BT-Drucksache 17/9513

Umsetzung der Verschlechterungsverbote des EWG/Türkei-Assoziationsrechts

Vom 27. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9513
17. Wahlperiode 27. 04. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Annette Groth, Heike Hänsel, Andrej Hunko,
Ulla Jelpke, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Katrin Werner und der Fraktion
DIE LINKE.

Umsetzung der Verschlechterungsverbote des EWG/Türkei-Assoziationsrechts

Die Fraktion DIE LINKE. hat in der Vergangenheit durch mehrere parlamentari-
sche Anfragen auf das Problem einer unzureichenden Umsetzung der Rechtspre-
chung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum EWG/Türkei-Assoziations-
recht aufmerksam gemacht (vgl. zuletzt die Bundestagsdrucksachen 17/6843
und 17/5539). Das Assoziationsrecht umfasst neben dem Assoziationsabkom-
men aus dem Jahr 1963 unter anderem das Zusatzprotokoll zum Abkommen
(ZP) und den Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Ent-
wicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (ARB 1/80).

Auch Äußerungen der EuGH-Richterin Dr. Maria Berger im Interview mit „Die
Presse“ vom 25. September 2011 lassen eine gewisse Verärgerung des Gerichts-
hofs über die mangelhafte Berücksichtigung des Assoziationsrechts erkennen:
„Auffällig oft landen bei uns derzeit Fälle, bei denen es um die Einhaltung des
Assoziierungsabkommens mit der Türkei geht. In einer Zeit, als man türkische
Arbeitnehmer dringend gesucht hat, wurden ihnen die Rechte versprochen […].
Jetzt, wo diese Rechte fällig werden, wollen einige Mitgliedstaaten nichts mehr
davon wissen.“ Die von den jeweiligen Bundesregierungen vertretenen rigiden
Rechtsauffassungen zum Assoziationsrecht wurden in konkreten Verfahren vom
EuGH immer wieder erneut zurückgewiesen (vgl. z. B. die EuGH-Urteile zu
Toprak vom 9. Dezember 2010, Rn. 48; Urteil C-92/07 vom 29. April 2010,
Rn. 42; Abatay vom 21. Oktober 2003, Rn. 75; Birden vom 26. November
1998, Rn. 29 und 51; Demirel vom 30. September 1987, Rn. 6).

Die Regierungen der Niederlande, Dänemarks und Österreichs wenden das
Assoziationsrecht hingegen weitaus umfassender an als die Bundesregierung.
Dänemark und Österreich verzichten beispielsweise infolge der Rechtsprechung
des EuGH bei türkischen Staatsangehörigen auf den Nachweis von Sprach-
kenntnissen beim Ehegattennachzug und im Inland (vgl. Süddeutsche Zeitung
vom 25. April 2012, „Wien kippt Sprachtest für Türken“ und DER STANDARD
vom 23. April 2012, „EU-Gericht hebelt Deutsch-Lernpflicht für Türken aus“).
Trotz dieser unterschiedlichen Auslegung des Assoziationsrechts verweigert die
Bundesregierung einen Dialog und argumentativen Austausch mit den Regie-

rungen seiner Nachbarstaaten (vgl. z. B. Plenarprotokoll 17/145, S. 17264 (D)
und Bundestagsdrucksache 17/7279, S. 10). Offenkundig ist ihr nicht daran ge-
legen, zu einer einheitlichen Anwendung des Assoziationsrechts zu kommen.
Dabei hat auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages in
einer Ausarbeitung (WD 3 – 3000 – 188/11) auf die sich aus dem Assoziations-
recht ergebenden umfangreichen Konsequenzen für das deutsche Aufenthalts-
recht hingewiesen.

Drucksache 17/9513 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Eine besondere Bedeutung kommt den so genannten Stillhalteklauseln bzw. Ver-
schlechterungsverboten des Assoziationsrechts zu. Artikel 13 ARB 1/80 und
Artikel 41 Absatz 1 ZP verbieten den Vertragsstaaten vor dem Hintergrund des
Ziels einer Annäherung bzw. eines späteren Beitritts der Türkei zur Europä-
ischen Union (EU) die Einführung „neuer Beschränkungen“ in Bezug auf die
Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit,
wovon nach der Rechtsprechung des EuGH auch aufenthaltsrechtliche Regelun-
gen umfasst sind. Diese Verschlechterungsverbote erfordern die Kenntnis der
jeweiligen Rechtslage und Praxis im Aufenthalts- und Beschäftigungsrecht seit
1973 bzw. 1980 (Gesetze, Verordnungen, Runderlasse), denn für türkische
Staatsangehörige gilt die seitdem jeweils günstigste Regelung; nachträgliche
materielle oder verfahrensrechtliche Verschlechterungen sind nicht zulässig.

