BT-Drucksache 18/10253

Unternehmensmitbestimmung stärken - Grauzonen schließen

Vom 9. November 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10253
18. Wahlperiode 09.11.2016
Antrag
der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Katja Keul,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Brigitte Pothmer, Corinna Rüffer,
Sven-Christian Kindler, Dr. Gerhard Schick und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Unternehmensmitbestimmung stärken – Grauzonen schließen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Während der letzten Wirtschaftskrise hat die Unternehmensmitbestimmung dazu bei-
getragen, die Krise erfolgreich zu bewältigen. Im Gegensatz zu anderen Staaten wur-
den in Deutschland Strukturbrüche und Massenentlassungen vermieden und der Be-
schäftigungsstand während der Krise hochgehalten. Die Vereinbarungen zwischen Ar-
beitgebenden und Arbeitnehmenden waren wesentliche Gründe, weshalb die deutsche
Industrie schnell wieder an das Produktionsniveau vor der Krise anknüpfen konnte.
Die Vorteile der Unternehmensmitbestimmung sind vielfältig. Sie kann sich positiv
auf die Produktivität, die Rentabilität und auf die Kapitalmarktbewertung von Unter-
nehmen auswirken. Zudem trägt sie zur guten Unternehmensführung im Sinne eines
nachhaltigen sowie sozial verträglichen Wirtschaftens bei, denn sie befördert soziale
Stabilität und Zusammenhalt. Durch transparente, gemeinschaftlich vereinbarte Unter-
nehmenskonzepte entsteht Vertrauen und in der Folge eine hohe Identifikation der Be-
schäftigten mit dem Unternehmen. Vor allem ist sie ein wichtiger Teil unserer demo-
kratischen Kultur, deshalb wäre es durchaus gerechtfertigt, den Schwellenwert, ab dem
die paritätische Mitbestimmung gilt, auf 1.000 Beschäftigte abzusenken.
Trotz dieser Vorteile ist die Unternehmensmitbestimmung in der Defensive, da sich
einige Unternehmen der Mitbestimmung entziehen. Laut Studien der Hans-Böckler-
Stiftung werden mehr als 800.000 Beschäftigte von der Unternehmensmitbestimmung
in Deutschland ausgeschlossen und können auf Unternehmensebene keinen Einfluss
auf die Geschicke ihrer Unternehmen nehmen, obwohl sie laut Gesetz an den Entschei-
dungen im Aufsichtsrat beteiligt werden müssen. Nach dem Mitbestimmungsgesetz
von 1976, das für Unternehmen mit mehr als 2.000 Beschäftigten gilt, waren im Jahr
2002 noch 767 Unternehmen paritätisch mitbestimmt. Im Jahr 2014 waren es nur noch
635 Unternehmen. Ein noch extremeres Bild zeichnet sich bei den Unternehmen mit
500 bis 2.000 Beschäftigten ab. Wissenschaftler haben eine Stichprobe von GmbHs
mit 750 und 1.250 Beschäftigten untersucht. Ergebnis war, dass nur knapp die Hälfte
der untersuchten Firmen mitbestimmte Aufsichtsräte hatten und 56 Prozent das Gesetz
nicht anwenden (Bayer/Hoffmann, GmbHRundschau, 17/2015).

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Zu einer funktionierenden Demokratie gehört die demokratische Teilhabe der Beschäf-
tigten in Unternehmen. Um diese Teilhabe auch in Zukunft sicherzustellen, sind die
Lücken in den verschiedenen Mitbestimmungsgesetzen zu schließen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die Unternehmensmitbestimmung zu stärken, indem Gesetzeslücken geschlossen wer-
den. Dazu müssen folgende Maßnahmen ergriffen werden:
1. Stiftungen mit Geschäftsbetrieb werden in den Geltungsbereich der Unterneh-

mensmitbestimmung einbezogen, wenn sie eine entsprechende Beschäftigtenzahl
aufweisen.

2. Die Regelung zur Konzernzurechnung aus dem Mitbestimmungsgesetz von 1976
wird auch im Drittelbeteiligungsgesetz verankert.

3. Unternehmen mit ausländischen Rechtsformen oder Kombinationen zwischen
nationalen und ausländischen Rechtsformen mit Verwaltungssitz in Deutschland
werden in die Unternehmensmitbestimmung nach dem Drittelbeteiligungsgesetz
und in das Mitbestimmungsgesetz von 1976 einbezogen.

4. Kombinationen aus Kapitalgesellschaften und Kommanditgesellschaften (Kapi-
talgesellschaft und Co. KG) werden lückenlos ebenfalls in die Unternehmensmit-
bestimmung nach dem Drittelbeteiligungs- und Mitbestimmungsgesetz von 1976
einbezogen, wenn der Komplementär keine natürliche Person, sondern eine Ka-
pitalgesellschaft ist. Dazu sind die Beschäftigten der Kommanditgesellschaft der
Kapitalgesellschaft zuzurechnen.

5. Es werden Sanktionen für den Fall eingeführt, dass das Drittelbeteiligungsgesetz
oder das Mitbestimmungsgesetz von 1976 von Unternehmen nicht angewandt
wird.

