BT-Drucksache 18/10862

Renteneinheit verwirklichen - Lebensleistung anerkennen

Vom 17. Januar 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10862
18. Wahlperiode 17.01.2017
Antrag
der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij, Sabine
Zimmermann (Zwickau), Katja Kipping, Dr. Petra Sitte, Azize Tank, Kathrin
Vogler, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Pia Zimmermann und der Fraktion
DIE LINKE.

Renteneinheit verwirklichen – Lebensleistung anerkennen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

„2020 soll die Renteneinheit erreicht sein.“ Dieses Versprechen gab Bundeskanzlerin
Angela Merkel den rund vier Millionen ostdeutschen Rentnerinnen und Rentnern vor
mehr als zwei Jahren (Sächsische Zeitung, 13.08.2014: „Für den Osten darf es keinen
finanziellen Bruch geben“). Sie hat das Versprechen nicht zum ersten Mal gegeben,
aber bis heute nicht eingelöst. Somit warten im 27. Jahr der deutschen Einheit die
Menschen im Osten noch immer auf die gleichwertige Anerkennung ihrer Lebensleis-
tung wie im Westen.
Stattdessen haben sich die Regierungsparteien aus CDU/CSU und SPD im Koalitions-
ausschuss am 24.11.2016 darauf verständigt, die Rentenwerte in Ost und West erst bis
zum 01.07.2024 schrittweise anzugleichen. Im Gegenzug entfällt bis zum 31.12.2024
die Umrechnung der ostdeutschen Arbeitsentgelte vollständig (abrufbar unter
www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/11/2016-11-25-rente.html). Die
Bundeskanzlerin hat nicht nur ihr Versprechen gebrochen. Die Große Koalition hält
sich nicht einmal an ihren eigenen Koalitionsvertrag.
Völlig ungeklärt bleibt die Finanzierungsfrage: Der sich abzeichnende Kompromiss
könnte eine Mischfinanzierung aus Beitrags- und Steuermitteln vorsehen, den die
„Frankfurter Rundschau“ wie folgt kommentierte: „Tatsächlich lässt dieser Kuhhandel
die Renteneinheit zur Schmierenkomödie verkommen“ (Frankfurter Rundschau,
05.12.2016: „Kuhhandel für Ost-Rente“). Damit zahlen letztendlich alle gesetzlich
Rentenversicherten die Angleichung aus der eigenen Tasche: die Beitragszahlerinnen
und -zahler durch höhere Beiträge, die Rentnerinnen und Rentner durch ein sinkendes
Rentenniveau.
Auf dem Weg zu einem einheitlichen Rentenrecht allein auf die fortschreitende Lohn-
entwicklung zu bauen, wird kaum zum Ziel führen. Zu groß sind die wirtschaftlichen
und strukturellen Unterschiede in beiden Landesteilen. So beträgt der Abstand zwi-
schen den Rentenwerten in Ost und West seit dem 01.07.2016 zwar lediglich 5,9 Pro-
zentpunkte. Das rentenrechtliche Durchschnittsentgelt Ost liegt aber noch immer bei
nur 87,1 Prozent des westdeutschen Durchschnittsentgelts.
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/11/2016-11-25-rente.html
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Auf die Umrechnung (fälschlicherweise als „Höherwertung“ oder „Hochwertung“ be-
zeichnet) der ostdeutschen Löhne und Gehälter schrittweise zu verzichten, wie dies
ebenfalls der Koalitionsbeschluss vom 24.11.2016 vorsieht, wäre deshalb ein fatales
Signal an die jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ostdeutschland.
Selbst wenn die Umrechnung erst Ende 2024 entfallen sollte, würde sich deren Ein-
kommensposition im Alter erheblich verschlechtern. Der soziale Absturz Vieler im
Alter wäre kaum noch zu verhindern – bei gleichzeitig sinkendem Rentenniveau.
Um dem gesetzlichen Auftrag zur Herstellung der sozialen Einheit gerecht zu werden,
muss der Gesetzgeber den Angleichungsprozess bei Löhnen und Renten auf politi-
schem Wege forcieren. Es ist daher höchste Zeit für die vollständige Angleichung des
Rentenwerts in Ostdeutschland auf das Westniveau. Und sie muss deutlich früher und
schneller erfolgen, als von CDU/CSU und SPD im Koalitionsausschuss beschlossen
wurde.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem
1. ein steuerfinanzierter, stufenweise steigender Zuschlag eingeführt wird, mit dem

der Wertunterschied zwischen den Rentenwerten in Ost und West für im Osten
Deutschlands erworbene Rentenanwartschaften bis zum 01.07.2018 sukzessive
ausgeglichen wird. Die Anpassung erfolgt in zwei Stufen. Der Zuschlag wird so-
lange gezahlt werden, bis der Unterschied zwischen dem jeweiligen aktuellen
Rentenwert (Ost) und dem jeweiligen aktuellen Rentenwert im Zuge der Anglei-
chung der Löhne und Gehälter überwunden sein wird. Analog werden die weite-
ren Berechnungsgrößen (Bezugsgröße und Beitragsbemessungsgrenze) ebenfalls
stufenweise angepasst. Die Umrechnung der Beitragsbemessungsgrundlagen im
Beitrittsgebiet nach Anlage 10 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI)
bleibt nur noch solange bestehen, bis die Löhne und Entgelte im Osten annähernd
das Westniveau erreicht haben werden;