In ihrem Antrag auf Bundestagsdrucksache 17/7373 fordert die Fraktion DIE
LINKE. vor diesem Hintergrund eine umfassende Berücksichtigung, Umset-
zung und gesetzliche Verankerung der Rechtsprechung des EuGH zum Asso-
ziationsrecht und einen systematischen Rechtsvergleich, aus dem sich der kon-
krete Änderungsbedarf ergibt. Der Rechtsanwalt Ünal Zeran aus Hamburg hat
die Rechtsprechung des EuGH und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen
für das deutsche Aufenthaltsrecht beispielhaft dargestellt („Gewitterwolken
über dem deutschen Aufenthaltsgesetz“, ASYLMAGAZIN, Nummern 10/2011
und 12/2011).

Die Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern (BMI) zum ARB
1/80 hingegen basieren auf dem Stand des Jahres 2002 und sind damit jedenfalls
in Bezug auf die Verschlechterungsverbote praktisch wertlos, weil der EuGH
diesbezüglich insbesondere in den letzten Jahren eine Vielzahl maßgeblicher
Urteile gefällt hat (vgl. z. B. die EuGH-Urteile zu Dereci vom 15. November
2011, Oguz vom 21. Juli 2011, Toprak vom 9. Dezember 2010, Urteil C-92/07
vom 29. April 2010, Sahin vom 17. September 2009). Im Mai 2011 erklärte die
Bundesregierung, die Anwendungshinweise würden „derzeit überarbeitet“ (vgl.
Bundestagsdrucksache 17/5884, Antwort zu Frage 1) – bis heute dauert diese
Überarbeitung offenkundig an. Das kuriose Ergebnis ist, dass eine völlige
Unklarheit über die Rechte türkischer Staatsangehöriger besteht, obwohl das
Assoziationsrecht in seiner Bindungswirkung sogar Verordnungen und Richt-
linien der Europäischen Union vorgeht.

In ihrer Vorbemerkung auf Bundestagsdrucksache 17/5884 erklärte die Bundes-
regierung, dass sie es nicht als ihre Aufgabe ansieht, eine Beachtung des Asso-
ziationsrechts in der Auslegung durch den EuGH sicherzustellen, zumal für die
Rechtsanwendung „überwiegend“ die Bundesländer zuständig seien. Um die
entsprechenden Positionen und Maßnahmen der Bundesländer zur Beachtung
des Assoziationsrechts zu erfahren, hat die Fragestellerin deshalb zeitgleich eine
weitere Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, obwohl sie nicht der
Auffassung sind, dass es überwiegend den Bundesländern obliegt, eine einheit-
liche Beachtung verbindlichen Europarechts in Deutschland sicherzustellen. Die
nachfolgenden Fragen beziehen sich vor allem auf weiterhin bestehenden Nach-
fragebedarf zu den bisherigen Äußerungen der Bundesregierung zum Thema
sowie auf aktuelle Entwicklungen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. In welcher Weise hat die Bundesregierung die Bundesländer auf Auswirkun-
gen der Verschlechterungsverbote des Assoziationsrechts hingewiesen, bei
denen auch sie davon ausgeht, dass eine Abweichung von bundesgesetz-
lichen Vorschriften in Bezug auf assoziationsberechtigte türkische Staatsan-
gehörige erforderlich ist (z. B. bei der Mindestehebestandszeit für ein eigen-

ständiges Aufenthaltsrecht, die von zwei auf drei Jahre verlängert wurde, vgl.
Bundestagsdrucksache 17/4623, Antwort zu Frage 1)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9513

2. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung darüber, wie die Bundesländer
sicherstellen, dass bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen
eine eigenständige Aufenthaltserlaubnis bereits nach zweijähriger – und
nicht nach dreijähriger – Ehe erteilt wird, und wenn sie keine Kenntnisse
hierzu hat, wie will sie dann der Verpflichtung zur Unionstreue und effekti-
ven Umsetzung von Europarecht ohne entsprechende Anwendungshinweise
oder gesetzliche Regelungen nachkommen?

