BT-Drucksache 17/9461

Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union - Partnerschaft statt interessengeleitete Bevormundung

Vom 26. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9461
17. Wahlperiode 26. 04. 2012

Antrag
der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken,
Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth,
Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat,
Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Katrin Werner
und der Fraktion DIE LINKE.

Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union – Partnerschaft statt
interessengeleitete Bevormundung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Jahrhundertelange koloniale Ausbeutung und die gegenwärtige neoliberale,
postkoloniale Weltwirtschaftsordnung sind ursächlich für die Entwicklungs-
unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU)
und den Ländern des Südens verantwortlich. Der um ein Vielfaches größere
Energie- und Rohstoffverbrauch in den EU-Staaten wie in den Industriestaa-
ten insgesamt, verbunden mit entsprechenden Emissionen, hat zu einer öko-
logischen Schuld des Nordens gegenüber dem Süden geführt.

2. Die Länder des Südens haben daher Anspruch auf Unterstützung, Zusam-
menarbeit, Transferleistungen bis hin zu Kompensation. Die EU und ihre
Mitgliedstaaten haben keinen selbstverständlichen Anspruch darauf, die
Verwendung finanzieller Unterstützung nach ihren Maßstäben zu kontrollie-
ren. Diese Unterstützung darf nicht für wirtschaftliche, sicherheitspolitische
und geostrategische Interessen der EU missbraucht werden.

3. Über Jahrzehnte wurden Entwicklungsstrategien, die in den Geberländern
erarbeitet worden waren, in den Ländern des Südens implementiert. Diese
Strategien haben vielfach Entwicklung verhindert, bestehende Ungleichge-
wichte verstärkt und dadurch zu wachsender Abhängigkeit beigetragen.
Budgethilfe kann hier einen Ausweg aufzeigen, insofern sie die eigenständi-
gen Entwicklungsstrategien der Partnerländer und den Aufbau der zu ihrer
Umsetzung notwendigen Strukturen unterstützt. Mit der Budgethilfe, also
mit direkten Transfers in die Staatshaushalte der Partnerländer, wird die
Eigenverantwortlichkeit der Regierungen gestärkt. Entscheidende Vergabe-
kriterien müssen die parlamentarische Kontrolle des Haushalts in den Part-
nerländern sowie die breite Beteiligung von Parlamenten und Zivilgesell-

schaften der Partnerländer an den politischen Debatten über die Verwendung
der Budgethilfemittel sein.

4. Die in den Vorschlägen der Kommission formulierte Anmaßung, die Part-
nerländer im Süden über gute Regierungsführung und makroökonomische
Stabilität belehren zu wollen bzw. die diesbezüglichen Vorstellungen der EU
zum Maßstab für die Entwicklungszusammenarbeit zu erheben, ist hingegen

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zurückzuweisen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Wirtschaftskrise
der EU, die durch die Liberalisierung der Finanzmärkte, durch Exportorien-
tierung, Lohndisziplin und Sparpolitik hervorgerufen wurde und immer wei-
ter vertieft wird, verbietet es sich umso mehr, dass die EU den Partnerlän-
dern im Süden diese gescheiterte Politik aufzwingen will. Die neoliberale
Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU ist kein Exportmodell.

5. Kennzeichen vieler Partnerländer im Süden sind ihre schwach ausgebaute
öffentliche Infrastruktur und die geringe Ausstattung, Leistungsfähigkeit
und Reichweite staatlicher Institutionen. Die Instrumente der EU-Entwick-
lungszusammenarbeit müssen darauf ausgerichtet sein, dass der Leistungs-
katalog der öffentlichen Daseinsvorsorge ausgeweitet und staatliche Kapazi-
täten der wirtschaftlichen und sozialen Steuerung erhöht werden. Die Be-
strebungen von EU-Mitgliedstaaten, privatwirtschaftliche Interessen beim
Ausbau öffentlicher Infrastruktur, im Gesundheitsbereich oder beim Aufbau
sozialer Sicherungssysteme stärker ins Spiel zu bringen, sind dringend zu-
rückzweisen.