2. die Voraussetzungen geschaffen werden, dass die Löhne und Gehälter erheblich
stärker steigen werden. Hierzu muss der gesetzliche Mindestlohn auf mindestens
12 Euro angehoben werden. Bis zu einem Verbot ist Leiharbeit stärker zu regu-
lieren und der Missbrauch von Werkverträgen effektiv zu bekämpfen. Die Be-
schränkung von Befristungen ist auf wenige sachgrundbezogene Ausnahmen zu
verankern. Zusätzlich ist eine erleichterte Allgemeinverbindlichkeitserklärung
(AVE) von Tarifverträgen gesetzlich zu regeln;

3. die Rente nach Mindestentgeltpunkten bei geringem Arbeitsentgelt (§ 262 SGB
VI) entfristet wird und damit auch für Zeiten ab dem 01.01.1992 gilt, sowie die
Begrenzung von 0,75 Entgeltpunkten auf 0,8 Entgeltpunkte pro Jahr angehoben
wird, sofern nicht wie bisher 35 Jahre, sondern 25 Jahre mit rentenrechtlichen
Zeiten vorliegen. Damit soll in West und Ost ein Baustein geschaffen werden, der
mit dazu beitragen möge, dass Phasen der Niedriglohnbeschäftigung und der er-
zwungenen Teilzeit nicht automatisch zu Altersarmut führen.

Berlin, den 17. Januar 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10862
Begründung