3. Wie ist der Stand der Überarbeitung der Anwendungshinweise zum ARB
1/80 bzw. zum Assoziationsrecht insgesamt, wie ist der diesbezügliche Zeit-
plan, welche Stelle ist mit der Überarbeitung befasst, weshalb erfordert dies
so viel Zeit, und wie ist angesichts der zehnjährigen Nichtüberarbeitung die
Vorgabe in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz
(Nummer 4.5.2) zu verstehen, wonach die Anwendungshinweise zum ARB
1/80 „in der jeweils gültigen Fassung“ anzuwenden seien?

4. Inwieweit ist eine Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum
Aufenthaltsgesetz zu Nummer 4.5.2 geplant, bzw. inwieweit wurden die
Bundesländer darüber informiert, dass die dortigen Ausführungen auch nach
Auffassung der Bundesregierung unzutreffend sind, wonach es angeblich
keine assoziationsrechtlichen Regelungen oder Verpflichtungen bezüglich
der Ersteinreise bzw. erstmaligen Erwerbstätigkeitsaufnahme gebe (vgl. die
Vorbemerkung der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/5884,
S. 3 zweiter Absatz), da Nummer 4.5.2 die Rechtsprechung des EuGH zur
Wirkung der Verschlechterungsverbote auch auf Regelungen der Ersteinreise
und der ersten Arbeitsaufnahme (vgl. z. B. das Abatay-Urteil vom 21. Okto-
ber 2003, das Sahin-Urteil vom 17. September 2009 und das Urteil C-92/07
vom 29. April 2010) ignoriert?

5. In welcher Weise hat die Bundesregierung in dieser Wahlperiode die Bun-
desländer auf die Rechtsprechung des EuGH zum Assoziationsrecht, ins-
besondere zu den Verschlechterungsverboten, bzw. auf entsprechende Aus-
wirkungen auf deutsches Recht hingewiesen (bitte genau mit Datum, Urteil
und Inhalt benennen), und wann und in welchem Rahmen hat die Bundes-
regierung in dieser Wahlperiode Gespräche mit den Bundesländern zu diesen
Fragen geführt (bitte mit Datum, Inhalt, Ergebnissen und Nennung der betei-
ligten Länder bzw. Ministerien aufführen)?

6. Wie ist die Antwort der Bundesregierung zu Frage 5 auf Bundestagsdruck-
sache 17/6712 zu verstehen, „nationale Vorschriften zum Familiennachzug,
die keine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit beinhalten“, seien
vom Verschlechterungsverbot des Artikels 13 ARB 1/80 nicht umfasst, vor
dem Hintergrund, dass Beschränkungen der Einreisevorschriften, z. B. im
Rahmen des Familiennachzugs, logischerweise immer auch eine Beschrän-
kung der Arbeitnehmerfreizügigkeit darstellen – entweder in Bezug auf die
Stammberechtigten, deren Arbeitnehmerfreizügigkeit durch eine Einschrän-
kung ihrer Rechte auf Familienzusammenführung beeinträchtigt wird, oder
in Bezug auf die nachziehenden Familienangehörigen, deren Zugang zu einer
künftigen Beschäftigung eingeschränkt wird (bitte ausführen)?

7. Wie kann sich die Bundesregierung in ihrer Antwort zu Frage 5 auf Bundes-
tagsdrucksache 17/6712 zur Rechtfertigung ihrer Rechtsauffassung auf die
Randnummern 74 ff. des Abatay-Urteils beziehen, in denen das damalige
Vorbringen der Bundesregierung, das Verschlechterungsverbot gelte nur,
wenn bereits eine ordnungsgemäße Beschäftigung ausgeübt würde und ein
Aufenthaltsrecht bestehe, vom EuGH ausdrücklich zurückgewiesen wurde
(Rn. 75), und zwar mit unter anderem folgenden Argumenten, die auch der
jetzigen Rechtsauffassung der Bundesregierung entgegenstehen:
a) „der Schutz der Rechte türkischer Staatsangehöriger auf dem Gebiet der
Ausübung einer Beschäftigung [kann] nicht Gegenstand von Artikel 13

