BT-Drucksache 18/10243

Familiennachzug zu anerkannten Flüchtlingen uneingeschränkt gewährleisten

Vom 8. November 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10243
18. Wahlperiode 08.11.2016
Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Frank Tempel, Sigrid Hupach,
Nicole Gohlke, Dr. André Hahn, Dr. Rosemarie Hein, Jan Korte, Ralph Lenkert,
Cornelia Möhring, Norbert Müller (Potsdam), Petra Pau, Harald Petzold
(Havelland), Martina Renner, Kersten Steinke, Halina Wawzyniak,
Katrin Werner, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Familiennachzug zu anerkannten Flüchtlingen uneingeschränkt gewährleisten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Das Recht auf Familienzusammenleben ist ein fundamentales Grund- und Men-
schenrecht (Artikel 6 Absatz 1 GG, Artikel 8 EMRK, Artikel 7 EU-Grundrechte-
Charta). Die Nachzugsmöglichkeit von engen Familienangehörigen ist gerade für
Geflüchtete im Exil besonders wichtig, weil es durch die Flucht oftmals zu einer
unfreiwilligen Familientrennung kommt. Anerkannte Flüchtlinge haben deshalb
einen klaren Rechtsanspruch auf Familiennachzug. Wird dieser verhindert oder
verzögert, ist das nicht nur für die Betroffenen eine Katastrophe. Auch die In-
tegration der bereits hier lebenden Menschen wird dadurch erheblich behindert
und verzögert. Sie können sich nicht auf den Spracherwerb, die weitere Qualifi-
zierung oder die Erwerbsaufnahme konzentrieren, wenn ihre Gedanken von der
Sorge um die noch im Kriegsgebiet oder unter prekären Bedingungen in Anrai-
nerstaaten lebenden Angehörigen erfüllt sind. Deshalb muss das Recht auf Fami-
lienzusammenführung zu anerkannten Schutzberechtigten uneingeschränkt ge-
währleistet werden.

2. Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsparteien haben den Fami-
liennachzug zu anerkannten Flüchtlingen jedoch massiv beschränkt. Mit dem
Asylpaket II wurde der Nachzug zu so genannten subsidiär Schutzberechtigten,
d. h. vor allem Bürgerkriegsflüchtlingen, bis März 2018 ausgesetzt. Diese Tren-
nung von Familien über Jahre hinweg ist unmenschlich und menschenrechtswid-
rig, denn für subsidiär Schutzberechtigte gibt es ebenso wenig wie für Flüchtlinge
nach der Genfer Flüchtlingskonvention eine Möglichkeit, ihre Familieneinheit im
Ausland zu leben. Deshalb waren die Nachzugsrechte beider Flüchtlingsgruppen
erst Mitte 2015 aneinander angeglichen worden. Während im Gesetzgebungsver-
fahren zum Asylpaket II der Eindruck erweckt wurde, die Aussetzung des Fami-
liennachzugs würde nur wenige Personen betreffen (2015 erhielten 1.707 Perso-
nen einen subsidiären Schutzstatus, Bundestagsdrucksache 18/7625), wurde mit

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dem Tag des Inkrafttretens der Neuregelung die Entscheidungspraxis im Bundes-
amt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geändert. Seitdem steigen der Anteil
und die Zahl subsidiären Schutzes massiv an, obwohl sich an der Lage in den
jeweiligen Herkunftsländern nichts Grundlegendes geändert hat bzw. sogar eher
eine Verschlechterung festzustellen ist – betroffen sind vor allem Geflüchtete aus
Syrien und Afghanistan. Bis Ende September 2016 hatten bereits knapp 90.000
Menschen einen nur subsidiären Schutzstatus erhalten. Der Bundestag kritisiert
diese gezielte Strategie der Entrechtung und Abschreckung gegenüber offenkun-
dig schutzbedürftigen Flüchtlingen.

