BT-Drucksache 17/9384

Faschistische und ultranationalistische Aktivitäten in den baltischen Ländern

Vom 24. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9384
17. Wahlperiode 24. 04. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Heidrun Dittrich, Annette Groth,
Inge Höger, Petra Pau, Kathrin Senger-Schäfer, Alexander Ulrich, Katrin Werner
und der Fraktion DIE LINKE.

Faschistische und ultranationalistische Aktivitäten in den baltischen Ländern

Seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion gehen in den baltischen Staaten
ultranationalistische Bestrebungen einher mit Sympathiebekundungen bzw. Re-
habilitierungen faschistischer Kollaborateure und einer Relativierung des Holo-
caust. Deutliches Zeichen hierfür sind etwa Aufmärsche von (Neo)Nazis: Zum
litauischen Unabhängigkeitstag marschieren jährlich im Zentrum von Vilnius
mehrere Hundert Neonazis auf, in Riga findet ebenfalls im März ein Gedenk-
marsch zu Ehren der lettischen Waffen-SS statt, an dem sich dieses Jahr rund
1 500 Menschen beteiligt haben. Nach Angaben der Wissenschaftlerin Monica
Lowenberg sind drei Viertel der Teilnehmer jünger als 30 Jahre. An beiden Auf-
märschen werden Hakenkreuze mitgeführt, die faktisch legalisiert worden sind.
Beide Aufmärsche finden die Unterstützung durch hochrangige Politiker. Der
lettische Präsident etwa forderte öffentlich, man möge sein Haupt neigen, weil
die SS-Kämpfer „für ihr Vaterland“ gefallen seien (zit. nach RIA Novosti,
28. Februar 2012). Auch in Estland finden Veranstaltungen von SS-Veteranen
die Unterstützung der offiziellen Politik. Der derzeitige Verteidigungsminister
Mart Laar sowie der Premierminister entsenden Grußworte, Mart Laar ist zudem
Herausgeber eines glorifizierenden Bandes über die „Estnische Legion in Wort
und Bild“. Das Verteidigungsministerium kündigte an, noch in diesem Frühjahr
einen Gesetzentwurf über die Anerkennung als Widerstandskämpfer vorzulegen,
von dem Kritiker fürchten, er sehe die Rehabilitierung von SS-Angehörigen vor.
Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz hat sowohl in
Hinblick auf Lettland als auch Litauen das Verhalten der Behörden gegenüber
solchen (neo)faschistischen Bestrebungen kritisiert.

An Protesten gegen die Naziaufmärsche beteiligen sich nur wenige Menschen.
Für internationale Aufmerksamkeit sorgte ein Vorfall in Riga: Eine Delegation
von Nazigegnern, der unter anderem eine lettische Abgeordnete des Europa-
parlaments und der Sprecher der Vereinigung „Lettland ohne Nazismus“ ange-
hörten, legte einen Kranz zu Ehren der Naziopfer am Rigaer Freiheits-Denkmal
ab. Dieser Kranz wurde von einem Naziaktivisten durch ein Wappen der SS-Di-
vision verdeckt. Als die Nazigegner sich daran machten, ihren Kranz zu Ehren

der Naziopfer wieder sichtbar zu machen, wurden sie von der Polizei abgedrängt
(http://stopnazism.wordpress.com/).

Antisemitische Ausfälle und die Relativierung der Naziverbrechen in der
Presse, aber auch durch höchste Regierungskreise, sind in der Region keine
Ausnahmen. Der litauische Außenminister Audronius Az ¬ubalis äußerte Mitte
Januar 2012, es gebe zwischen Hitler und Stalin keinen Unterschied, „außer
was ihren Schnurrbart angeht“ (lrutas, 20. Januar 2012).

Drucksache 17/9384 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die Jüdische Gemeinde in Litauen ist zudem besorgt über die Rehabilitierung
vermeintlicher „Freiheitskämpfer“ des Jahres 1941, gemeint sind damit vor-
nehmlich Aktivisten der Litauischen Aktivistenfront, die unmittelbar vor dem
Eintreffen der deutschen Truppen antisemitische Pogrome durchführten.

Vor allem Russland kritisiert die beschriebene Politik der baltischen Regierung
scharf. Aber auch westliche Botschaften haben in der Vergangenheit ihre Ab-
lehnung der geschichtsrevisionistischen Tendenzen zum Ausdruck gebracht,
überwiegend durch symbolische Gesten. Dazu gehört die Ehrung früherer jüdi-
scher Partisaninnen und Partisanen. So erhielt die in Litauen von Presse und
Justiz diffamierte Fania Brancovsky das Bundesverdienstkreuz.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie schätzt die Bundesregierung das Phänomen ultranationalistischer, anti-
semitischer und teilweise profaschistischer Aktivitäten in den genannten
Ländern ein (hinsichtlich Organisationsgrad, Umfang, Verbreitungsgrad, ge-
sellschaftlicher Akzeptanz)?

2. Wie schätzt die Bundesregierung das Verhalten der dortigen Behörden ge-
genüber diesem Phänomen ein, und wie bewertet sie insbesondere die zitier-
ten positiven Stellungnahmen von Regierungsangehörigen zu den baltischen
SS-Einheiten?

3. Welche konkreten Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Tenden-
zen zur Rehabilitierung von Kräften, die ab 1941 mit der deutschen Besat-
zungsmacht kollaboriert haben und z. T. mit der Umsetzung eigener antise-
mitischer Programme bis hin zu Pogromen begannen, und inwiefern ver-
deutlicht sie ihre Meinung dazu den Regierungen der baltischen Staaten?

