europa schaffen

Vom 9. April 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/1116
18. Wahlperiode 09.04.2014

Antrag
der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Wolfgang Gehrcke,
Matthias W. Birkwald, Dr. Diether Dehm, Andrej Hunko, Katja Kipping, Jutta
Krellmann, Azize Tank, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Birgit Wöllert, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Kürzungspolitik beenden Soziale Errungenschaften verteidigen
Soziales Europa schaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Prozess der europäischen Integration war neben der Hoffnung auf Frieden
auch immer mit der Hoffnung auf sozialen Fortschritt verbunden. Ein Europa, das
soziale Sicherheit, gute Arbeit mit guten Löhnen, Bildung und Gesundheitsvor-
sorge für alle bietet, in dem Kinder- und Altersarmut der Vergangenheit angehö-
ren und allen Menschen individuelle Entfaltungsmöglichkeiten gewährt werden,
ein solches Europa gilt vielen Millionen Menschen in den Mitglied- und Anwär-
terstaaten nach wie vor als erstrebenswert. Die EU bezeichnet sich selbst gern als
das „Europäische Sozialmodell“. Damit wird der Anspruch zum Ausdruck ge-
bracht, dass in der EU die wirtschaftliche Entwicklung in vorbildlicher Weise mit
dem sozialen Zusammenhalt verknüpft sei. Im Rahmen der sog. Europa-2020-
Strategie wurden unverbindliche Ziele zur Erhöhung des Beschäftigungsstan-
des und zur Reduktion der Armut verabredet.

Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Marktintegration statt sozialer Aus-
gleich ist das Kennzeichen der europäischen Integration. Mit den Kernprojekten
Binnenmarkt und Währungsunion wurde die Politik der EU auf Privatisierung,
Deregulierung und ruinösen Wettbewerb ausgerichtet. Steuer- und Sozialdum-
ping sind die Folge. Spätestens mit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 und der
Politik der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und
Internationalem Währungsfonds ist die Hoffnung auf ein soziales Europa ent-
täuscht worden. Mit der Kürzungs- und Privatisierungspolitik sowie dem Fiskal-
pakt werden auf breiter Front soziale Errungenschaften zunichte gemacht, zivile
und gewerkschaftliche Rechte beschnitten, die Demokratie ausgehöhlt und Men-
schenrechte mit Füßen getreten.

Statt für sozialen Zusammenhalt zu sorgen, treibt die EU-Kommission den Abbau
sozialer Rechte und arbeitsrechtlicher Standards voran. Sie zwingt den Krisen-
ländern eine wirtschaftlich sowie sozial desaströse Kürzungspolitik auf und treibt
EU-weit die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen voran. Darüber hinaus
strebt sie weitere Handelsliberalisierungen etwa im Rahmen der TTIP-Ver-
handlungen mit den USA an, durch die die Löhne, die sozialen, gesundheitli-

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chen und ökologischen Standards unter Druck gesetzt und den Interessen interna-
tionaler Konzerne untergeordnet werden.

Die Folgen dieser unsozialen Politik sind deutlich zu erkennen:

Die Arbeitslosigkeit ist in Europa massiv angestiegen und erreichte nach 7 Pro-
zent im Jahr 2008 einen Höchstwert von 11 Prozent im Jahr 2013. Nach Eurostat
waren im Dezember 2013 in der Europäischen Union insgesamt 26,2 Millionen
Männer und Frauen arbeitslos, davon 19 Millionen im Euroraum. Die Arbeitslo-
sigkeit verfestigt sich mit allen sozialen Folgen. Zwischen 2008 und 2012 ist die
Langzeitarbeitslosigkeit um 2,1 Prozentpunkte auf 4,7 Prozent angestiegen. Be-
sonders betroffen sind junge Erwachsene. Die Jugendarbeitslosigkeit hat insbe-
sondere im Süden Europas horrende Ausmaße erreicht: 59,2 Prozent in Griechen-
land, 54,3 Prozent in Spanien, 49,2 Prozent in Kroatien und 41,6 Prozent in Itali-
en. Zwar haben sich die EU-Kommission wie auch die Mitgliedstaaten wieder-
holt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugendarbeitslosig-
keit bekannt. Doch die vorgeschlagenen und teils auf den Weg gebrachten Maß-
nahmen – Jugendbeschäftigungsinitiative und Jugendgarantie, die Pläne für ein
europäisches Netz der Arbeitsvermittlungen (EURES) sowie der Pakt für Wachs-
tum und Beschäftigung – sind allesamt unterfinanziert und unverbindlich. Vor
allem aber setzen sie nicht an den Krisenursachen an. Sie zielen einseitig darauf
ab, die Mobilität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erhöhen und for-
cieren damit die Abwanderung von Fachkräften anstatt durch gezielte Wirt-
schaftsförderung und öffentliche Investitionen – gerade in den sogenannten Kri-
senstaaten und strukturschwachen Regionen – Arbeitsplätze zu schaffen und
Wachstumsimpulse zu setzen.

