BT-Drucksache 18/10472

Türkei-Politik neu ausrichten

Vom 29. November 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10472
18. Wahlperiode 29.11.2016
Antrag
der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Wolfgang Gehrcke, Andrej Hunko, Jan
van Aken, Karin Binder, Christine Buchholz, Dr. Diether Dehm, Annette Groth,
Heike Hänsel, Inge Höger, Katrin Kunert, Stefan Liebich, Niema Movassat,
Dr. Alexander S. Neu, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler und der
Fraktion DIE LINKE.

Türkei-Politik neu ausrichten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 wurden in der Türkei 115.000 Angestellte
aus dem öffentlichen Dienst entlassen, weil sie angeblich mit den Putschisten in Ver-
bindung stehen sollen. 4.500 Firmen und Institutionen wurden aus demselben Grund
enteignet. 37.000 angebliche Verschwörer wurden inhaftiert, 312 zivilgesellschaftli-
che Organisationen verboten. 145 Journalisten sind im Gefängnis. Dabei trifft die Re-
pression nicht nur Anhänger des Predigers Gülen, den der türkische Präsident, Recep
Tayyip Erdoğan, als Drahtzieher des Putsches vermutet. Vielmehr nutzt Erdoğan die
Niederschlagung des Putsches zu einem Schlag gegen die gesamte Opposition und
zum Umbau des türkischen Staates in eine autoritäre Willkür-Herrschaft.
Erdoğan lässt die Opposition strafrechtlich verfolgen. 2.800 Mitglieder der prokurdi-
schen Linkspartei HDP sind bereits in Haft, darunter die Parteivorsitzenden, Selahattin
Demirtas und Figen Yüksekdag. Mittlerweile hat Erdoğan auch Strafanzeige gegen
alle Abgeordneten der größten Oppositionspartei CHP gestellt, um Kritik an seinem
Vorgehen zum Schweigen zu bringen. Die für Rechtsstaatlichkeit zuständige Venedig-
Kommission des Europarats forderte die Türkei auf, die aufgehobene Immunität der
Abgeordneten wiederherzustellen. Der Generalsekretär des Europarates warnte, dass
die angekündigte Wiedereinführung der Todesstrafe gegen die türkischen Verpflich-
tungen aus der Menschenrechtskonvention verstoßen und zum Ausschluss aus dem
Europarat führen würde.
Insbesondere der MIT als Auslands- wie Inlandsgeheimdienst mit weitreichenden exe-
kutiven Befugnissen ist Teil der Überwachungs-, Einschüchterungs- und Verfolgungs-
praxis des Erdoğan-Regimes. Er agiert dabei nicht nur auf dem Staatsgebiet der Türkei,
sondern auch gegenüber der regimekritischen und kurdischen Opposition im Ausland.
Dies wurde zuletzt durch Berichte belegt, nach denen der MIT Oppositionelle mit Her-
kunft aus der Türkei in Deutschland ausspioniert und bedroht. Der Generalbundesan-
walt ermittelt in diesem Zusammenhang nach Presseberichten wegen des Vorwurfs der
geheimdienstlichen Agententätigkeit. Darüber hinaus ist zu befürchten, dass durch den