6. Im SE-Beteiligungsgesetz wird klargestellt, dass die Zahl der Mitglieder im SE-
Aufsichtsrat sowie die Gewichtung zwischen der Arbeitgeber- und Arbeitneh-
merseite angepasst werden müssen, wenn die vorgegebenen Schwellenwerte in
den jeweiligen deutschen Mitbestimmungsgesetzen überschritten werden.

7. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass die Europäische Kommission eine
Richtlinie zu allgemeinen Standards zur Unternehmensmitbestimmung für euro-
päische Gesellschaften vorlegt.

Berlin, den 8. November 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Begründung

Vor 65 Jahren wurde das Montanmitbestimmungsgesetz und vor 40 Jahren das Mitbestimmungsgesetz von 1976
eingeführt. Seit 2004 gilt das Drittelbeteiligungsgesetz, das vormals im Betriebsverfassungsgesetz geregelt war.
Die Gesetze ergänzen die betriebliche Mitbestimmung und ermöglichen den Beschäftigten eine gleichberechtigte
Teilhabe an der Kontrolle des Vorstandes bzw. der Geschäftsführung im Aufsichtsrat. Die Mehrzahl der mitbe-
stimmungspflichtigen Unternehmen akzeptiert und lebt die Unternehmensmitbestimmung, dennoch gibt es seit
einigen Jahren Erosionstendenzen. Die Mitbestimmungsrechte sind ein hohes Gut, denn zu einer funktionieren-
den Demokratie gehört die demokratische Teilhabe der Beschäftigten in Unternehmen. Um diese Teilhabe auch
in Zukunft sicherzustellen, sind die Lücken in den Mitbestimmungsgesetzen zu schließen.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10253
Zu 1:
Durch Stiftungskonstruktionen, wie beispielsweise bei Aldi, werden Beschäftigte von dem Recht auf Mitbestim-
mung auf Unternehmensebene ausgeschlossen. Diese Möglichkeit, die Unternehmensmitbestimmung zu umge-
hen, ist nicht zu rechtfertigen und muss verhindert werden. Deshalb müssen Stiftungen, die Erwerbszwecke ver-
folgen, in den Geltungsbereich der Unternehmensmitbestimmung einbezogen werden. Damit haben diese Unter-
nehmen die gleichen Rahmenbedingungen wie andere mitbestimmte Unternehmen auch. Die Beschäftigten er-
halten die gleichen Rechte und werden an wichtigen Entscheidungen in ihrem Unternehmen beteiligt.

Zu 2:
Im Mitbestimmungsgesetz von 1976 ist eine Konzernzurechnung verankert. Diese Regelung bewirkt, dass die
Beschäftigten der Betriebe und Unternehmen dem Konzern als größter Einheit zugerechnet werden. Damit wird
sichergestellt, dass Konzerne sich nicht der Unternehmensmitbestimmung entziehen können, indem sie Unter-
nehmen und Betriebe in kleinere Einheiten zerlegen. Diese Regelung wird in das Drittelbeteiligungsgesetz über-
tragen. Damit wird die Mitbestimmung in mittleren Unternehmen stabilisiert.

Zu 3:
2014 hatten 69 Unternehmen in Deutschland die Rechtsform „Auslandsgesellschaft & Co. KG“. Obwohl sie über
500 Beschäftigte hatten, waren ihre Beschäftigten im Aufsichtsrat nicht beteiligt. Auf diese Weise werden mehr
als 200.000 Beschäftigte in 94 Firmen und Niederlassungen ausländischer Unternehmen mit über 500 Beschäf-
tigten von der unternehmerischen Mitbestimmung ausgeschlossen (Böckler-Impuls, Sonderheft 2015, S. 15).
Diese Ungleichbehandlung ist weder akzeptabel noch begründbar. Deshalb wird diese Lücke in der Unterneh-
mensmitbestimmung geschlossen, indem Auslandsgesellschaften & Co. KGs mit Verwaltungssitz in Deutsch-
land in den Anwendungsbereich des Drittelbeteiligungsgesetzes und des Mitbestimmungsgesetzes von 1976 ein-
bezogen werden.

Zu 4:
Als 1952 das Drittelbeteiligungsrecht im Aufsichtsrat geschaffen wurde, blieben Kommanditgesellschaften au-
ßen vor, da bei dieser Unternehmensform in der Regel natürliche Personen als unbeschränkt haftende Gesell-
schafter (Komplementäre) fungierten. Das hat sich mittlerweile jedoch geändert. Von rund 250.000 Kommandit-
gesellschaften sind nur noch ein kleiner Teil, nämlich rund 30.000, klassische Kommanditgesellschaften mit na-
türlichen Personen als Komplementäre (Kornblum, GmbHRundschau, 2015, S. 687). In allen anderen Komman-
ditgesellschaften sind die Komplementäre stattdessen Kapitalgesellschaften. Es ist in keiner Weise zu begründen,
dass KGs mit Kapitalgesellschaften als Komplementäre von der Unternehmensmitbestimmung ausgeschlossen
sind. Die Unternehmensmitbestimmung muss der veränderten Unternehmenslandschaft angepasst werden. Des-
wegen werden auch diese gesellschaftsrechtlichen Konstruktionen flächendeckend in das Mitbestimmungsrecht
einbezogen. Beschäftigte der Kommanditgesellschaft werden automatisch der Kapitalgesellschaft zugeordnet
und in den Aufsichtsrat mit eingebunden, in dem die wesentlichen unternehmerischen Entscheidungen gefällt
werden. So können sich Unternehmen zukünftig nicht mehr durch die Kombination von Kapitalgesellschaften
mit Kommanditgesellschaften der Unternehmensmitbestimmung entziehen.