In vielen Ländern wurden gesetzliche Mindestlöhne gesenkt und die Löhne ins-
gesamt gekürzt. Parallel wurden und werden kollektive Rechte und Gewerkschaf-
ten gerade in Ländern, die Mittel aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM) erhalten und daraus folgende Auflagen erfüllen müssen, aber auch in an-
deren EU-Mitgliedstaaten geschwächt.

Die Kürzungspolitik verschärft soziale Ungleichheit und Armut und verstärkt
soziale Ausgrenzung. Die Bestandsaufnahme der Kommission zur Europa-2020-
Strategie ist in Bezug auf die sozialen Ziele vernichtend. Die soziale Ungleichheit
nimmt zu. Die oberen 20 Prozent verfügten im Jahr 2012 über das Fünffache des
Einkommens der unteren 20 Prozent, während laut Eurostat 24,8 Prozent der EU-
Bürgerinnen und EU-Bürger von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind.
Tendenz: steigend. Im Süden und Osten der EU ist die Armut und soziale Aus-
grenzung alarmierend hoch. In Bulgarien sind 49 Prozent der Bevölkerung davon
betroffen, in Rumänien 42 Prozent und in Griechenland 35 Prozent. Die OECD
weist in einer neuen Publikation (Society at a Glance 2014 - OECD Social
Indicators) darauf hin, dass die Finanzkrise in den betroffenen Ländern eine So-
zialkrise entfacht hat und fordert mehr Unterstützung für die schwächsten sozia-
len Gruppen ein. Aber auch in einem wirtschaftlich bisher stabilen Land wie
Deutschland verharrt die Armut trotz günstiger Konjunktur auf unerträglich ho-
hem Niveau.

Infolge der EU-Krisenpolitik wurden soziale Sicherungssysteme umfassend zu-
rückgebaut und Lebensstandards in den betroffenen Ländern gesenkt. So sind in
den sogenannten ESM-Programmländern auf Anforderung der Troika aus Euro-
päischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfond mas-
sive Rentenkürzungen umgesetzt worden. Aber auch auf die anderen EU-
Mitgliedstaaten wird Druck ausgeübt, die Alterssicherung weiter zu privatisieren
und das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Selbst Rentenreformprojekte, die nur für
kurze Zeit einigen Menschen Verbesserungen bringen, wie die abschlagsfreie
Rente ab 63 nach 45 Beitragsjahren in Deutschland, werden von der EU-

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Kommission scharf angegriffen. So kündigte EU-Währungskommissar Olli Rehn
Ende Februar 2014 an zu prüfen, ob ein Verfahren gegen Deutschland eingeleitet
werden soll, da diese Maßnahme die deutschen Staatsfinanzen gefährde.

Derzeit verhandelte Maßnahmen, wie der Wettbewerbspakt, laufen darauf hinaus,
die Troika-Politik auf die gesamte Eurozone bzw. EU auszudehnen. So ist mit
dem Wettbewerbspakt vorgesehen, dass künftig alle beteiligten Länder Verträge
mit der EU-Kommission abschließen, die von der Stoßrichtung her den
Austeritätsprogrammen in Griechenland und Portugal entsprechen.

Die Kürzungsmaßnahmen, die die Troika in enger Kooperation mit der Bundes-
regierung im Gesundheitsbereich den ESM-Programmländern verordnet hat,
haben dramatische Folgen für die Bevölkerung. In Griechenland zum Beispiel
besteht für viele Menschen kein Versicherungsschutz mehr. In Apotheken wer-
den Medikamente meistens nur gegen Barzahlung ausgegeben, viele Ärzte be-
handeln nur bei Vorkasse. In den noch nicht geschlossenen Krankenhäusern
kommt es nachweislich zu vielen vermeidbaren Todesfällen, weil aufgrund mas-
siven Ärzte- und Personalmangels nicht adäquat versorgt werden kann. Die An-
wendung von Wettbewerbsmechanismen forciert auch in den anderen EU-
Mitgliedstaaten die Privatisierung, Deregulierung und Ökonomisierung des Leis-
tungsgeschehens sowie eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Gesund-
heitliche Dienstleistungen sind aber Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge und
dürfen als solche nicht der Anwendung von Markt- und Wettbewerbsmechanis-
men unterliegen.

