BT-Drucksache 17/9197

Bologna-Prozess - Umsteuern für ein besseres Studium und offene Hochschulen

Vom 28. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9197
17. Wahlperiode 28. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten Nicole Gohlke, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie Hein, Petra Pau,
Jens Petermann, Kathrin Senger-Schäfer, Raju Sharma, Dr. Petra Sitte,
Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Bologna-Prozess – Umsteuern für ein besseres Studium und offene Hochschulen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

13 Jahre nach dem Gipfel der europäischen Ministerinnen und Minister für Bil-
dung und Hochschule in Bologna haben sich die deutschen Hochschulen weder
gegenüber anderen Ländern noch gegenüber neuen Zielgruppen wirksam geöff-
net. Ein angemessener Ausbau der Hochschulen wird durch fehlende Ressour-
cen verhindert, der Studienplatzmangel verschärft sich weiter und die zudem
schlecht koordinierte Mangelverwaltung hat die Hochschulen in ein erschüt-
terndes Zulassungschaos gestürzt. Die inhaltliche Ausgestaltung der mit dem
Bologna-Prozess eingeführten Bachelor- und Masterstudiengänge hat vielerorts
zu einer Überlast von Prüfungen sowie zu einer einseitigen Orientierung der
Lehrinhalte an den Anforderungen des Arbeitsmarktes geführt und damit eine
heftige Protestwelle von Studierenden ausgelöst.

Es ist höchste Zeit für einen Kurswechsel. Mit dem Wandel von Technologien
und Produktionsbedingungen, mit der wachsenden Bedeutung anspruchsvoller
Dienstleistungen und der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Ent-
scheidungsprozesse gewinnt die akademische Bildung kontinuierlich an Bedeu-
tung. Gleichzeitig bilden drängende gesellschaftliche Fragen wie die wachsende
soziale Spaltung, der Klimawandel, Ernährungsprobleme in großen Teilen der
Welt, der Wandel von Arbeits- und Lebensmodellen und die Krise unseres Wirt-
schaftssystems große Herausforderungen nicht zuletzt für Hochschulen und
Wissenschaft. Der Bologna-Prozess wird diesen Herausforderungen nicht ge-
recht. Indem sich der Bologna-Prozess als Teil der Lissabon-Strategie versteht,
welche die Europäische Union (EU) zur weltweit führenden Wirtschaftsregion
machen will, werden die Hochschulen stattdessen den Interessen des wirtschaft-
lichen Standorts untergeordnet und wird das Studium an kurzfristigen Interessen
des Arbeitsmarktes ausgerichtet. Wir brauchen deshalb neue Ideen und Visionen
für den europäischen Hochschulraum.

Die gesellschaftlich dringend notwendige Hochschulexpansion wird in Deutsch-
land vor allem durch vier Faktoren behindert: durch die ausgrenzende Wirkung

des gegliederten Schulsystems, durch den allgemeinen Mangel an Studien-
plätzen und soziale Hürden beim Hochschulzugang sowie durch die mangelnde
Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Hochschulbildung. Weiterhin gelangt
lediglich 1 Prozent der Studierenden ohne (Fach-)Abitur an die Hochschulen.
Das Deutsche Studentenwerk betont in seiner aktuellen Sozialerhebung, dass die
Chancen von Akademikerkindern einerseits und Nichtakademikerkindern an-
dererseits im Hochschulsystem weiter auseinanderdriften (19. Sozialerhebung

Drucksache 17/9197 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2010). Der Bologna-Prozess hat nichts daran geändert, dass deutsche Hochschu-
len einen auffällig elitären Zirkel bilden. Auf- und Quereinsteiger haben es
weiterhin deutlich schwerer als in den meisten anderen europäischen Ländern
(Eurostudent III: Social and Economic Conditions of Student Life in Europe
2008).