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Austausch personenbezogener Daten zwischen deutschen und türkischen Geheim-
diensten willkürlich unter Terrorverdacht gestellte Oppositionelle weiteren Maßnah-
men durch den MIT ausgeliefert sind.
Die bisherige Strategie der Bundesregierung und der Europäischen Union (EU) im
Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist gescheitert. Sie hat lediglich
zur Verschlechterung der Menschenrechtslage in der Türkei geführt. Auf die blutige
Niederschlagung der Proteste im Gezi-Park in Istanbul im Jahr 2013, auf die zuneh-
mende Einschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit und auf die Wiederaufnahme
des Krieges gegen die kurdische Bevölkerung hatten Bundesregierung und EU nicht
mit dem nötigen politischen Druck auf Erdoğan reagiert. Stattdessen wurden die EU-
Beitrittsverhandlungen mit der Öffnung neuer Beitrittskapitel vorangetrieben und mit
der Türkei die Erklärung EU-Türkei („Flüchtlingsdeal“) zum Umgang mit den Flücht-
lingen, die aus der bzw. über die Türkei in die EU einreisen wollen, abgeschlossen.
Die Erklärung EU-Türkei rief u. a. im Europarat Kritik an der Vereinbarkeit mit den
Menschenrechten und dem internationalen Recht hervor. Der Bundestag bedauert,
dass die Bundesregierung auch nach der neuerlichen Verschärfung der Menschen-
rechtslage in der Türkei weiter an dem Flüchtlingsdeal festhält, obwohl dieser in un-
verantwortlicher Weise die Frage der Visafreiheit mit der Flüchtlingsabschottung, an-
statt mit der Menschenrechtslage in der Türkei, verbindet. Dazu kommt, dass die Um-
setzung der Erklärung EU-Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention verletzt, da die
Türkei faktisch wie ein sicheres Drittland behandelt wird, in das Geflüchtete rücküber-
führt werden können, während gleichzeitig das Auswärtige Amt Verfolgten aus der
Türkei Asyl in Deutschland anbietet.
Die Bundesregierung und die EU-Kommission wollen trotz der aktuellen Entwicklun-
gen in der Türkei an einem Fortgang der EU-Beitrittsverhandlungen festhalten. Der
Bundestag schließt sich dem Votum des Europäischen Parlaments an, das fordert, die
Verhandlungen einzufrieren.
Kritik der Bundesregierung muss Erdoğan bislang nur zur Kenntnis nehmen. Mit prak-
tischen Konsequenzen hat er nicht zu rechnen. Im Gegenteil: Die Türkei ist im ersten
Halbjahr 2016 von Platz 25 auf Platz 8 der Bestimmungsländer deutscher Rüstungs-
exporte vorgerückt. Die Türkei bleibt Partner der Bundesregierung beim Militäreinsatz
in Syrien und Irak und Stationierungsort der Bundeswehr, obwohl nicht alle fachlich
zuständigen Abgeordneten die Soldaten dort besuchen können. Die Türkei profitiert
darüber hinaus von der militärischen Zusammenarbeit im Sinne ihrer eigenen Agenda.
Der Bundestag ist zutiefst besorgt über die Aussage des türkischen Außenministers
Cavusoğlu, dass die Aufklärungsdaten der in der Türkei stationierten Bundeswehr-
tornados auch für den Krieg gegen die Kurden in der Region genutzt werden.
Derzeit wird in der EU die Erweiterung der Zollunion mit der Türkei vorbereitet. Die-
ser Schritt würde eine deutliche Besserstellung türkischer Unternehmen auf dem EU-
Markt mit sich bringen und damit zur politischen Stabilisierung des Regimes von
Erdoğan beitragen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklung in der Tür-
kei wäre das ein falsches Signal der EU.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10472
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– sich in der Europäischen Union für ein Einfrieren der EU-Beitrittsverhandlungen
sowie der finanziellen Vorbeitrittshilfen von jährlich rund 630 Millionen Euro
und gegen eine Erweiterung der Zollunion einzusetzen;

– sich dafür einzusetzen, dass die EU ihren Flüchtlingsdeal mit der Türkei („Erklä-
rung EU-Türkei“), der die Frage der Visafreiheit mit der Flüchtlingsabschottung
koppelt, aufkündigt;

– ihre Türkeipolitik neu auszurichten und dabei die Stützung demokratischer und
sozialer Rechte zur Grundlage zu machen;

– die Vorgänge in der Türkei klar und unmissverständlich als Weg in die Diktatur
zu benennen und zu verurteilen;

– sich für eine unabhängige Justiz und die Änderung der Anti-Terrorgesetze in der
Türkei einzusetzen;

– die Zusammenarbeit mit den türkischen Geheimdiensten, insbesondere Aus-
tausch personenbezogener Daten, zu beenden;

– auf die Ausweisung aller Agenten der türkischen Geheimdienste aus dem Gebiet
der Bundesrepublik Deutschland hinzuwirken;

– die deutschen Waffen- und Rüstungsexporte in die Türkei umgehend zu stoppen;
– die Bundeswehrsoldaten aus der Türkei abzuziehen;
– sich aufgrund der Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention

und der von Erdoğan angekündigten Wiedereinführung der Todesstrafe dafür ein-
zusetzen, dass der Türkei nach Artikel 8 der Satzung das Recht auf Vertretung im
Ministerrat des Europarats vorläufig abgesprochen wird und damit den ersten
Schritt zu einem möglichen Ausschluss zu gehen.

Berlin, den 29. November 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion
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