BT-Drucksache 17/9382

Humanitäre und menschenrechtliche Bewertung der Haftbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland

Vom 24. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9382
17. Wahlperiode 24. 04. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katrin Werner, Paul Schäfer (Köln), Sevim Dag˘delen, Annette
Groth, Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Harald Koch, Niema Movassat, Jens Petermann,
Frank Tempel, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Humanitäre und menschenrechtliche Bewertung der Haftbedingungen in der
Bundesrepublik Deutschland

In ihrem kürzlich vorgelegten Jahresbericht 2010/2011 hat die Nationale Stelle
zur Verhütung von Folter (Bundestagsdrucksache 17/9377) gravierende Miss-
stände in zahlreichen Gewahrsamseinrichtungen der Bundespolizei, der Bundes-
wehr, des Zolls, in Haftanstalten der Bundesländer sowie in psychiatrischen Ein-
richtungen beklagt. Auch wenn laut Bericht im Untersuchungszeitraum erfreu-
licherweise keine Hinweise auf Vorkommnisse von Folter vorlagen, ergäben sich
aus bestimmten Missständen zum Teil gravierende Verletzungen der Menschen-
würde. Kritisiert werden vor allem die Überbelegung von Haftzellen mit Gefan-
genen, die Unterversorgung von medizinischem, pflegerischem und Verwaltungs-
personal, die zum Teil katastrophalen hygienischen und sanitären Haftbedingun-
gen, der fehlende Schutz der Intimsphäre und die Defizite bei der Gewalt- und
Suizidprävention.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie beurteilt die Bundesregierung den aktuellen Jahresbericht der Nationalen
Stelle zur Verhütung von Folter insgesamt, und welche Bundesministerien
sind gegenwärtig mit seiner Auswertung befasst?

2. Wie positioniert sich die Bundesregierung zur Aussage des Berichts, wonach
die eng begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen der Nationalen
Stelle zur Verhütung von Folter es nicht zuließen, den ihr durch das Fakulta-
tivprotokoll zur UN-Antifolterkonvention zugewiesenen Aufgaben im ge-
setzlich bestimmten Umfang nachzukommen, und welche politischen
Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus für die Aussagekraft
des aktuellen Jahresberichts und für künftige Anforderungen bei der Einhal-
tung der völkerrechtlichen Staatenpflichten Deutschlands zur Umsetzung des
am 3. Januar 2009 in Kraft getretenen Fakultativprotokolls?

3. Inwieweit gedenkt die Bundesregierung die von der nationalen Antifolter-
stelle konkret unterbreiteten Vorschläge aufzugreifen, wonach auch Personal

mit medizinischem und psychiatrischem Sachverstand benötigt werde und
für die Erfüllung der gesetzlich bestimmten Arbeitsaufgaben mindestens 16
ehrenamtliche Mitarbeiter/-innen in den Länderkommissionen sowie eine
deutliche Aufstockung der Geschäftsstelle in Wiesbaden erforderlich seien?

Drucksache 17/9382 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

4. Inwieweit und in welchem Zeitraum gedenkt die Bundesregierung die
Empfehlungen des Jahresberichts aufzugreifen, um innerhalb ihres Verant-
wortungsbereichs dafür Sorge zu tragen, dass künftig die Doppelbelegung
von Einzelzellen in der Untersuchungshaft und im Strafvollzug reduziert
bzw. möglichst vermieden wird und bei Mehrfachbelegungen zumindest
ein baulich vollständig abgetrennter Toilettenbereich gewährleistet ist?

5. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung des Berichts, dass im
Fall einer Videoüberwachung des Toilettenbereichs von besonders gesicher-
ten Hafträumen die Intimsphäre der untergebrachten Personen in besonderer
Weise verletzt wird und dieser Zellenbereich daher auf Überwachungs-
monitoren generell grob verpixelt dargestellt werden bzw. im Fall einer
besonderen Gefährdungslage (Suizidgefahr) alternativ eine Sitzwache statt-
finden müsse, und welche Konsequenzen zieht sie daraus für die in ihrem
Verantwortungsbereich befindlichen Gewahrsamseinrichtungen?

6. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung des Berichts, wonach
durch nicht vorhandene Trennwände in Gemeinschaftsduschräumen in
Haftanstalten die Intimsphäre der betroffenen Personen nicht ausreichend
geschützt ist, und welche Maßnahmen gedenkt sie für die in ihrem Verant-
wortungsbereich liegenden Gewahrsamseinrichtungen zu veranlassen, da-
mit sich die Situation verbessert?

7. Wie erklärt sich die Bundesregierung die im aktuellen Bericht erwähnten,
zum Teil ekelerregenden hygienischen und sanitären Haftunterbringungs-
bedingungen in verschiedenen Gewahrsamseinrichtungen, und über welche
Interventionsmöglichkeiten verfügt die Bundesregierung innerhalb ihres
Verantwortungsbereichs, um gesundheitsgefährdende Bedingungen festzu-
stellen bzw. deren Beseitigung zu veranlassen?

8. Wie viele der im Strafvollzug befindlichen Personen leiden nach Kenntnis
der Bundesregierung derzeit an einer HIV/AIDS-Erkrankung, an Hepatitis
B und/oder einer anderen sexuell übertragbaren, meldepflichtigen Infek-
tionskrankheit, und wie beurteilt die Bundesregierung den Zugang von
erkrankten Häftlingen zu einer angemessenen therapeutischen Behandlung
und medikamentösen Versorgung?

9. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung seit 2005 die Zahl der im
Strafvollzug befindlichen Drogenabhängigen entwickelt, und welche medi-
zinischen und therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten stehen inhaftier-
ten Drogensüchtigen üblicherweise zur Verfügung (bitte nach Jahren auf-
listen)?

10. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung seit 2005 die Rückfall-
quote von drogenabhängigen Häftlingen im Strafvollzug entwickelt (bitte
nach Jahren auflisten)?

11. Existieren eigene Datenbanken des Bundes bzw. Datenbanken der Bundes-
länder, auf die der Bund ggf. zugreifen kann, in denen Fälle von körper-
licher, sexueller und psychologischer Gewaltausübung innerhalb des Straf-
vollzugs erfasst und dokumentiert werden, und falls ja, wie ist hierbei der
Schutz von personenbezogenen Angaben der betroffenen Opfer geregelt?

12. In welcher Weise werden körperliche, sexuelle und psychologische Gewalt-
ausübung in anderen Gewahrsamseinrichtungen, wie beispielsweise in ge-
schlossenen Abteilungen von psychiatrischen Kliniken, dokumentiert, und
welche staatlichen Behörden und Einrichtungen können ggf. auf diesbezüg-
liche Datenbanken zugreifen und diese auswerten?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9382

13. Wie haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung seit 2005 die Fallzah-
len von körperlichen und seelischen Misshandlungen von Personen im
Strafvollzug entwickelt, und wie viele der seither dokumentierten Todes-
fälle sind auf Gewaltausübung durch andere Mithäftlinge zurückzuführen
(bitte nach Jahren und jeweiligen Zuständigkeitsbehörden auflisten)?

14. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Zahl der sexuellen
Gewaltvorfälle unter männlichen Gefangenen im Strafvollzug seit 2005
entwickelt (bitte nach Jahren und jeweiligen Zuständigkeitsbehörden auf-
listen)?

15. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Zahl der sexuellen
Gewaltvorfälle unter weiblichen Gefangenen im Strafvollzug seit 2005 ent-
wickelt (bitte nach Jahren und jeweiligen Zuständigkeitsbehörden auflis-
ten)?

16. Wie haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Fallzahlen der vom
Strafvollzugspersonal ausgeübten sexuellen Gewalt gegen inhaftierte Per-
sonen seit 2005 entwickelt (bitte nach Jahren und jeweiligen Zuständig-
keitsbehörden auflisten)?