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des Beschlusses Nummer 1/80 sein […], da diese Rechte bereits von
Artikel 6 dieses Beschlusses vollständig erfasst sind“ (Rn. 79), d. h. dass
das Verschlechterungsverbot gerade die nicht bereits in den Arbeitsmarkt
integrierten türkischen Staatsangehörigen begünstigen soll (vgl. auch
Rn. 83 sowie die Urteile Sahin, Rn. 50 f.; Toprak, Rn. 45 f. und C-92/07,
Rn. 46 und 50);

b) „Vielmehr verbietet dieser Artikel 13 […] den Mitgliedstaaten, den Zu-
gang türkischer Staatsangehöriger zu einer Beschäftigung durch neue
Maßnahmen einzuschränken“ (Rn. 80), d. h. es geht bei den Verschlechte-
rungsverboten um die Zugangsrechte zu einer beabsichtigten, aber noch
nicht ausgeübten Beschäftigung (vgl. auch Rn. 89, in der ausdrücklich von
der „Absicht, sich in den Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland
als Aufnahmemitgliedstaat zu integrieren“ als entscheidendes Kriterium
die Rede ist);

c) das Verschlechterungsverbot gelte auch für Familienangehörige türki-
scher Arbeitnehmer, „deren Einreise […] nicht von der Ausübung einer
Beschäftigung als Arbeitnehmer“ abhängt (Rn. 82), so dass ersichtlich
wird, dass die von der Bundesregierung vorgenommene Trennung von
„persönlichem“ und „sachlichem“ Schutzbereich nach Artikel 13 ARB
1/80 in Bezug auf Familienangehörige und die Frage der Beschränkung
der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht haltbar ist

(bitte auf alle Unterfragen getrennt und mit Begründung antworten)?

8. Wie ist die Aussage der Bundesregierung, der EuGH habe in Bezug auf das
Verschlechterungsverbot „die Begrenzung des sachlichen Schutzbereichs
auf Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit […] nicht aufgehoben“
(Bundestagsdrucksache 17/6712, Antwort zu Frage 5) damit vereinbar, dass
der EuGH im Toprak-Urteil vom 9. Dezember 2010 eine vergleichbare
Behauptung der niederländischen Regierung ausdrücklich zurückgewiesen
hat (vgl. Rn. 37 ff. des Urteils, Rn. 46: „Folglich ist das Vorbringen der nie-
derländischen Regierung zurückzuweisen, Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80
sei nicht auf die in den Ausgangsverfahren streitige Regelung anwendbar, da
diese nicht in dieser Vorschrift vorgesehene Bedingungen für den Zugang
türkischer Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt, sondern Rechte ausländischer
Ehegatten in Bezug auf Familienzusammenführung betreffe.“) (es wird um
eine Antwort mit Begründung auf diese zentrale Frage gebeten; die ver-
gleichbare Frage 8 auf Bundestagsdrucksache 17/6970 wurde nach Ansicht
der Fragestellerin unzureichend beantwortet, da die Bundesregierung ledig-
lich abstrakt auf die Vorbemerkung auf Bundestagsdrucksache 17/5884 ver-
wies, wo jedoch zum einen auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
vom 30. März 2010 Bezug genommen wurde, das aber das zeitlich später er-
gangene Toprak-Urteil vom 9. Dezember 2010 noch gar nicht berücksichti-
gen konnte, und wo sich die Bundesregierung zum anderen auf die Rand-
nummern 41 bis 44 des Toprak-Urteils stützt, ohne jedoch auf die beiden
nachfolgenden Randnummern desselben Urteils einzugehen, die eine Inter-
pretation wie die der Bundesregierung gerade ausschließen – wie oben in
dieser Frage im Wortlaut zitiert)?