6. Entwicklungspolitische Strategien haben nur dann eine Chance auf Erfolg,
wenn sie nicht durch wirtschaftliche oder rohstofforientierte Interessen der
Geber konterkariert werden. Entwicklungszusammenarbeit kann keine posi-
tive Wirkung entfalten solange auf anderen Politikfeldern entwicklungs-
feindliche Konzepte verfolgt werden. Hier sind in den letzten Jahren auf
europäischer Ebene mit der EU-Rohstoffinitiative, der Reform des Allge-
meinen Präferenzsystems, dem Abschluss des Freihandelsabkommens mit
Kolumbien und Peru und des Assoziierungsabkommens mit Zentralamerika
die falschen Signale gesetzt worden. Nach wie vor wird auch erheblicher
Druck auf die Staaten Afrikas ausgeübt, im Rahmen von Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen ihre Märkte für Importe aus der EU zu öffnen und weite
Bereiche ihrer Volkswirtschaften zu liberalisieren. Stattdessen wäre eine ent-
wicklungsförderliche Neuausrichtung der Handelspolitik der EU erforder-
lich.

II. Der Deutsche Bundestag nimmt die Vorschläge der EU-Kommission auf den
Ratsdokumenten 15560/11, 15561/11, 18429/11 und 18431/11 zur Kenntnis und
hält die darin beschriebene Neuaufstellung der EU-Entwicklungszusammen-
arbeit für nicht geeignet, gleichberechtigte und solidarische Beziehungen zu den
Ländern des globalen Südens herzustellen und diese in ihrer selbstbestimmten
Entwicklung zu unterstützen.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich in der EU für eine grundlegend veränderte Handelspolitik einzusetzen,
die die selbstständige wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Partner-
länder im Süden ermöglicht und fördert. Dazu gehören die Beteiligung von
Parlamenten und Zivilgesellschaft an der Ausgestaltung der Handelspolitik
und die Offenlegung statt Geheimhaltung von Forderungen und Angeboten
in Verhandlungsprozessen;

2. sich dafür einzusetzen, dass jedem afrikanischen Land die freie Entschei-
dung darüber ermöglicht wird, ob bzw. wann es ein Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen mit der EU unterzeichnet und ratifiziert und dass von
Sanktionen in jeglicher Form abgesehen wird;

3. sich dafür einzusetzen, dass die wirtschafts- und sozialpolitische Steue-
rungsfähigkeit der Partnerländer nicht durch Handels- und Investitionsab-
kommen mit der EU untergraben, sondern im Rahmen der EU-Entwick-

lungszusammenarbeit gestärkt wird;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9461

4. auszuschließen, dass die Entwicklungszusammenarbeit als Instrument der
Markterschließung für europäische Konzerne missbraucht wird und dass
im Rahmen der EU-Entwicklungszusammenarbeit Bereiche der öffent-
lichen Daseinsvorsorge liberalisiert bzw. privatisiert werden;

5. sich gegen die weitere unilaterale Formulierung von Konditionen für die
Entwicklungszusammenarbeit der EU und gegen die Festlegung von Min-
destkriterien als Voraussetzung für die Zusammenarbeit und für die bilate-
rale Verständigung über Ziele der Zusammenarbeit auszusprechen, von
dem unilateralen Konzept der „Guten Regierungsführung“ abzurücken und
stattdessen für eine Herangehensweise zu plädieren, die gegenseitige Ver-
pflichtungen und wechselseitiges Voneinanderlernen anstrebt;

6. sich dafür einzusetzen, dass die Budgethilfe der EU weiter ausgebaut und
gezielt dafür eingesetzt wird, die Partnerländer beim Auf- und Ausbau
eines demokratischen öffentlichen Sektors der Daseinsvorsorge zu unter-
stützen und die Haushaltshoheit der Parlamente in den Partnerländern zu
stärken und dass dabei auf wirtschaftspolitische Einflussnahme im Rahmen
des Politikdialogs und durch ordnungspolitische Förderkriterien verzichtet
wird;

7. sich dafür einzusetzen, dass bereits im 11. Europäischen Entwicklungs-
fonds (EEF) die Finanzierung der Afrikanischen Friedensfazilität ausge-
schlossen und stattdessen ein deutlicher Schwerpunkt des EEF auf den
Ausbau der Instrumente ziviler Krisenprävention gelegt wird;

8. weiter für die Eingliederung des EEF in den EU-Haushalt einzutreten und
dabei sicherzustellen, dass die finanzielle Ausstattung der entwicklungs-
politischen Instrumente der EU insgesamt mindestens im von der Kommis-
sion vorgeschlagenen Rahmen erhöht wird;

9. sich für die Stärkung der Mitwirkungsrechte der Paritätischen Parlamen-
tarischen Versammlung aus Parlamentariern der AKP-Staaten (Staaten
Afrikas, der Karibik und des Pazifiks) und Mitgliedern des Europäischen
Parlaments an der Programmierung und Umsetzung des EEF einzusetzen;

10. die Beteiligung des Europäischen Auswärtigen Dienstes an der Program-
mierung des EEF zurückzuweisen.

Berlin, den 26. April 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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