3. Die Geltung der Menschenrechte erweist sich vor allem in der Realität, nicht auf
dem Papier. Der Rechtsanspruch auf Familiennachzug zu anerkannten Flüchtlin-
gen wird seit längerem durch eine nur sehr schleppende Visumserteilung in der
Praxis ausgehöhlt. PRO ASYL e. V. und der Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V.
beklagen einen „permanenten Verfassungsbruch“ durch die „systematische Be-
hinderung“ des Familiennachzugs zu anerkannten Flüchtlingen
(www.proasyl.de/pressemitteilung/familiennachzug-wird-systematisch-behin-
dert/). Betroffen sind, wegen der großen Zahl von Flüchtlingsanerkennungen, vor
allem syrische, aber auch irakische, afghanische und eritreische Flüchtlinge. Auf
parlamentarische Anfragen von Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE. ergab
sich, dass die Wartezeiten auf einen Termin in den maßgeblichen deutschen Vi-
sastellen in der Region um Syrien bei bis zu 16 Monaten liegen, hinzu kommen
wochen- und monatelange Bearbeitungszeiten (vgl. Bundestagsdrucksache
18/5914). Zwar hat es, nicht zuletzt auf Druck von Verbänden und der Opposi-
tion, organisatorische Verbesserungen, Verfahrenserleichterungen und personelle
Aufstockungen in den Visastellen gegeben. Die Maßnahmen sind jedoch immer
noch unzureichend und werden dem bestehenden Bedarf nicht gerecht (vgl. Bun-
destagsdrucksache 18/9133). Zehntausende anerkannte Flüchtlinge bangen um
das Leben ihrer Angehörigen und müssen trotz eines klaren Rechtsanspruchs ab-
sehbar mehr als ein oder zwei Jahre auf den Familiennachzug warten. Das ist
inakzeptabel. Die bürokratischen Hürden bei der Visumerteilung müssen
schnellstmöglich beseitigt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. schnellstmöglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Aussetzung des
Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten wieder zurückgenommen
wird; im Vorgriff auf diese Gesetzesänderung müssen ab sofort entsprechende
Visumanträge zur Familienzusammenführung wieder entgegengenommen und
bearbeitet werden;

2. kurzfristig weitere personelle Aufstockungen und räumliche Erweiterungen in
den maßgeblich betroffenen deutschen Visastellen und organisatorische Erleich-
terungen im Visumverfahren, etwa auch durch eine verstärkte Bearbeitung von
Anträgen in Deutschland, vorzunehmen, um einen zeitnahen Familiennachzug zu
anerkannten Schutzberechtigten zu gewährleisten;

3. das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anzuweisen, zur Entscheidungspra-
xis vor dem Inkrafttreten des Asylpaket II zurückzukehren, d. h. bei syrischen
Asylsuchenden wegen der Gefahr politischer Verfolgung im Regelfall einen Sta-
tus nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu erteilen und angesichts einer berei-
nigten Gesamtschutzquote von nahezu 100 Prozent wieder von der Möglichkeit
beschleunigter, schriftlicher Anerkennungsverfahren Gebrauch zu machen, in

https://www.proasyl.de/pressemitteilung/familiennachzug-wird-systematisch-behindert/
https://www.proasyl.de/pressemitteilung/familiennachzug-wird-systematisch-behindert/
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Fällen, in denen keine persönliche Anhörung aufgrund von Zweifeln an der Her-
kunft, dem individuellen Vorbringen oder wegen Sicherheitsbedenken erforder-
lich ist.

Berlin, den 8. November 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Begründung