Zu 5:
Die im Drittelbeteiligungsgesetz bestehenden Möglichkeiten, auf dem Klageweg die Beteiligung der Beschäftig-
ten in einem Aufsichtsrat durchzusetzen, reichen nicht aus. Das zeigt die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der
GmbHs mit 750 bis 1.250 Beschäftigten im Anwendungsbereich des Drittelbeteiligungsgesetzes keinen drittel-
beteiligten Aufsichtsrat haben (Sick, Sebastian, Mitbestimmungsförderung, Report Nr. 13). Die Eigentümer kom-
men in diesen Fällen ihrer Pflicht nicht nach, die Beschäftigten im Aufsichtsrat zu beteiligen. Bisher können nur
Betriebsräte die Bestellung von Beschäftigtenvertretungen im Aufsichtsrat im Rahmen des Drittelbeteiligungs-
gesetzes gerichtlich durchsetzen. Deshalb sollen Sanktionen eingeführt werden, die dafür sorgen, dass die Mit-
bestimmungsgesetze eingehalten werden. Es kann beispielsweise eine umsatzbezogene Geldbuße eingeführt und
gesetzlich in § 322 des Handelsgesetzbuchs (HGB) festgeschrieben werden, dass Abschlussprüferinnen und Ab-
schlussprüfer den Bestätigungsvermerk zu versagen haben, wenn die von ihnen geprüften Unternehmen die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht am Aufsichtsrat beteiligen. Diese Sanktion wird auch im Zusammen-
hang mit der Einhaltung der Frauenquote in Aufsichtsräten diskutiert (Schüppen, Matthias, WPg 2015, Heft 22).
Drucksache 18/10253 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Zu 6:
Bei der Umwandlung einer deutschen Rechtsform in eine Europäische Gesellschaft (SE) wird der Umfang der
Unternehmensmitbestimmung, wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Aufsichtsrat sitzen, neu ver-
handelt. Falls bei den Verhandlungen keine Einigung erzielt wird, gilt das bisherige Verhältnis vor der Umwand-
lung. Nach derzeitiger Rechtslage kann allerdings ein mitbestimmungsfreier Zustand konserviert werden, wenn
ein nicht mitbestimmungspflichtiges Unternehmen die Gesellschaftsform in eine SE umwandelt, bevor es die
Schwelle von 500 Beschäftigten erreicht. In der Folge hat die Überschreitung der Schwelle hin zur Drittelbetei-
ligung oder paritätischen Mitbestimmung keine Auswirkungen auf den Umfang der Mitbestimmung. Damit kön-
nen Unternehmen gezielt die Rechtsform der SE nutzen, um die Unternehmensmitbestimmung zu umgehen und
einen mitbestimmungsfreien Zustand zu erhalten. Die Zahl der Unternehmen, die sich durch dieses Vorher-Nach-
her-Prinzip der Unternehmensmitbestimmung entzieht, beläuft sich immerhin auf rund 50 Unternehmen (Böck-
ler-Impuls, 06/2016). Deswegen muss im SE-Beteiligungsgesetz klargestellt werden, dass die Zahl der Mitglieder
im Aufsichtsrat und die Gewichtung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite neu angepasst wird, wenn die
Zahl der Beschäftigten über die vorgegebenen Schwellenwerte der jeweiligen Gesetze zur Unternehmensmitbe-
stimmung steigt. Österreich kann hier als Vorbild dienen, denn dort wurde gesetzlich verankert und definiert,
dass eine erheblich anwachsende Zahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine „erhebliche Änderung der Be-
legschaft“ darstellt, die eine Anpassung der Zahl der Vertreterinnen und Vertreter im Aufsichtsrat erforderlich
macht (vgl. § 228 Abs. 2 ArbVG Österreich).

Zu 7:
Die Bundesregierung soll sich dafür einsetzen, dass die Europäische Kommission eine Richtlinie zu Mindest-
standards zur Unternehmensmitbestimmung erarbeitet. Die Richtlinie soll allgemeine Standards zur Unterrich-
tung sowie Anhörung und Mindeststandards zur Mitbestimmung in Unternehmen des europäischen Gesell-
schaftsrechts definieren. Ziel muss sein, die erfolgreiche deutsche Unternehmensmitbestimmung auch in europä-
ischen Rechtsformen zu schützen und zu stärken.

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