In Teilen Südeuropas haben die Kürzungsmaßnahmen der Troika zu einer Situa-
tion geführt, die als humanitäre Katastrophe zu bezeichnen ist. So wurde zum
Beispiel Griechenland bei stetig sinkender Wirtschaftsleistung gezwungen, die
Gesundheitsausgaben auf 6 Prozent der Wirtschaftsleistung zu kürzen und sie auf
diesem Niveau zu deckeln (zum Vergleich: in Deutschland beträgt der Anteil
11 Prozent). Der Anstieg der Säuglingssterblichkeit von 2009 bis 2012 um 40
Prozent ist ein erschreckendes Beispiel für die verheerenden Folgen dieser Maß-
nahme. Auch die 360 000 Zwangsräumungen in Spanien seit 2008 und der starke
Anstieg von Fällen des Todes durch Erfrieren im Winter in Portugal sind Beispie-
le für die unsozialen Folgen der Troika-Politik.

Viele Bewohnerinnen und Bewohner dieser Länder machen von ihrem Recht auf
Freizügigkeit Gebrauch. Doch in anderen Mitgliedstaaten werden sie häufig un-
terhalb ihrer Qualifikation beschäftigt oder als kurzfristige Arbeitskräfte ausge-
beutet. Zunehmend werden ihnen mit der Unterstellung angeblichen Sozialmiss-
brauchs soziale Rechte und Unterstützung verwehrt oder sogar ihr Aufenthalt
beendet. So wird die Freizügigkeit in der EU infrage gestellt. Gleichzeitig schot-
tet sich die EU an ihren Außengrenzen immer stärker ab und nimmt damit den
Tod Tausender Flüchtlinge und in Not geratener Menschen billigend in Kauf.

Die fortgesetzte Austeritätspolitik, die vor allem den Krisenländern, aber auch
verstärkt allen anderen Ländern der EU aufgezwungen wird, ist nicht nur sozial
desaströs, sie verschlimmert auch die wirtschaftliche Lage. Einerseits ist die Ver-
schuldung nicht gesunken, sondern weiter angestiegen. Der öffentliche Schulden-
stand in der EU stieg von 2009 an in 4 Jahren bis Ende 2013 von 74 Prozent auf
86,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Griechenland von 129,2 Prozent
auf 179,5 Prozent, in Italien von 116,4 Prozent auf 130,6 Prozent, in Portugal von
83 Prozent auf 122,3 Prozent und in Irland von 64,8 Prozent auf 122 Prozent.
Ein Drittel des gesamten Schuldenberges ist darüber hinaus infolge der weltwei-
ten Finanz- und Wirtschaftskrise, zum Beispiel durch teure Bankenrettungen und
Konjunkturpakete, entstanden. Anderseits lässt die Kürzungspolitik in vielen
Ländern die Wirtschaft schrumpfen. Im gesamten Euroraum sank die durch-
schnittliche Industrieproduktion für das Jahr 2013 gegenüber 2012 um 0,8 Pro-
zent und in der Europäischen Union insgesamt um 0,5 Prozent. Das durchschnitt-

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liche Einzelhandelsvolumen für das Jahr 2013 ging gegenüber 2012 im Euroraum
um 0,9 Prozent und in der EU28 um 0,2 Prozent zurück. In Südeuropa fand eine
regelrechte Deindustrialisierung statt. So schrumpfte der industrielle Sektor in
Griechenland seit 2008 um fast 30 Prozent. In Spanien ging im selben Zeitraum
die Industrieproduktion um 27 Prozent zurück.