9. Inwieweit ist nach Ansicht der Bundesregierung die Feststellung des EuGH
in seinem Urteil C-92/07 vom 29. April 2010, wonach Artikel 13 ARB 1/80
„der Einführung neuer Beschränkungen der Ausübung der Arbeitnehmerfrei-
zügigkeit […] einschließlich solchen entgegensteht, die die materiell- und/
oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme
türkischer Staatsangehöriger […] betreffen, die dort von dieser Freiheit
Gebrauch machen wollen“ (vgl. Rn. 49 f.) ein Beleg dafür, dass es der EuGH

ausdrücklich als eine verbotene Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit
ansieht, wenn die Einreisebestimmungen in Bezug auf Personen verschärft

titel) offenkundig eine andere Auffassung von der Wirkungsweise und dem
Umfang der Standstill-Klauseln haben und damit eine europaweit unein-
heitliche Anwendung des Assoziationsrechts droht bzw. schon besteht?

15. Welche Schlussfolgerung zieht die Bundesregierung daraus, dass das öster-
reichische Innenministerium aus dem Dereci-Urteil des EuGH die Kon-
sequenz gezogen hat, dass bei türkischen Staatsangehörigen wegen des Ver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9513

werden, die erst noch von dieser Freiheit Gebrauch machen wollen, d. h.
dass Familienangehörige nicht nur dem persönlichen, sondern auch dem
sachlichen Schutzbereich des Verschlechterungsverbots unterfallen, wenn
man dieser Unterscheidung und Argumentation der Bundesregierung folgen
wollte (bitte ausführlich begründen)?

10. Wie ist die Aussage der Bundesregierung, Beschränkungen des Familien-
nachzugs würden nicht in den sachlichen Schutzbereich des Verschlechte-
rungsverbots des ARB 1/80 fallen, mit Nummer 4.5.3 der Allgemeinen Ver-
waltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vereinbar, wo es ausdrücklich
heißt, dass es die „eigentliche Zwecksetzung des ARB 1/80“ sei, „eine Be-
werbung um und die Ausübung einer Beschäftigung zu ermöglichen“, was
also auch die Absicht zur Beschäftigungsaufnahme als Kernelement des
sachlichen Schutzbereichs des ARB 1/80 beschreibt?

11. Wie ist die Aussage der Bundesregierung, Beschränkungen des Familien-
nachzugs würden nicht in den sachlichen Schutzbereich des Verschlechte-
rungsverbots des ARB 1/80 fallen, mit dem aktuellen EuGH- Urteil Kah-
veci/Inan vom 29. März 2012 vereinbar, in dem es zu Rn. 34 zu dem „mit
dem Beschluss Nr. 1/80 verfolgten allgemeinen Zweck“ heißt, dass dieser
darin bestehe, „die im sozialen Bereich bestehende Regelung für die tür-
kischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen zu verbessern, um
schrittweise die Freizügigkeit herzustellen“ und „insbesondere“ die „Fami-
lienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat“ zu erleichtern, so dass
die von der Bundesregierung vorgenommene Verengung des sachlichen
Schutzbereichs des Verschlechterungsverbots nach Artikel 13 ARB 1/80
auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht zu rechtfertigen ist?

12. Mit welcher Begründung ist die Bundesregierung der Auffassung, dass der
EuGH zu jeder nur vorstellbaren Detailverschärfung der bestehenden Ge-
setzeslage seine gefestigte Rechtsprechung ständig wiederholen muss, ob-
wohl bereits seit dem Urteil Tum und Dari klar ist, dass der EuGH „die
Stillhalte-Klauseln in einem umfassenden Sinne auf alle einreise- und auf-
enthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen anwenden“ will, wie nicht zuletzt
der auch für die Bundesregierung tätige Prof. Dr. Dr. h. c. Kay Hailbronner
in einem Aufsatz in der „Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpoli-
tik“ feststellte (ZAR 10/2011, S. 322 ff.)?

13. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung in diesem Zusam-
menhang aus der in der Vorbemerkung der Fragestellerin zitierten Äußerung
der EuGH-Richterin Dr. Maria Berger, aus der ein gewisser Unmut der
Richterin über die unzureichende Umsetzung des Assoziationsrechts durch
einige Mitgliedstaaten erkennbar wird?