17. Wie haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Fallzahlen der vom
Strafvollzugspersonal ausgeübten körperlichen und seelischen Misshand-
lungen gegen inhaftierte Personen seit 2005 entwickelt (bitte nach Jahren
und jeweiligen Zuständigkeitsbehörden auflisten)?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung die Wirksamkeit der Gewaltpräven-
tionsarbeit im Strafvollzug, und welche konkreten Maßnahmen kommen
hierbei üblicherweise zur Anwendung?

19. Wie viele vollzogene oder versuchte Suizide wurden nach Kenntnis der
Bundesregierung seit 2005 im Strafvollzug begangen (bitte nach Jahren
und jeweiligen Zuständigkeitsbehörden auflisten)?

20. Wie beurteilt die Bundesregierung die Wirksamkeit der Suizidpräventions-
arbeit im Strafvollzug, und welche konkreten Maßnahmen kommen dabei
üblicherweise zur Anwendung?

21. Wie beurteilt die Bundesregierung den Ausstattungsgrad von Haftanstalten
mit suizidverhindernder Kleidung?

22. Inwieweit stehen nach Kenntnis der Bundesregierung für das Strafvoll-
zugspersonal menschenrechts- und gewaltpräventionsbezogene Schulungs-
und Trainingsmaßnahmen zur Verfügung, und in welchem Umfang können
hierbei auch Teilnahmeverpflichtungen angeordnet werden?

23. Wie viele Gewahrsamseinrichtungen liegen im Zuständigkeitsbereich des
Bundesministeriums der Verteidigung?

24. Wie viele Personen wurden seit 2005 in Gewahrsamseinrichtungen der
Bundeswehr festgehalten (bitte nach Jahren auflisten)?

25. Wie viele Personen sind für die Leitung, Koordination und Aufsicht in den
Gewahrsamseinrichtungen im Verantwortungsbereich des Bundesministe-
riums der Verteidigung zuständig?

26. Über welche Qualifikation und Mindestausbildung verfügt das in Vollzugs-
einrichtungen der Bundeswehr eingesetzte Bundeswehrpersonal?

27. Welches Fortbildungs- und Schulungsangebot existiert für das in Vollzugs-
einrichtungen der Bundeswehr eingesetzte Bundeswehrpersonal, und wie
häufig wurde dies seit 2005 tatsächlich in Anspruch genommen (bitte nach
Jahren auflisten)?

Drucksache 17/9382 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
28. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Zahl von Gewalt-
delikten in Vollzugseinrichtungen der Bundeswehr seit 2005 entwickelt
(bitte nach Jahren und Art des Gewaltdelikts auflisten)?

29. Welche Konsequenzen wurden aus den bekannt gewordenen Missbrauchs-
skandalen bei der Bundeswehr in Coesfeld u. a. für den Bereich der Men-
schenrechtsbildung und des Menschenrechtstrainings in der Bundeswehr
gezogen, und wie bilanziert die Bundesregierung den bisherigen Erfolg der
durchgeführten Maßnahmen?

30. Welche Möglichkeiten stehen den im Strafvollzug oder in Vollzugseinrich-
tungen der Bundeswehr befindlichen Personen zur Verfügung, sich im Fall
von drohenden oder erlittenen Misshandlungen durch Gefängniswärter
oder Anstaltspersonal dritten Personen anzuvertrauen, und wodurch ist
hierbei aus Sicht der Bundesregierung ein ausreichender Vertrauensschutz
gewährleistet?

31. Welche Bedeutung misst die Bundesregierung Maßnahmen der Sozial-
therapie zur Verhinderung und Verringerung von Rückfällen bei Straftaten
bei, und inwieweit ist hierbei in der Praxis nach Einschätzung der Bundes-
regierung der Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen den Geschlechtern
gewährleistet?

32. In welchem Umfang werden nach Kenntnis der Bundesregierung den Insas-
sen von Hafteinrichtungen auch Ausbildungsmöglichkeiten in nicht frauen-
spezifischen Berufen angeboten, und welche Schlussfolgerungen zieht sie
hieraus?

Berlin, den 24. April 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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