Mit der Einführung des zweistufigen Studiensystems ist im Rahmen des
Bologna-Prozesses eine weitere Hürde im Hochschulsystem etabliert worden.
Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass der Übergang vom Bachelor
zum Master wiederum mit sozialer Ausgrenzung verbunden ist. Während in
den Bachelor-Studiengängen bereits 37 Prozent der Studierenden der sozialen
Herkunftsgruppe „hoch“ zugeordnet werden und nur 13 Prozent der sozialen
Herkunftsgruppe „niedrig“, geht diese Schere im Masterstudium weiter auf.
Hier werden sogar 41 Prozent der Studierenden der sozialen Herkunftsgruppe
„hoch“ und lediglich 9 Prozent der sozialen Herkunftsgruppe „niedrig“ zuge-
ordnet (ebd., Zahlen beziehen sich auf Universitäten). Die verfügbaren Zahlen
deuten außerdem darauf hin, dass sich die zusätzliche Hürde zwischen Bache-
lor und Master negativ auf die Bildungsbeteiligung von Frauen auswirkt. Wäh-
rend 51,1 Prozent der Bachelorabschlüsse von Frauen abgelegt werden, beträgt
dieser Anteil bei den Masterabschlüssen derzeit lediglich 45,8 Prozent (Statis-
tisches Bundesamt, 2010).

Für Studierende, denen nach dem Bachelor der Schritt in den Master verwehrt
bleibt, bedeutet die neue Studienstruktur gegenüber den traditionellen Diplom-
oder Magisterstudiengängen eine drastische Verkürzung der Studienzeiten und
damit eine gravierende Einschränkung ihrer Bildungschancen. Statt zu einer
Öffnung der Hochschulen tragen die neue Studienstruktur und ihre Ausgestal-
tung so zu einer Bildungskürzung und einer weiteren Abschottung der Hoch-
schulen insbesondere gegenüber Studierenden aus finanziell schwachen Eltern-
häusern bei. Auf dem Arbeitsmarkt müssen Bachelorabsolventinnen und -ab-
solventen von Universitäten gegenüber den Absolventinnen und Absolventen
von Masterstudiengängen Gehaltseinbußen von über 20 Prozent hinnehmen
(Vierter Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Bologna-Prozes-
ses in Deutschland). Viele Bachelorstudiengänge vermitteln de facto keinen
berufsqualifizierenden Abschluss und können Hochschulabgängerinnen und
-abgängern keine attraktiven beruflichen Perspektiven eröffnen.

Umfragen unter Studierenden machen deutlich, dass es in den Bachelorstudien-
gängen erhebliche Qualitätsprobleme gibt. Im aktuellen Studierendensurvey er-
hält der Bachelor in Aufbau, Inhalt, Durchführung und Betreuung durchweg
schlechtere Noten durch die Studierenden als die traditionellen Diplomstudien-
gänge (BMBF, 2010). Die Tatsache, dass inzwischen drei Viertel aller Studien-
anfängerinnen und -anfänger einen Bachelorabschluss anstreben, kann vor die-
sem Hintergrund nicht als Erfolg gewertet werden. Die Beschäftigten an den
Hochschulen können die mit der Umstellung der Studiengänge verbundenen
zusätzlichen Aufgaben ohne eine adäquate Aufstockung des Personals nicht ge-
währleisten. An den Universitäten bleibt darüber hinaus auch das Versprechen
einer stärkeren internationalen Ausrichtung des Studiums uneingelöst. Der An-
teil der Studierenden mit studienbezogenen Auslandsaufenthalten liegt bei den
Bachelorstudierenden an Universitäten mit 16 Prozent deutlich unter dem
Durchschnitt von 25 Prozent aller Studierenden; insgesamt ist die Auslands-
mobilität von Studierenden an den Universitäten zwischen 2009 und 2011 sogar
gesunken (Hochschul-Informations-System GmbH, 2011).