14. Wieso tauscht sich die Bundesregierung mit den Regierungen der Nieder-
lande und Dänemarks zwar zu allen möglichen Fragen des Europa-,
Unions- und Aufenthaltsrechts aus, nicht aber zu den assoziationsrecht-
lichen Verschlechterungsverboten und ihren Auswirkungen und sieht hier-
für auch keinen Anlass (vgl. Plenarprotokoll 17/138, S. 16445 (D)), ob-
wohl die beiden anderen Regierungen jedenfalls in Teilfragen (z. B.
Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug, Gebühren für Aufenthalts-
schlechterungsverbots von Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug
und im Inland abgesehen werden muss (vgl. DER STANDARD vom

Drucksache 17/9513 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

23. April 2012, „EU-Gericht hebelt Deutsch-Lernpflicht für Türken aus“),
obwohl die Bundesregierung auf Anfrage genau dies bestritten hatte (vgl.
die Antworten auf die Schriftlichen Fragen 15 auf Bundestagsdrucksache
17/9263 und 13 auf Bundestagsdrucksache 17/9307), und wird sich die
Bundesregierung mit der österreichischen Regierung darüber austauschen,
warum und aus welchen Gründen diese eine andere Rechtsauffassung und
Interpretation der Rechtsprechung des EuGH zu der Wirkungsweise der
Verschlechterungsverbote des Assoziationsrechts vertritt als die Bundes-
regierung, und wenn nein, warum nicht?

16. Welche politische Konsequenz zieht die Bundesregierung daraus, dass
Nachbarländer, auf die sie sich in der Vergangenheit zur Rechtfertigung der
deutschen Regelung der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug be-
zogen hatte, nunmehr von dieser Regelung infolge des Assoziationsrechts
wieder abweichen, jedenfalls bei türkischen Staatsangehörigen, d. h. der
Hauptbetroffenengruppe in Deutschland, und inwieweit hielte die Bundes-
regierung die Regelung noch für sinnvoll, wenn sie auf diese Hauptbetrof-
fenengruppe nicht mehr anwendbar wäre?

17. Wie tragfähig ist die Begründung der Bundesregierung, gesetzliche Rege-
lungen zur Sicherstellung einer bundeseinheitlichen Anwendung des Asso-
ziationsrechts seien nicht erforderlich bzw. schwierig, weil „Entwicklungen,
die das Assoziationsrecht durch die Rechtsprechung des EuGH erfährt […]
sich vermutlich nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung im deutschen
Recht nachvollziehen“ ließen (vgl. Bundestagsdrucksache 17/6970, zu den
Fragen 6 und 7), vor dem Hintergrund, dass auch entsprechende Anwen-
dungshinweise, wie die Praxis zeigt, nur mit erheblicher zeitlicher Verzöge-
rung erlassen werden und es überdies nicht unüblich ist, richterrechtlich ge-
prägte Rechtsmaterien oder auch Vorgaben z. B. des Bundesverfassungsge-
richts aus Gründen der Rechtsklarheit in Gesetzesform zu bringen, wobei
danach nur noch neuere Gerichtsurteile berücksichtigt werden müssen, was
ebenfalls übliche gesetzgeberische Tätigkeit ist?

18. Kann der (deklaratorische) Aufenthaltstitel über das Bestehen eines Auf-
enthaltsrechts nach dem Assoziationsabkommen nach § 4 Absatz 5 des
Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) zusätzlich zu einem anderen Aufenthalts-
titel erteilt werden?

Wenn ja,

a) zu welchen Aufenthaltstiteln ist dies möglich,

b) welche Gebühren werden nach welcher Rechtsgrundlage hierfür erho-
ben,

c) gibt es eine einheitliche Form der Erteilung dieses Titels, bzw. ist dies
durch einen entsprechenden Eintrag in einen elektronischen Aufenthalts-
titel nach einer anderen Rechtsgrundlage möglich,

d) hat im Falle der Ausstellung des Aufenthaltstitels bzw. der Feststellung
des Rechts nach § 4 Absatz 5 AufenthG dieser Akt auch feststellenden
Charakter, wie dies das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss
vom 25. Mai 2001 – 1 B 125/00 – im Falle der Aufenthaltserlaubnis-EG
hervorgehoben hat?