Die neoliberale Krisenpolitik der Europäischen Union, die von Deutschland
maßgeblich vorangetrieben wird, ist damit nicht nur sozial, sondern auch wirt-
schaftlich auf ganzer Linie gescheitert. Außerdem haben Kommission, Rat und
EZB mit ihrem Handeln im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus
und der Memoranda of Understanding soziale Rechte verletzt. Diese Krisenpoli-
tik muss deshalb umgehend durch eine Politik ersetzt werden, die geeignet ist, die
Krise in sozial gerechter Weise zu überwinden und die Europäische Union auf
Basis sozialer Ziele neu zu begründen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich in der Europäischen Union für einen politischen Kurswechsel einzusetzen,
der einem sozialen Europa den Weg bereitet. Dazu ist es notwendig, die Krise in
sozial gerechter Weise zu überwinden, die Einkommen und Vermögen von oben
nach unten umzuverteilen, verbindliche soziale Rechte durchzusetzen und soziale
Standards zu erhalten und auszubauen. Die Nutznießer des finanzmarktgetriebe-
nen Kapitalismus müssen zur Finanzierung eines sozialen Europas herangezogen
werden. Die europäischen Institutionen und Organe wie die Europäische Kom-
mission oder die Europäische Zentralbank (EZB) sind - gerade auch während der
Finanzkrise - rechtsverbindlich an die Europäische Grundrechtecharta (GRCh)
und die Einhaltung der darin verbrieften sozialen Grundrechte gebunden.

Im Einzelnen sind dafür folgende Maßnahmen zu ergreifen:
1. Die unsoziale Kürzungspolitik ist zu beenden. Es bedarf einer Reform der

EU-Strukturpolitik, die auf eine Rücknahme der marktradikalen Ausrichtung
zielt. Die EU nimmt Abstand von marktradikalen Vorhaben wie dem Wett-
bewerbspakt, da diese nicht nur demokratische Rechte beschneiden, sondern
auch darauf abzielen, Löhne und Sozialstandards zu senken sowie soziale
Rechte dem Diktat der Wettbewerbsfähigkeit und internationalen Konzernin-
teressen zu unterwerfen. Stattdessen müssen Sozial-, Wirtschafts- und Steu-
erpolitik der europäischen Staaten aufeinander abgestimmt werden, um eine
Dumping-Konkurrenz zu unterbinden.

2. Die Umverteilung von unten nach oben muss umgekehrt werden. Die Kri-
senverursacherinnen und -verursacher und die Krisengewinnlerinnen und
-gewinnler müssen finanziell in die Verantwortung genommen werden. Dazu
ist in allen EU-Staaten eine einmalige Abgabe auf Vermögen ab 1 Mio. Euro
zu erheben und eine Finanztransaktionssteuer von 0,1 Prozent einzuführen.
Ein EU-weiter Mindeststeuersatz für Unternehmen mit breiten und einheitli-
chen Bemessungsgrundlagen ist zu schaffen, Steuerflucht wirksam zu be-
kämpfen und Steueroasen innerhalb und außerhalb der EU sind auszutrock-
nen.

3. Deutschland tritt für eine Revision der Grundsatzverträge der EU ein, um
einen Neustart für eine demokratische, ökologische, soziale und friedliche
Europäische Union zu ermöglichen. Eine soziale Fortschrittsklausel ist in die
EU-Verträge zu integrieren. Soziale Grundrechte, erreichte Standards sowie
die Tarifautonomie müssen Vorrang vor der Freiheit der Märkte haben. In
den EU-Verträgen müssen neben Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch
soziale Rechte und hohe soziale Standards verankert und Sozialsysteme ge-
schützt werden. Die Bundesregierung verpflichtet sich, zügig die revidierte

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/1116

Europäische Sozialcharta sowie das Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt
zu ratifizieren.

4. Die EU-Mitgliedstaaten legen ein EU-weit koordiniertes Zukunftsprogramm
auf, mit dem öffentliche Investitionen gefördert werden. So wird der sozial-
ökologische Umbau der Wirtschaft befördert, die soziale Infrastruktur ausge-
baut und insbesondere mit dem Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge Be-
schäftigung geschaffen. Eine effektive Koordinierung der Lohn- und Steuer-
politik durch solidarische Regeln in der Eurozone soll Ungleichgewichte
vermeiden und Lohn- und Steuerdumping verhindern.

5. Die EU verabredet eine verbindliche und wirksame Jugendgarantie. Die bis-
herigen Verabredungen werden erweitert um ein Recht auf Ausbildung. Mit
der Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen im Rahmen des Investi-
tions- und Zukunftsprogramms wird die Massenerwerbslosigkeit der Jugend
in der EU wirksam vor Ort bekämpft. Kurzfristig ist ein Sofortprogramm für
Menschen ohne abgeschlossene Berufsbildung aufzulegen, die es jedem jun-
gen Menschen ermöglicht, eine Berufsausbildung in seiner Region zu erhal-
ten. Die dazu erforderlichen Mittel sind in den EU-Haushalt einzustellen.

