BT-Drucksache 17/9209

Einstufung der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen durch bekannte Neonazis als "unpolitische" Straftat

Vom 28. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9209
17. Wahlperiode 28. 03. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jens Petermann, Raju Sharma, Dr. Petra Sitte,
Kathrin Vogler, Frank Tempel, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich und der
Fraktion DIE LINKE.

Einstufung der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger
Organisationen durch bekannte Neonazis als „unpolitische“ Straftat

In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundes-
tagsdrucksache 17/8997 hat die Bundesregierung eine Übersicht über unvoll-
streckte Haftbefehle gegen Neonazis erstellt. Dabei teilt sie mit, zum Stichtag
4. Januar 2012 seien Haftbefehle gegen 160 Personen offen gewesen, die ent-
weder in Polizeidateien als politisch rechts motivierte Straftäter bzw. als „Ge-
walttäter rechts“ aufgeführt sind oder bei denen dem Haftbefehl eine politisch
rechts motivierte Straftat zugrunde liegt.

Zugleich teilt die Bundesregierung mit, bei 50 dieser 160 Personen liege dem
Haftbefehl eine politisch rechts motivierte Straftat zugrunde (Antwort zu den Fra-
gen 1 und 2 auf Bundestagsdrucksache 17/8997).

Nun ist den Fragestellern klar, dass nicht jede Straftat eines Nazis eine politisch
motivierte Straftat ist.

Die detaillierte Auflistung dieser 160 Haftbefehle lässt allerdings erhebliche
Zweifel daran aufkommen, dass die Kategorisierung einer Straftat als politisch
rechts motiviert oder unpolitisch („sonstige Kriminalität“) mit der gebotenen
Sorgfalt erfolgt. Vielmehr drängt sich den Fragestellern der Eindruck auf, dass
die Sicherheitsbehörden selbst bei Straftaten von polizeibekannten Nazis dazu
tendieren, den neofaschistischen Charakter der Taten zu ignorieren und das Pro-
blem des Neofaschismus weiter zu verharmlosen. Gerade nach der Aufdeckung
der Mordserie durch die „NSU-Bande“ ist ein solches Verhalten skandalös.

Die Fragesteller beziehen sich insbesondere auf elf Fälle von Volksverhetzung
bzw. des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen,
die in der Auflistung der Bundesregierung unter „sonstige Kriminalität“ ver-
bucht werden. In einem Fall wird der Tathergang wie folgt dargestellt: „Die ge-
suchte Person griff eine andere Person (türk. Herkunft) mit beiden Händen am
Hals und würgte sie. Nach der Befreiung des Zeugen beleidigte die gesuchte
Person diesen mit ,So was wie Ihr gehört vergast!‘“. In einem anderen Fall ging
es um „gefährliche Körperverletzung mittels Luftpistole/Verwenden von Kenn-
zeichen verfassungswidriger Organisationen, Hitlergruß.“ Beide Straftaten wer-

den nicht als politisch motiviert eingestuft.

Aus der Sicht der Fragesteller ist es hanebüchen, einem bekannten Nazi (bei
sämtlichen Personen in dieser Auflistung handelt es sich ja um solche), wenn er
den Hitlergruß zeigt und/oder Personen mit Migrationshintergrund „vergasen“
will, zugute zu halten, es liege bei ihm keine politische Motivation für diese Tat
vor. Eine solche verharmlosende Einschätzung trägt dazu bei, die Statistik

Drucksache 17/9209 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

rechtsextremer Straftaten zu beschönigen. Durch eine solche Zählweise erklärt
sich leicht, warum offiziell immer noch von nur 58 ermordeten Nazi-Opfern die
Rede ist, während die korrekte Zahl nach Recherchen der Zeitungen „DER
TAGESSPIEGEL“ und „DIE ZEIT“ um 100 Tote höher liegt. Die Antwort der
Bundesregierung gibt Anlass zur Befürchtung, dass die tatsächliche Anzahl
polizeilich bekannter, aber nicht als politisch motiviert eingeschätzter Straftaten
weit höher ist als offiziell zugegeben wird.