Wenn nein, inwieweit hält es die Bundesregierung für sinnvoll, die Betrof-
fenen bei der Beantragung eines Titels über die Vor- bzw. Nachteile der un-
terschiedlichen Aufenthaltstitel (§ 4 Absatz 5 AufenthG im Vergleich zu
anderen möglichen Aufenthaltstiteln) zu informieren?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/9513

19. Welche Vor- und Nachteile hat nach Ansicht der Bundesregierung der Titel
nach § 4 Absatz 5 AufenthG im Vergleich zu anderen möglichen Aufent-
haltstiteln?

20. Wie erklärt sich die Bundesregierung den Umstand, dass nur bei ca. 7 000
Personen ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsrecht festgestellt
wurde, obwohl nach § 4 Absatz 5 AufenthG Betroffene, denen nach dem
Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, ver-
pflichtet sind, dies durch den Besitz einer entsprechenden Aufenthaltser-
laubnis nachzuweisen, sofern sie weder eine Niederlassungserlaubnis noch
eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzen?

21. Wie sinnvoll bzw. zulässig ist es, Betroffenen aufzuerlegen, ihre Rechte ent-
sprechend einem internationalen Abkommen durch Antragstellung geltend
machen bzw. anzeigen zu müssen, obwohl diese Rechte aufgrund der unmit-
telbaren Anwendbarkeit des EWG/Türkei-Assoziationsabkommens hiervon
unabhängig bestehen und zugleich das Vorliegen solcher Rechte und damit
die Frage, ob ein solcher Antrag gestellt werden muss oder nicht, fundierte
Kenntnisse über eine sehr komplexe Rechtsmaterie erfordert, und müssten
deshalb nicht vielmehr die Behörden dazu verpflichtet werden zu prüfen, ob
sich ein Aufenthaltsrecht türkischer Staatsangehöriger aus dem Assozia-
tionsrecht ergibt (in den Verfahrenshinweisen der Ausländerbehörde VAB
A4 Nummer 4.5.0 heißt es z. B., dass „[t]ürkischen Staatsangehörigen, die
nach dem ARB 1/80 privilegiert sind und denen kein stärkeres Aufenthalts-
recht nach nationalem Recht zusteht, […] eine Aufenthaltserlaubnis auf der
Grundlage von § 4 Abs. 5 zu erteilen [ist]“, S. 41)?

22. Welche Folgen erwachsen daraus, wenn Betroffene ihrer Verpflichtung
nach § 4 Absatz 5 Satz 1 AufenthG nicht nachkommen, und wie sind etwa-
ige Sanktionen (z. B. ein Ordnungsgeld) mit den Verschlechterungsver-
boten des Assoziationsrechts vereinbar, da es bis 2005 keine entsprechende
Nachweispflicht und keine hieran anknüpfenden Sanktionen gab?

23. Welche Bedeutung und Folgen hat es, dass die Aufenthaltserlaubnis nach
§ 4 Absatz 5 AufenthG weder in § 78 noch in § 78a AufenthG aufgeführt
ist, und in welcher Form wird diese Aufenthaltserlaubnis erteilt?

24. Inwieweit und mit welcher Begründung teilt die Bundesregierung die Auf-
fassung (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 15. März 2011 – 3 K 1723/09 in: In-
formationsbrief Ausländerrecht 2011, S. 327 ff. und OVG Berlin-Branden-
burg, Urteil vom 11. Mai 2010 in: Informationsbrief Ausländerrecht 2010,
S. 372 und 416), dass die Ausstellung eines Aufenthaltstitels nach § 4
Absatz 5 AufenthG nicht von den Voraussetzungen des § 5 AufenthG ab-
hängt?

25. Inwieweit besteht nach Ansicht der Bundesregierung aufgrund der Rege-
lung des § 4 Absatz 5 Aufenthaltsgesetz (Erteilung des Titels nur auf An-
trag der Betroffenen, aber nicht verpflichtend bei Niederlassungserlaubnis
oder Daueraufenthalt-EG) die Gefahr, dass Behördenmitarbeiter/-innen
(nicht nur der Ausländerbehörden, sondern z. B. auch der Standesämter)
fälschlich davon ausgehen, dass die Rechte des Assoziationsrechts und ins-
besondere die Standstill-Klauseln nicht zur Anwendung kommen, wenn
kein entsprechender Aufenthaltstitel vorliegt (bitte begründen)?

