BT-Drucksache 18/10531

zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksachen 18/9985, 18/10351, 18/10444 Nr.1.9 - Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes

Vom 30. November 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10531
18. Wahlperiode 30.11.2016
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Frank Tempel, Sabine
Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, Dr. André Hahn, Katja Kipping,
Petra Pau, Martina Renner, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Azize Tank,
Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Pia Zimmermann und
der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 18/9985, 18/10351, 18/10444 Nr. 1.9, 18/10521 –

Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Mit seinem Grundsatzurteil vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11)
zum Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) beendete das Bundesverfassungs-
gericht (BVerfG) eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung von Asylsuchen-
den, Geduldeten und Menschen mit humanitärem Aufenthaltsstatus im Sozial-
recht. Das Gericht betonte, dass auch Geflüchtete einen Anspruch auf Gewähr-
leistung des menschenwürdigen Existenzminimums für die Zeit ihres Aufenthalts
in Deutschland haben. Dieses Menschenrecht umfasst ein Mindestmaß an Teil-
habe am kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Leben. Die herabgesetz-
ten Leistungen nach dem AsylbLG waren demgegenüber evident unzureichend
und niemals transparent und nachvollziehbar ermittelt worden, sie folgten viel-
mehr politischen Vorgaben. Die nach Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes ga-
rantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren, lautet der
Kernsatz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Der über fast zwei Jahr-
zehnte hinweg praktizierten Politik der Abschreckung gegenüber Schutzsuchen-
den wurde damit in begrüßenswerter Klarheit der grundgesetzliche Boden entzo-
gen.

2. Der Bundestag kritisiert scharf, dass die Bundesregierung sich offenbar nicht
(mehr) an diese Vorgaben des BVerfG gebunden fühlt und zu einer menschen-
rechtswidrigen Politik der gezielten Diskriminierung von Geflüchteten im Sozi-
alrecht zurückkehrt. Ihr Ziel ist, Menschen von einer Zuflucht nach Deutschland
abzuhalten bzw. abgelehnte Flüchtlinge durch Leistungskürzungen und die Ver-

Drucksache 18/10531 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

sagung jeglichen Bargelds zu einer Ausreise zu drängen. Das vom Vizepräsiden-
ten des BVerfG, Ferdinand Kirchhof, in der mündlichen Verhandlung am 20. Juni
2012 im Verfahren zum AsylbLG klar verworfene Motto: „Ein bisschen hungern,
dann gehen die schon“ (welt.de, 20. Juni 2012) hält wieder Einzug. So erklärte
Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière im Bundestag offen, er rechne an-
gesichts gestiegener Asylzahlen mit einer Änderung der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (Plenarprotokoll 18/126, S. 12210 f.). Die Menschen-
würde ist jedoch absolut geschützt, und die Menschenrechte werden auch nicht
durch die Ankunft einer größeren Zahl von Asylsuchenden außer Kraft gesetzt.
Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum menschenwürdigen Existenz-
minimum fußt auf Artikel 1 Absatz 1 GG und Artikel 20 Absatz 1 GG, deren
Grundsätze nach Artikel 79 Absatz 3 GG einer Änderung entzogen sind.

3. Die Aushöhlung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erfolgte schritt-
weise: Bereits die weitgehend verspätete Umsetzung des Grundsatzurteils durch
die Bundesregierung zum März 2015 wurde inhaltlich den höchstrichterlichen
Vorgaben nicht gerecht. Mit dem so genannten Asylpaket I wurden weitere radi-
kale Kürzungsmöglichkeiten bis auf das rein physische Existenzminimum ge-
schaffen und Sachleistungen auch auf den Bereich der persönlichen Bedarfe aus-
geweitet. Das so genannte Asylpaket II sah dann eine Kürzung der persönlichen
Bedarfe um 10 Euro im Monat vor. Dabei wurde die Vorgabe des BVerfG an eine
transparente und empirisch abgesicherte Begründung missachtet, indem Asylsu-
chenden pauschal eine ungesicherte „Bleibeperspektive“ und ein nur kurzfristiger
Aufenthalt unterstellt wurden – trotz Rekordanerkennungsquoten im Asylverfah-
ren von derzeit über 60 Prozent. Mit dem so genannten Integrationsgesetz wurden
weitere drastische Leistungskürzungen geregelt, insbesondere zur Sanktionierung
behaupteter Mitwirkungspflichtverletzungen. Inzwischen gibt es im AsylbLG ein
nahezu unüberschaubares Sammelsurium von etwa 15 Kürzungstatbeständen
(http://ggua.de/fileadmin/downloads/tabellen_und_uebersichten/asylblg-Kuer-
zung.pdf), die auch aufgrund ihrer Unbestimmtheit eine willkürliche und verfas-
sungswidrige Anwendungspraxis begünstigen und die ein staatlich geschürtes
Misstrauen gegenüber Schutzsuchenden zum Ausdruck bringen. Der Bundestag
kritisiert auch, dass viele dieser verfassungs- und unionsrechtlich umstrittenen
Einschränkungen des menschenwürdigen Existenzminimums im gesetzgeberi-
schen Schnellverfahren und im Kontext weiterer gewichtiger Asylrechtsverschär-
fungen vorgenommen wurden, so dass bereits vom Verfahren her keine gewis-
senhafte und sorgfältige Prüfung und Debatte hierzu möglich waren.

4. Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes wird die Politik der Abschreckung fortgesetzt. Vorgaben des
BVerfG werden erneut nur zum Schein eingehalten. So wird die weitere 10-pro-
zentige Kürzung der Leistungen für Erwachsene in Erstaufnahmeeinrichtungen
und Gemeinschaftsunterkünften mit der Unterstellung begründet, die Bewohne-
rinnen und Bewohner solcher Massenunterkünfte bildeten ungeachtet ihrer unter-
schiedlichen Herkunft „der Sache nach eine Schicksalsgemeinschaft“. Sie seien
dazu verpflichtet, durch gemeinsames Wirtschaften (z. B.: Einkauf größerer Men-
gen) Einspareffekte zu erzielen, wie sie auch bei Paarhaushalten möglich seien.
Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst nennt dies in seiner Stellungnahme vom 13. Sep-
tember 2016 eine faktische „Zwangsverpartnerung“, die „mit einer realistischen
Bedarfsermittlung überhaupt nichts zu tun“ habe. Die Kürzungen folgten viel-
mehr „erkennbar migrationspolitischen Erwägungen“. Im Ergebnis erhält dieser
Personenkreis nur noch 74 Prozent der Regelleistungen nach den Sozialgesetzbü-
chern II bzw. XII, die ihrerseits bereits künstlich kleingerechnet wurden. Das
menschenwürdige Existenzminimum wird so in der Praxis vielfach verletzt. Auch
die Kirchen kritisieren in einer gemeinsamen Stellungnahme vom 13. Septem-
ber 2016, dass der nach der Rechtsprechung des BVerfG zwingend zu führende

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10531

transparente Nachweis über signifikant abweichende Bedarfe von der Bundesre-
gierung „nicht erbracht“ worden sei. Der Paritätische Gesamtverband konstatiert
in einer Stellungnahme vom 12. September 2016 ebenfalls: „Vielmehr entsteht
der Eindruck, dass die pauschalen Kürzungen migrationspolitisch motiviert
sind – gerade dies hat das Bundesverfassungsgericht aber explizit untersagt.“ Die
10-prozentige Leistungskürzung bei einer Gemeinschaftsunterbringungen stellt
zudem einen fatalen finanziellen Anreiz für die Kommunen dar, auf solche For-
men der Massenunterbringung zu setzen, statt für eine Wohnungsanmietung und
damit für eine schnellere Integration zu sorgen. Eine solche integrationspolitische
Fehlsteuerung muss unbedingt verhindert werden.

5. Schließlich treibt der Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleistungsge-
setzes die Rückkehr zum fast schon überwunden geglaubten Sachleistungsprinzip
weiter voran. Sachleistungen bedeuten für die Betroffenen eine erhebliche Ein-
schränkung ihrer alltäglichen Lebensführung und Würde, sie sind zudem mit bü-
rokratischem Aufwand und entsprechenden Mehrkosten verbunden. In der Praxis
kommt es infolge unzureichender oder unpassender Sachleistungen zu massiven
Unterschreitungen des menschenwürdigen Existenzminimums. In Erstaufnahme-
einrichtungen soll sogar der individuelle persönliche Bedarf in der Regel durch
Sachleistungen gedeckt werden, „soweit dies mit vertretbarem Verwaltungsauf-
wand möglich ist“ – hier geht es zum Beispiel um Fahrt- und Telefonkosten, kul-
turelle Bedürfnisse oder ein Eis für die Kinder. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst
(a. a. O.) stellt hierzu fest, dass bei den persönlichen Bedarfen eigentlich keine
Konstellation vorstellbar sei, in der ein solcher Verwaltungsaufwand vertretbar
wäre – es sei denn, der „faktischen Schikane gegen die Betroffenen“ würde ein
absoluter Vorrang eingeräumt. Auch in Gemeinschaftsunterkünften kann der per-
sönliche Bedarf „soweit wie möglich“ durch Sachleistungen gedeckt werden. Vor
allem ideologisch begründet ist die geplante Neuregelung, wonach künftig unter
anderem Stromkosten grundsätzlich nur gesondert erbracht werden sollen. Wenn
die Betroffenen in eigenen Wohnungen leben, zieht das einen großen bürokrati-
schen Aufwand nach sich, denn der angemessene Stromverbrauch muss dann in
jedem Einzelfall überprüft werden, die Betroffenen müssen dies zusätzlich bean-
tragen. Pro Asyl warnt in einer Stellungnahme vom 22. September 2016, dass die
geplanten Leistungskürzungen und die Stärkung des Sachleistungsprinzips Ge-
flüchtete in ihren Handlungsmöglichkeiten weiter beschränken würden und das
AsylbLG damit „immer mehr zum Integrationshindernis“ werde. Insgesamt steht
der Gesetzentwurf „im Konflikt mit Völker-, Verfassungs- und Unionsrecht“, so
der Jesuiten-Flüchtlingsdienst (a. a. O.). Der Bundestag schließt sich den Forde-
rungen vieler Verbände und der Kirchen an, das AsylbLG als Sondergesetz ganz
aufzuheben und die Betroffenen in die allgemeinen Fürsorgesysteme zu überfüh-
ren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

anstelle des Gesetzentwurfs zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes einen
Gesetzentwurf vorzulegen, der die Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes und
die Überführung der bislang von diesem Gesetz umfassten Personen in das allgemeine
System der sozialen Sicherung nach den Sozialgesetzbüchern einschließlich der Ge-
sundheitsversorgung vorsieht. Soweit dies zu einer finanziellen Mehrbelastung der
Kommunen führt, hat der Bund diese durch eine entsprechende Beteiligung gegenüber
den Ländern auszugleichen.

Berlin, den 29. November 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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