Die Fragesteller erbitten daher genauere Erläuterungen über die konkreten Um-
stände dieser Delikte, soweit diese ohne Nachteil für die Ermittlungen und unter
Schutz der Privatsphäre der Opfer der faschistischen Übergriffe erfolgen kön-
nen. Die Fragesteller gehen davon aus, dass die Beantwortung dieser Kleinen
Anfrage bei der Hinzuziehung des Gemeinsamen Abwehrzentrums gegen Rechts-
extremismus (GAR) binnen der üblichen Fristen erfolgen kann.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Was kann die Bundesregierung zu den Umständen des unter der laufenden
Nummer 28 zu den Fragen 1 und 2 in der genannten Antwort auf die Kleine
Anfrage angeführten Deliktes der Volksverhetzung erläutern (etwa konkreter
Ausdruck der Volksverhetzung, Wortlaut der Äußerungen des Beschuldigten,
wem gegenüber wurde die Äußerung gemacht, konkrete Umstände der Tat
usw.), und ist der Beschuldigte im polizeilichen Informationssystem oder in
der Datei Gewalttäter rechts als Rechtsextremist erfasst?

2. Was kann die Bundesregierung zu den Umständen des unter der laufenden
Nummer 33 in der genannten Antwort auf die Kleine Anfrage angeführten
Deliktes der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisa-
tionen erläutern (um welches Kennzeichen handelte es sich, in welcher Form,
an welchem Ort, unter welchen Umständen wurde es verwendet usw.), und
ist der Beschuldigte im polizeilichen Informationssystem oder in der Datei
Gewalttäter rechts als Rechtsextremist erfasst?

3. Was kann die Bundesregierung zu den Umständen des unter der laufenden
Nummer 46 angeführten Deliktes der Volksverhetzung in Tateinheit mit Ver-
wenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen erläutern
(bitte nach dem Muster der vorangestellten Fragen beantworten), und ist der
Beschuldigte im polizeilichen Informationssystem oder in der Datei Gewalt-
täter rechts als Rechtsextremist erfasst?

4. Was kann die Bundesregierung zu den Umständen des unter der laufenden
Nummer 59 angeführten Deliktes der Körperverletzung erläutern, bei dem
der Beschuldigte eine Person türkischer Herkunft gewürgt und sie mit den
Worten „So was wie Ihr gehört vergast!“ beleidigt hat (bitte nach dem Muster
der vorangestellten Fragen beantworten), und ist der Beschuldigte im polizei-
lichen Informationssystem oder in der Datei Gewalttäter rechts als Rechts-
extremist erfasst?

5. Was kann die Bundesregierung zu den Umständen des unter der laufenden
Nummer 70 in der genannten Antwort auf die Kleine Anfrage angeführten
Deliktes der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisa-
tionen erläutern (bitte nach dem Muster der vorangestellten Fragen beantwor-
ten), und ist der Beschuldigte im polizeilichen Informationssystem oder in
der Datei Gewalttäter rechts als Rechtsextremist erfasst?

6. Was kann die Bundesregierung zu den Umständen des unter der laufenden
Nummer 77 in der genannten Antwort auf die Kleine Anfrage angeführten
Deliktes der Volksverhetzung erläutern (bitte nach dem Muster der vorange-
stellten Fragen beantworten), und ist der Beschuldigte im polizeilichen Infor-

mationssystem oder in der Datei Gewalttäter rechts als Rechtsextremist er-
fasst?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9209

7. Was kann die Bundesregierung zu den Umständen des unter der laufenden
Nummer 94 in der genannten Antwort auf die Kleine Anfrage angeführten
Deliktes der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisa-
tionen erläutern (bitte nach dem Muster der vorangestellten Fragen beant-
worten), und ist der Beschuldigte im polizeilichen Informationssystem oder
in der Datei Gewalttäter rechts als Rechtsextremist erfasst?

8. Was kann die Bundesregierung zu den Umständen des unter der laufenden
Nummer 95 in der genannten Antwort auf die Kleine Anfrage angeführten
Deliktes der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisa-
tionen erläutern (bitte nach dem Muster der vorangestellten Fragen beant-
worten), und ist der Beschuldigte im polizeilichen Informationssystem oder
in der Datei Gewalttäter rechts als Rechtsextremist erfasst?

9. Was kann die Bundesregierung zu den Umständen des unter der laufenden
Nummer 99 in der genannten Antwort auf die Kleine Anfrage angeführten
Deliktes der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisa-
tionen erläutern (bitte nach dem Muster der vorangestellten Fragen beant-
worten), und ist der Beschuldigte im polizeilichen Informationssystem oder
in der Datei Gewalttäter rechts als Rechtsextremist erfasst?