6. Die EU vereinbart eine verbindliche EU-weite Mindestlohnregelung zum
Beginn in Höhe von 60 Prozent des jeweiligen nationalen Durchschnitts-
lohns. Jeder Mitgliedstaat muss allen Beschäftigten einen existenzsichernden
Lohn garantieren. Zudem legt die EU verbindliche Richtlinien bei Leiharbeit,
bei Dienstleistung und Entsendung fest. Das Prinzip „Gleicher Lohn für glei-
che und gleichwertige Arbeit am gleichen Ort“ muss uneingeschränkt gelten,
um zu verhindern, dass Beschäftigte gegeneinander ausgespielt und als
Lohndrückerinnen und -drücker oder Streikbrecherinnen und -brecher miss-
braucht werden. Gute Arbeit und gute Löhne müssen überall in Europa Reali-
tät werden.

7. Die EU verabredet verbindliche Zielvorgaben zur Reduktion von Armut und
sozialer Ungleichheit. Programme zur Verbesserung der sozialen Sicherheit
werden verbindlich verabredet und überwacht. Die Leistungen bei Arbeitslo-
sigkeit, Renten sowie die soziale Mindestsicherung sollen armutsfest sein,
was nach EU-Konvention zum Beginn mindestens 60 Prozent des nationalen
mittleren Einkommens entspricht. Die Bürgerinnen und Bürger der Europäi-
schen Union haben unabhängig von ihrer Erwerbsbiografie, Herkunft oder
Nationalität Anspruch auf ein Leben jenseits der Armutsrisikogrenze. Vor-
stöße der Kommission zur Privatisierung der Alterssicherung sind abzuleh-
nen, ebenso wie die Erhöhung des Renteneintrittsalters durch eine EU-weite
Kopplung an die Lebenserwartung. Stattdessen sind die im Umlageverfahren
organisierten öffentlichen Sicherungssysteme zu stärken und Lebensstandard
sichernd und armutsfest zu gestalten.

8. Mit einer Europäischen Teilhabe-Agenda werden die Länder der EU zur
rechtlichen, politischen und sozialen Gleichstellung der Unionsbürgerinnen
und -bürger und wirksamen Unterstützungsmaßnahmen in den Bereichen Be-
schäftigung und soziale Sicherheit verpflichtet. Eine Einschränkung der Frei-
zügigkeit von Unionsbürgerinnen und -bürgern und eine Diskriminierung bei
ihren sozialen Rechten darf es nicht geben. Migrantinnen und Migranten aus
Nicht-EU-Ländern mit dauerhaftem Aufenthalt werden weitestgehend mit
Unionsbürgerinnen und -bürgern gleichgestellt, Arbeitsverbote und Ein-
schränkungen der Bewegungsfreiheit für Asylsuchende und Geduldete wer-
den abgeschafft. Auch Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus haben ei-
nen Anspruch auf faire Arbeitsbedingungen und einen effektiven Zugang
zum Bildungs- und Gesundheitssystem. Die Inanspruchnahme sozialer Men-
schenrechte darf nicht von der Herkunft und dem Aufenthaltsstatus abhängig
sein, dies ergibt sich aus der universellen Geltung der Menschenrechte.

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9. Das grundlegende Ziel einer solidarischen Gesundheits- und Pflegepolitik,
den Menschen unabhängig von ihrem sozialen Status und ihren finanziellen
Möglichkeiten einen freien Zugang zu einer Gesundheitsversorgung auf ho-
hem medizinischem Niveau zu garantieren, muss in der gesamten Europäi-
schen Union gelten. Dazu definiert die EU europäische Mindeststandards für
das Leistungsniveau der Gesundheitssysteme und für die Arbeitsbedingungen
im Gesundheitswesen. Es wird darauf verzichtet, Fachkräfte aus dem
Gesundheits- und Pflegebereich gezielt abzuwerben. Die Anwendung des
Wettbewerbsrechts auf Gesundheitsleistungen muss ausgeschlossen werden.
Stattdessen führt die EU eine soziale Fortschrittsklausel in die europäischen
Verträge ein, die gewährleistet, dass im Konfliktfall soziale Grundrechte
Vorrang vor den Grundfreiheiten und den Wettbewerbsregeln im Binnen-
markt genießen. Auf diese Weise sind die Gesundheitssysteme als tragende
Pfeiler der sozialen Sicherungssysteme und die Arbeitsbedingungen der De-
regulierung und dem Unterbietungswettbewerb zu entziehen.

Berlin, den 9. April 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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