Wir brauchen deshalb einen neuen Reformprozess für die Hochschulen, der
Bildungschancen nicht einschränkt, sondern sich an einer umfassenden
Öffnung der Hochschulen orientiert. Die Hochschulen müssen sich hierbei auf

neue Zielgruppen einstellen und neue Aufgaben unter anderem in der akade-
mischen Weiterbildung übernehmen. Und wir brauchen eine neue Studien-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9197

reform, die sich an den Bedürfnissen der Studierenden orientiert, eine eigen-
ständige Studiengestaltung und forschendes Lernen ermöglicht und eine kriti-
sche Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Disziplin sowie mit den
gesellschaftlichen Verhältnissen fördert.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Hochschulpakt mit den Ländern neu zu verhandeln und hierbei

a) dem gravierenden Mangel an Studienplätzen und den neuen Prognosen
der Kulturministerkonferenz für die Entwicklung der Schulabgängerzah-
len Rechnung zu tragen, indem die Zahl der zusätzlich zur Verfügung ge-
stellten grundständigen Studienplätze bis 2015 auf mindestens 500 000
erhöht wird,

b) neben grundständigen Studienplätzen auch die Schaffung einer bedarfs-
deckenden Anzahl von Masterstudienplätzen zu vereinbaren,

c) die rechnerisch zugrunde gelegten Studienplatzkosten den realen durch-
schnittlichen Kosten anzupassen sowie darüber hinaus einen Zuschlag
zur Verbesserung der Studienbedingungen anzusetzen und durch eine an-
gemessene Ausfinanzierung die nötigen Grundlagen dafür zu schaffen,
dass die Hochschulen mehr vierjährige Bachelorstudiengänge einrichten,

d) einen Ausbau der sozialen Infrastruktur an den Hochschulen zu verein-
baren, der mehr Wohnheimplätze und damit bezahlbaren Wohnraum, die
Einstellung zusätzlichen Personals für die Beratung und einen Ausbau
der gastronomischen Kapazitäten für die Studierenden ermöglicht,

e) die Schaffung von mehr unbefristeten Stellen im akademischen Mittelbau
oder als Juniorprofessuren mit Tenure-Track-Option zu fördern;

2. schnellstmöglich das 2006 eingeführte Kooperationsverbot zwischen Bund
und Ländern nach Artikel 104 b des Grundgesetzes (GG), in der Bildung
sowie die neu geschaffene Kompetenz der Länder nach Artikel 72 Absatz 3
Nummer 6 GG, im Rahmen konkurrierender Gesetzgebung bei der Hoch-
schulzulassung und den -abschlüssen von der Bundesgesetzgebung abzuwei-
chen, zu revidieren und Bildung stattdessen als Gemeinschaftsaufgabe von
Bund und Ländern im Grundgesetz zu verankern; hierbei ist auch eine dauer-
hafte institutionelle Förderung von Hochschulen durch den Bund zu ermög-
lichen;

3. den von Deutschland bereits 1973 ratifizierten Pakt der Vereinten Nationen
über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte endlich umzusetzen und
die Erhebung von Studiengebühren bundesweit auszuschließen, damit der
Zugang zur Hochschule nicht vom eigenen Einkommen bzw. dem Einkom-
men der Eltern abhängt;

4. dem Bundestag umgehend einen Entwurf zur Änderung des Bundesausbil-
dungsförderungsgesetzes (BAföG) vorzulegen, der

a) die Bedarfssätze an den tatsächlichen Bedarf für Lebensunterhalt und
Ausbildung anpasst; hierzu ist eine Erhöhung der Bedarfssätze um min-
destens 10 Prozent vorzunehmen,

b) Darlehensanteile der Förderung abschafft und das BAföG stattdessen
wieder zu einem Vollzuschuss macht, damit junge Menschen aus finanz-
schwachen Elternhäusern nicht länger mit erheblichen Schulden ins Be-
rufsleben starten müssen,

c) deutlich mehr Menschen in die Förderung einbezieht, indem die Freibe-

träge für eigenes Einkommen bzw. das Einkommen der Eltern um min-
destens 10 Prozent erhöht werden,

Drucksache 17/9197 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

d) die Förderung von Schülerinnen und Schülern in der Oberstufe allgemein-
bildender Schulen sowie an Berufsschulen über Ausnahmefälle hinaus
wiederherstellt, damit mehr Jugendliche aus finanzschwachen Eltern-
häusern die Hochschulreife erreichen,

e) die Höchstaltersgrenze von 30 bzw. 35 Jahren streicht und Beschränkun-
gen bei der Förderung von Masterstudiengängen aufhebt;