26. Inwieweit hält die Bundesregierung die Aussage in Nummer 4.5.3 der Allge-
meinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (noch) für zutreffend
bzw. bezüglich welcher Rechte für unzutreffend, wonach eine Niederlas-
sungserlaubnis „eine grundsätzlich weitergehende Berechtigung vermittelt
als das Assoziationsrecht EWG/Türkei“, was etwa in Bezug auf Erlöschens-

vorschriften unzutreffend sein dürfte, und inwieweit hat die Bundesregierung

Drucksache 17/9513 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
die Bundesländer hierüber informiert, bzw. plant sie eine entsprechende Än-
derung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift?

27. In welchen Fallkonstellationen ist es von Vorteil, wenn eine Bestätigung des
Bestehens der Vergünstigungen aus dem Assoziationsrecht entsprechend
§ 4 Absatz 5 AufenthG vorliegt (z. B. beim Standesamt zur Klärung des Er-
werbs der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt in Deutschland bei
unbefristetem Aufenthaltsrecht)?

28. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil 8 K 1159/
10 des Verwaltungsgerichts (VG) Aachen, mit dem festgestellt wird, dass
die derzeitigen Gebühren für (elektronische) Aufenthaltstitel bei türkischen
Staatsangehörigen u. a. gegen das Verschlechterungsverbot nach Artikel 13
ARB 1/80 verstoßen, wobei das Gericht ganz im Sinne der Fragestellerin
und gegen die Argumentation der Bundesregierung entschied (vgl. Bundes-
tagsdrucksache 17/5884, zu den Fragen 4d, 4e und 9 bis 14)?

29. Wird die Bundesregierung nunmehr eine mit dem Verschlechterungs- und
Diskriminierungsverbot des ARB 1/80 vereinbare Gebührenregelung für
türkische Staatsangehörige schaffen, insbesondere um einen ansonsten nach
dem VG Aachen (vgl. o. g. Urteil, S. 25, 35) auch möglichen Totalausfall
der Gebühren mangels tragfähiger Rechtsgrundlage (mögliche Unanwend-
barkeit des § 45 Nummer 3 AufenthV wegen Verstoßes gegen die Artikel 10
und 13 ARB 1/80) zu vermeiden (bitte in Auseinandersetzung mit den Grün-
den des genannten Urteils darlegen)?

30. Hält die Bundesregierung die derzeit erhobenen Gebühren für eine Dauer-
aufenthaltserlaubnis-EG in Höhe von 135 Euro noch für europarechtskon-
form, nachdem der EuGH mit Urteil vom 26. April 2012 (C-508/10, vgl.
z. B. Rn. 77) festgestellt hat, dass eine Gebühr, die im Vergleich zu einem
inländischen Personalausweis etwa sieben Mal so hoch ist, ohne Zweifel
gegen die Daueraufenthaltsrichtlinie der EU verstößt, vor dem Hinter-
grund, dass auch die deutsche Gebühr fast fünf Mal so hoch ist wie die Ge-
bühr für einen Personalausweis (bitte begründen), und welche Konsequen-
zen wurden bislang aus dem Urteil gezogen?

31. Nachdem das Bundesverwaltungsgericht seine im Grundsatzurteil zu
Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug vom 30. März 2010 vertre-
tene Auffassung, die Regelung verstoße eindeutig nicht gegen die EG-Fami-
lienzusammenführungsrichtlinie, aufgrund einer Stellungnahme der Euro-
päischen Kommission in einem EuGH-Verfahren geändert hat, stimmt die
Bundesregierung der Feststellung zu, dass auch die Behauptung des Bun-
desverwaltungsgerichts im selben Urteil, wonach die Sprachanforderungen
beim Ehegattennachzug eindeutig mit dem Assoziationsrecht vereinbar
seien, nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, nachdem die Europäische Kom-
mission in dem EuGH-Verfahren C-256/11 die Auffassung vertreten hat,
dass zur Anwendbarkeit des Verschlechterungsverbots des Assoziations-
rechts bereits die Absichtsbekundung, von der Arbeitnehmerfreizügigkeit
Gebrauch machen zu wollen, genügt (vgl. Plenarprotokoll 17/129, S. 15192
(D) f., bitte nachvollziehbar begründen), und was folgt hieraus?

Berlin, den 27. April 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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