4. Wie ist aus Kenntnis der Bundesregierung der Stand hinsichtlich des vom est-
nischen Verteidigungsministerium angekündigten Gesetzentwurfs zur Aner-
kennung von Widerstandskämpfern?

a) Inwieweit kann ausgeschlossen werden (oder muss angenommen wer-
den), dass hierunter auch Angehörige der estnischen SS-Division fallen?

b) Inwieweit steht die Bundesregierung hierüber mit der estnischen Regie-
rung im Gespräch?

5. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Kontakte deutscher
Rechtsextremisten in die baltischen Staaten?

a) Welche gemeinsamen Veranstaltungen bzw. Teilnahmen deutscher
Rechtsextremisten an Veranstaltungen baltischer Faschisten sind der
Bundesregierung in den letzten Jahren bekannt geworden, und wie
schätzt sie die Bedeutung des Baltikums für die deutsche Rechtsextremis-
tenszene ein?

b) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Finanzierung von
Organisationen baltischer Ultranationalisten aus staatlicher und nicht-
staatlicher Quelle?

6. Welche litauischen Politiker (bitte möglichst mit kurzer Angabe zu Partei- und
evtl. Regierungszugehörigkeit) haben nach Kenntnis der Bundesregierung in
der Vergangenheit sowie in diesem Jahr den Neonaziaufmarsch im März in
Vilnius sowie den Aufmarsch der Nationalistischen Jugend am 16. Februar
2012 in Kaunas begrüßt sowie selbst daran teilgenommen?

Wie bewertet die Bundesregierung dies, und inwiefern hat sie dies der litau-
ischen Regierung mitgeteilt?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9384

7. Welche lettischen Politiker (bitte möglichst mit kurzer Angabe zu Partei-
und evtl. Regierungszugehörigkeit) haben nach Kenntnis der Bundesregie-
rung in der Vergangenheit sowie in diesem Jahr den Neonaziaufmarsch im
März in Riga begrüßt sowie selbst daran teilgenommen?

Wie bewertet die Bundesregierung dies, und inwiefern hat sie dies der
lettischen Regierung mitgeteilt?

8. Welche estnischen Politiker (bitte möglichst mit kurzer Angabe zu Partei-
und evtl. Regierungszugehörigkeit) haben nach Kenntnis der Bundesregie-
rung in der Vergangenheit an Veranstaltungen zu Ehren der Waffen-SS teil-
genommen bzw. diese Veranstaltungen begrüßt?

Wie bewertet die Bundesregierung dies, und inwiefern hat sie dies der
estnischen Regierung mitgeteilt?

9. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu Fortgang und Stand der
politisch motivierten Strafverfahren gegen frühere jüdische Partisaninnen
und Partisanen durch die litauische Staatsanwaltschaft (vgl. Bundestags-
drucksache 16/10452), und welche weiteren Initiativen hat die Bundes-
regierung hierzu unternommen?

10. Welche Position nehmen die deutschen Botschaften in den baltischen Staa-
ten ein, und inwiefern versuchen diese, die Ablehnung der beschriebenen
Phänomene zu verdeutlichen und Nazigegner sowie von rassistischer Ge-
walt Betroffene zu unterstützen?

a) Inwiefern drückt sich dies in konkreten Veranstaltungen aus (bitte ggf.
derzeit von den Botschaften geplante bzw. geförderte Veranstaltungen
auflisten)?

b) Inwiefern wird dabei auch die Rolle von Kollaborateuren wie etwa der
LAF sowie der „Provisorischen Regierung“ Litauens vom Sommer
1941 thematisiert?

11. Gab es in den letzten Jahren Einladungen an die deutschen Botschafter in
den baltischen Staaten zur Teilnahme an den neofaschistischen Auf-
märschen, und wenn ja, wie haben die Botschafter darauf reagiert, und in-
wiefern sind diese Reaktionen veröffentlicht worden?

12. Hat sich der deutsche Botschafter gemeinsam mit seinen Kollegen aus
Großbritannien, Estland, Frankreich, Finnland, den Niederlanden, Nor-
wegen und Schweden dem Brief des polnischen Botschafters in Litauen
vom November 2010 angeschlossen, mit dem die öffentliche Infragestel-
lung des Holocaust als historischer Fakt durch den damaligen Beamten im
litauischen Innenministerium P. S. scharf kritisiert wurde (vgl. Baltic News
Service, 26. November 2010), und wenn nein, warum nicht, und welche
anderen Initiativen in dieser Angelegenheit hat der deutsche Botschafter
unternommen?

13. Hat der deutsche Botschafter in Vilnius anlässlich des diesjährigen Neo-
naziaufmarsches am 11. März 2012 eine Stellungnahme abgegeben (bitte
ggf. Wortlaut mitteilen) oder sich an einer Protestkundgebung von Demo-
kraten beteiligt?

14. Inwiefern stehen die deutschen Botschaften in den baltischen Staaten mit
den Botschaften anderer Staaten in Kontakt, um Zeichen gegen die ultra-
nationalistische Politik abzustimmen?

15. Was hat die Bundesregierung in der Vergangenheit unternommen, um ge-
genüber den Regierungen Estlands, Lettlands und Litauens die Position der
Bundesregierung zu vertreten (bitte möglichst detailliert beantworten), und

was will sie weiterhin unternehmen?

Drucksache 17/9384 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
16. Inwiefern wird die Problematik im Rahmen der Europäischen Kommission
erörtert?

Berlin, den 24. April 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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