5. sich gegenüber der Kultusministerkonferenz für eine Änderung der Struktur-
vorgaben für Bachelor- und Masterstudiengänge einzusetzen, welche

a) den Master als Regelabschluss eines Studiums definiert,

b) festlegt, dass der Zugang zum Masterstudium mit Ausnahme von weiter-
bildenden Masterstudiengängen neben einem Bachelorabschluss von kei-
nen weiteren Zugangskriterien abhängig gemacht werden darf,

c) als Studienziele neben der beruflichen Qualifizierung gleichwertig wis-
senschaftliches Arbeiten, Persönlichkeitsentwicklung und die Fähigkeit
umfasst, gesellschaftliche Prozesse zu hinterfragen und zu gestalten,

d) gewährleistet, dass in allen Studiengängen ein angemessener Anteil der
Module bzw. Lehrveranstaltungen durch die Studierenden frei wählbar ist
und so eine eigenständige Schwerpunktsetzung im Studium ermöglicht
wird;

6. dem Bundestag einen Entwurf für ein Gesetz über die Hochschulzulassung
vorzulegen, welches

a) das Recht auf einen Zugang zum Bachelor sowie zum Master für alle
Menschen sichert, die eine entsprechende Zugangsberechtigung erreicht
haben,

b) sicherstellt, dass bundesweit transparente Verfahren der Hochschulzulas-
sung geschaffen werden, deren Durchführung in öffentlicher Verantwor-
tung verbleibt,

c) sozialen Kriterien bei der Vergabe der Studienplätze einen hohen Stellen-
wert einräumt,

d) eine gezielte Förderung bisher an den Hochschulen unterrepräsentierter
Gruppen vorsieht;

7. dem Bundestag einen Gesetzentwurf für ein Gesetz über die Hochschulab-
schlüsse vorzulegen, welches

a) eine verlässliche Qualitätssicherung von Studium und Lehre in öffent-
licher Verantwortung sicherstellt und hierzu die privatwirtschaftliche
Organisationsform von Akkreditierungsagenturen aufhebt und sie durch
öffentliche Einrichtungen ersetzt,

b) eine Gleichwertigkeit der Studienabschlüsse gewährleistet sowie die Ver-
gleichbarkeit von Studienleistungen und damit Mobilität ermöglicht,

c) eine wettbewerbliche Steuerung im Akkreditierungssystem für die Zu-
kunft ausschließt und stattdessen einen verbindlichen Rahmen sowie ver-
bindliche Vorgaben für demokratische Verfahren der Qualitätssicherung
formuliert,

d) eine gleichberechtigte Teilhabe der beteiligten Interessengruppen auf
allen Ebenen der Qualitätssicherung sicherstellt;

8. sich gegenüber den anderen Signatarstaaten der Bologna-Erklärung dafür
einzusetzen, dass
a) zur Stärkung der sozialen Dimension des Bologna-Prozesses ein „Euro-
pean Observatory on the Social Dimension of Higher Education“ einge-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9197

richtet und mit verbindlichen Zielen zur Öffnung der Hochschulen und
zur Verbesserung der sozialen Lage der Studierenden verbunden wird,

b) der Bachelorabschluss europaweit als hinreichende Zugangsvorausset-
zung für ein Masterstudium anerkannt wird und weitere Zugangsvoraus-
setzungen zurückgedrängt werden,

c) die Promotion nicht als dritte Phase des Studiums, sondern als erste
Phase eigenständiger wissenschaftlicher Arbeit anerkannt wird und Initi-
ativen ergriffen werden, die die soziale Absicherung von Doktorandinnen
und Doktoranden verbessern und ihnen eine unabhängige wissenschaft-
liche Arbeit ermöglichen,

d) die europäische Hochschulpolitik sich von der Wirtschaftspolitik der EU
emanzipiert, indem sie der ökonomischen Perspektive die Perspektive der
Lernenden gegenüberstellt und eigenständige Ziele für die Entwicklung
der Hochschulen und ihren Beitrag zu gesellschaftlichem Fortschritt for-
muliert.

Berlin, den 28. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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