10. Was kann die Bundesregierung zu den Umständen des unter der laufenden
Nummer 134 in der genannten Antwort auf die Kleine Anfrage angeführten
Deliktes der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisa-
tionen erläutern (bitte nach dem Muster der vorangestellten Fragen beant-
worten), und ist der Beschuldigte im polizeilichen Informationssystem oder
in der Datei Gewalttäter rechts als Rechtsextremist erfasst?

11. Was kann die Bundesregierung zu den Umständen des unter der laufenden
Nummer 137 in der genannten Antwort auf die Kleine Anfrage angeführten
Deliktes der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisa-
tionen (hier konkret genannt: Hitlergruß) erläutern (bitte nach dem Muster
der vorangestellten Fragen beantworten), und ist der Beschuldigte im poli-
zeilichen Informationssystem oder in der Datei Gewalttäter rechts als
Rechtsextremist erfasst?

12. Inwiefern hält die Bundesregierung die Einstufungen dieser Delikte als
nicht politisch motiviert für korrekt?

13. Inwiefern wurden zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage
auf Bundestagsdrucksache 17/8997 auch ein Abgleich mit der Datei „Innere
Sicherheit“ vorgenommen (bitte begründen, falls ein solcher nicht erfolgt
ist)?

14. Inwiefern hält die Bundesregierung insbesondere das Zeigen des Hitler-
grußes oder das Verwenden anderer Kennzeichen verfassungswidriger Or-
ganisationen durch eine Person, die bereits als Gewalttäter rechts bzw. als
politisch motivierter Straftäter polizeibekannt ist, für korrekt?

15. Wird sich die Bundesregierung mit den ermittelnden Staatsanwaltschaften
in Verbindung setzen, um eine Änderung der Einstufung zu veranlassen,
oder hat sie dies in der Vergangenheit bereits getan, und wenn ja, mit wel-
chem Ergebnis?

16. Wie viele Fälle des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Or-
ganisationen wurden in den Jahren seit 2000 (bitte pro Jahr getrennt auffüh-
ren) bundesweit erfasst?

a) Um welche Kennzeichen welcher verfassungswidrigen Organisationen
handelte es sich dabei im Wesentlichen?
b) Wie viele dieser Fälle wurden als politisch motiviert eingestuft?

Drucksache 17/9209 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
17. In wie vielen Fällen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger
Organisationen seit 2000 waren die Beschuldigten zum Tatzeitpunkt als Ge-
walttäter rechts oder politisch rechts motivierte Straftäter bekannt, und wie
oft wurde bei diesen das Delikt als politisch motiviert eingestuft?

18. Wie viele Fälle von Volksverhetzung wurden in den Jahren seit 2000 (bitte
pro Jahr getrennt aufführen) bundesweit erfasst?

In wie vielen dieser Fälle waren die Beschuldigten zum Tatzeitpunkt als Ge-
walttäter rechts oder politisch rechts motivierte Straftäter bekannt, und wie
oft wurde bei diesen das Delikt als politisch motiviert eingestuft?

19. Beabsichtigt die Bundesregierung, Delikte wie Volksverhetzung und Ver-
wendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen aus der
Vergangenheit erneut daraufhin zu überprüfen, inwieweit Hitlergrüße durch
Neonazis usw. als unpolitisch verharmlost wurden, um die PMK-Statistik zu
korrigieren, und wenn nein, warum nicht?

20. Inwiefern sieht die Bundesregierung angesichts der Einstufung von Hitler-
gruß, „Vergasungs“-Forderungen und ähnlichen typisch faschistischen
Volksverhetzungs- und Propagandadelikten als vermeintlich unpolitisch
durch die Sicherheitsbehörden einen Bedarf, die Behörden für den Bereich
rechtsextremer Kriminalität zu sensibilisieren?

Welche Maßnahmen will sie hierzu ergreifen?

21. Wie viele Rechtsextremisten waren zum Stichtag 1. März 2012 mit offenem
Haftbefehl gesucht worden (bitte nach dem Schema der Drucksache 17/8997
beantworten)?

Berlin, den 28. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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