Das Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) ging davon aus, dass der Aufholprozess bei den Löhnen und Renten bis
1997 abgeschlossen sein würde. Die Fortschritte beim Angleichungsprozess waren zunächst beachtlich: So be-
trug das Lohnniveau im Osten 1990 nur rund 42 Prozent des Westniveaus. Bis 1996 waren fast 82 Prozent des
Niveaus im Westen erreicht. Im gleichen Zeitraum stieg auch das Niveau der Rente bei einem Durchschnittsver-
dienst (Ost) mit 45 Beitragsjahren von rund 40 Prozent auf mehr als 82 Prozent des Westniveaus. In der Folgezeit
hat sich der Aufholprozess vor allem bei den Löhnen deutlich verlangsamt. Heute (2016) beträgt das Lohnniveau
87,1 Prozent und das Niveau des aktuellen Rentenwerts (Ost) 94,1 Prozent des Westniveaus.
Ob und wann der Aufholprozess bei den Löhnen und Renten abgeschlossen sein wird, bleibt weiterhin unklar.
Der Sozialbeirat bekräftigt in seinem Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 2015 erneut, dass für eine
Lohnangleichung zwischen den alten und den neuen Ländern vor dem Jahr 2030 eine „nachvollziehbare ökono-
mische Grundlage fehlt“ (vgl. Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2015, BT-Drs.
18/10570, Nr. 40, S. 15).
Die fortbestehende Differenz zwischen den Rentenwerten muss durch einen steuerfinanzierten, stufenweise an-
steigenden Zuschlag kompensiert werden. Mit dem Zuschlagsmodell wird die bestehende rentenrechtliche Sys-
tematik beibehalten, der Angleichungsprozess durch zwei Teilschritte beschleunigt: Zum 01.07.2017 wird die
bestehende Differenz zunächst halbiert. Zudem werden die weiteren Rechengrößen für die neuen Länder eben-
falls um die Hälfte des zu diesem Zeitpunkt bestehenden Unterschieds zu den jeweiligen Werten im Westen
angehoben. In einem zweiten und letzten Schritt werden zum 01.07.2018 die Angleichung des aktuellen Renten-
werts (Ost) sowie die Beitragsbemessungsgrenze (Ost) als auch die Bezugsgröße (Ost) auf die im Westen gel-
tenden allgemeinen Werte abgeschlossen sein. Die Angleichungskosten würden sich im Jahr 2017 auf schät-
zungsweise rd. 1,7 Mrd. Euro und im darauf folgenden Jahr auf insgesamt rd. 3,4 Mrd. Euro jährlich belaufen.
Außerdem sieht der Kompromiss die Abschaffung der Umrechnung ostdeutscher Arbeitsentgelte nach Anlage 10
des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) bis Ende 2024 vor. Dabei gibt es den von politisch interessierter
Seite gerne unterstellten Zusammenhang zwischen der Angleichung des Rentenwerts (Ost) und der Streichung
des Umrechnungsfaktors rentenrechtlich nicht.
Tatsächlich lag nach der Entgeltstatistik der Bundesagentur für Arbeit für das Jahr 2015 das mittlere monatliche
Bruttoarbeitsentgelt von sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten im Osten (2.449 Euro) sogar 24 Pro-
zent unter dem Durchschnittsentgelt in Westdeutschland (3.218 Euro) (vgl. WAZ, 01.10.2016: „Ostdeutsche ver-
dienen deutlich weniger als Westdeutsche“). Das Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duis-
burg Essen weist in einer kürzlich veröffentlichten Studie zudem auf erhebliche Lohnrückstände bei Beschäftig-
ten im produzierenden Gewerbe, aber auch im sozialen Bereich hin. Vor allem Beschäftigte mit guten bzw. mitt-
leren Qualifikationen und mittlere Angestellte sind betroffen (vgl. Andreas Jansen, 2016: „Der Stand der Lohn-
konvergenz zwischen Ost- und Westdeutschland und damit einhergehende Konsequenzen für die Angleichung
des Rentenrechts“, Duisburg. Abrufbar unter www.iaq.uni-due.de/iaq-forschung/2016/fo2016-02.php).
Die Umrechnung muss solange bestehen bleiben, bis die Löhne und Gehälter annähernd das Westniveau erreicht
haben werden, damit endlich gelten kann: gleiche Rente für die gleiche Lebensleistung. Weder dürfen Rentne-
rinnen und Rentner gegen Erwerbstätige noch darf eine vernünftige Wirtschafts- und Lohnpolitik gegen eine
politisch forcierte Angleichung der Rentenwerte ausgespielt werden. Zu Recht kritisierte der thüringische Minis-
terpräsident Bodo Ramelow, dass die Angleichung nicht zu Lasten der Erwerbstätigen im Osten gehen dürfe.
Niedriglöhne und sinkendes Rentenniveau seien eine gefährliche Mischung (vgl. Thüringen24 vom 21.07.2016).
Um den Angleichungsprozess der Löhne und Gehälter zwischen Ost und West weiter voranzutreiben, sind flan-
kierende Maßnahmen notwendig. Dies betrifft vor allem die Eindämmung von prekärer Beschäftigung, Niedrig-
löhnen sowie der Tarifflucht von Unternehmen. Von diesen Maßnahmen würden alle Beschäftigten in Deutsch-
land profitieren. Egal, ob sie im Westen oder im Osten ihrer Berufstätigkeit nachgehen.
Die Rente nach Mindestentgeltpunkten ist ein unverzichtbarer Beitrag zum Nachteilsausgleich von Niedriglöh-
nen und unfreiwilliger Teilzeitarbeit und kann so maßgeblich zur Sicherung auskömmlicher Renten beitragen.
Die Bundesregierung wird aufgefordert, durch die Entfristung (für Zeiten ab dem 01.01.1992) die bereits exis-
tierende Regelung nahtlos fortzuführen. Zugleich will DIE LINKE. die Zugangsvoraussetzungen erleichtern: So
sollen künftig lediglich 25 Versicherungsjahre (statt 35) ausreichend sein. Außerdem soll die Kappungsgrenze
von 75 auf 80 Prozent des Durchschnittsentgelts angehoben werden.

http://www.iaq.uni-due.de/iaq-forschung/2016/fo2016-02.php
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Drucksache 18/10862 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Von der heute noch geltenden Regelung profitierten 2014 insgesamt immer noch 3,3 Mio. Rentnerinnen und
Rentner im Rentenbestand mit Niedriglohnzeiten bis 1992. 83 Prozent davon waren Frauen. Mit der reformierten
Rente nach Mindestentgeltpunkten werden unterdurchschnittliche versicherungspflichtige Einkommen im Nach-
hinein, also nach Vollendung der Erwerbsbiografie, mit dem Faktor 1,5 (d. h. um die Hälfte) auf maximal 80
Prozent des Durchschnittsentgelts aufgewertet. Als Vorbedingung gilt, dass 25 Jahre an rentenrechtlichen Zeiten
(Pflicht- oder freiwillige Beiträge), beitragsfreie Zeiten (z. B. Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit, Ausbildungs-
suche etc.) und Berücksichtigungszeiten (Kindererziehungszeiten bis zum 10. Lebensjahr, Pflege) vorliegen müs-
sen.
Nach einer Auswertung der Verdienststrukturerhebung von 2014 verdienen im Osten mehr als die Hälfte der
Beschäftigten weniger als 80 Prozent des Durchschnittsentgelts. Im Westen liegen 40 Prozent der Beschäftigten
unterhalb dieser Schwelle (Frauen bundesweit: 58 Prozent/Männer 28,2 Prozent). Diese Beschäftigten würden –
wenn sie die rentenrechtlichen Voraussetzungen erreichten und dauerhaft auf dieser Entgeltpositionen verblie-
ben – von der Rente nach Mindestentgeltpunkten profitieren.

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