Die geänderte Entscheidungspraxis im BAMF ist eine direkte Folge politischer Vorgaben. Bundesinnenminister
Dr. Thomas de Maizière bekundete im Bundestag offen: „Die Einschränkung des Familiennachzugs mag hart
erscheinen. – Sie ist hart, einverstanden. – Sie ist aber notwendig, um eine Überlastung der Aufnahmesysteme in
unserem Land zu verhindern“ (Plenarprotokoll 18/156, S. 15345), d. h. eine quantitativ spürbare Einschränkung
des Familiennachzugs war von vornherein beabsichtigt. Dies steht allerdings im Widerspruch zu Erklärungen
des Bundesinnenministers und des Flüchtlingskoordinators der Bundesregierung Peter Altmaier gegenüber dem
Koalitionspartner SPD. Beide hatten im Vorfeld der Gesetzesänderung zugesichert, dass sich an der bisherigen
Praxis nichts ändern solle (vgl. Bundestagsdrucksache 18/9657, Fragen 6 und 7). Der menschenrechtspolitische
Sprecher der SPD-Fraktion, Frank Schwabe, erklärte entsprechend: „Und in der Situation war Herr de Maizière
in der SPD-Fraktion und hat uns eindeutig versichert, auch auf mehrfache Nachfrage, dass es keine Veränderung
der Anerkennungspraxis geben wird. Aus heutiger Sicht war das ein Wortbruch. Die Situation hat sich dramatisch
verändert und deswegen muss die Koalition die Kraft aufbringen, diese Gesetze auch wieder zu verändern“
(www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/neue-fluechtlingspolitik-100.html).
Laut Bundesregierung gab es keine Anweisung, verstärkt subsidiären Schutz zu gewähren. Im BAMF wurde mit
Inkrafttreten des Asylpakets II am 17. März 2016 jedoch eine geänderte Verfahrensweise im Umgang mit Asyl-
suchenden aus Syrien aufgenommen (vgl.: www.nds-fluerat.org/19356/pressemitteilungen/bamf-hebelt-famili-
ennachzug-zu-syrischen-fluechtlingen-weiter-aus/). Anders als zuvor sollten diese nunmehr wieder (mit Ausnah-
men) alle mündlich angehört werden, obwohl sie zu fast 100 Prozent einen Schutzstatus zugesprochen bekom-
men. Verbunden wurde dies mit der inhaltlichen Vorgabe, dass eine Anerkennung nach der Genfer Flüchtlings-
konvention (GFK) „nicht mehr die Regelentscheidung“ sei und im Einzelfall geprüft werden müsse, ob ein
Flüchtlingsschutz nach der GFK oder ein subsidiärer Schutz zu gewähren sei. Zur Begründung hieß es, dass
syrische Behörden Hunderttausende Reisepässe im In- und Ausland ausgestellt hätten, und deshalb könne „die
pauschale Annahme einer regimekritischen Gesinnung infolge eines Auslandsaufenthalts nicht mehr aufrecht
erhalten“ werden. Diese inhaltliche Vorgabe widersprach der bis dahin vorliegenden Rechtsprechung, wonach
syrischen Asylsuchenden allein aufgrund ihrer unerlaubten Ausreise und Asylantragstellung im Ausland bei einer
Rückkehr schwer wiegende Gefahren drohen und deshalb ein Schutz nach der GFK gewährt werden muss (vgl.
www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/Rechtspolitisches-Papier_Familiennachzug_aktuell_final.pdf).
Viele aktuelle Gerichtsentscheidungen bescheinigen dem BAMF deshalb, syrischen Geflüchteten zu Unrecht
einen Flüchtlingsstatus verweigert zu haben (www.asyl.net/startseite/nachrichten/artikel/56144.html). Die geän-
derte Verfahrenspraxis führt somit nicht nur zu enormen Unsicherheiten und Belastungen für die Betroffenen
und ihre Familienangehörigen. Sie ist auch mit einem großen bürokratischen Aufwand, sowohl bei den Asylver-
fahren im ohnehin überlasteten BAMF als auch bei den sich nunmehr in großer Zahl ergebenden Gerichtsverfah-
ren verbunden.
Die Behauptung, syrische Asylsuchende würden bei mündlichen Anhörungen verstärkt nur auf allgemeine Bür-
gerkriegsgefahren hinweisen, ist unglaubwürdig. Auch vor der Gesetzesverschärfung Mitte März 2016 gab es
Asylentscheidungen nach einer persönlichen Anhörung von syrischen Asylsuchenden, im Januar 2016 waren
dies 1.039 und im Februar 1.290. Der Anteil subsidiären Schutzes lag dabei jedoch nur bei 1,3 bzw. 1,2 Prozent
(vgl. Nachbeantwortung des Auswärtigen Amts vom 3. August 2016 zur Bundestagsdrucksache 18/8957). Erst

http://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/neue-fluechtlingspolitik-100.html
http://www.nds-fluerat.org/19356/pressemitteilungen/bamf-hebelt-familiennachzug-zu-syrischen-fluechtlingen-weiter-aus/
http://www.nds-fluerat.org/19356/pressemitteilungen/bamf-hebelt-familiennachzug-zu-syrischen-fluechtlingen-weiter-aus/
http://www.asyl.net/startseite/nachrichten/artikel/56144.html
Drucksache 18/10243 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
mit der Gesetzesänderung stieg dieser dann systematisch auf bis zu über 72 Prozent an, obwohl sich weder an
der Lage in Syrien noch an den vorgetragenen Flüchtlingsschicksalen im Kern irgendetwas geändert hatte.
Hinsichtlich der praktischen Probleme bei der Visavergabe hatte die Bundesregierung auf parlamentarische An-
frage zunächst konkrete Angaben zu den Wartezeiten verschwiegen und eine Verbesserung der Situation behaup-
tet – erst nach einer Beschwerde gab sie konkrete Zahlen zu den schockierend langen Wartezeiten bekannt (vgl.
Vorbemerkung auf Bundestagsdrucksache 18/5914). Die Situation hat sich trotz einzelner Maßnahmen seitdem
nicht grundlegend verbessert. Mitte 2015 betrug die Wartezeit etwa in Beirut immer noch 15 Monate, in der
Region warteten etwa 90.000 bis 100.000 Familienangehörige bereits anerkannter Flüchtlinge auf einen Termin
zu Visabeantragung (vgl. Bundestagsdrucksache 18/9133).

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