BT-Drucksache 17/902

Gegen Armut und soziale Ausgrenzung - Soziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk aufnehmen

Vom 3. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/902
17. Wahlperiode 03. 03. 2010

Antrag
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, Thomas
Nord, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen, Wolfgang Gehrcke,
Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema
Movassat, Paul Schäfer (Köln), Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Gegen Armut und soziale Ausgrenzung – Soziale Fortschrittsklausel
in das EU-Vertragswerk aufnehmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in den Jahren
2007 und 2008, insbesondere in den Sachen VW-Gesetz, Viking Line, Laval,
Rüffert (Niedersächsisches Auftragsvergabegesetz) und Luxemburg, hat so-
ziale Grundrechte und gewerkschaftliche Rechtspositionen wie öffentliche
Einflussmöglichkeiten im Einzelfall beschnitten und auf Dauer nachhaltig in
Frage gestellt. Niedrige Löhne und weniger demokratische Einflussnahme
bedingen Armut und soziale Ausgrenzung. Das Ziel eines sozialen Europa ist
weiter in die Ferne gerückt.

2. Die Urteile des EuGH beruhen im Kern darauf, dass in ihnen den Grundfrei-
heiten des Kapitals, der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit
und der Kapitalverkehrsfreiheit sowie den Wettbewerbsregeln Vorrang vor
sozialen Grundrechten und sozialstaatlichen Verfassungswerten eingeräumt
wurde. Das geschah, ohne dass eine Änderung des Vertragsrechts dazu
Anlass und Berechtigung gegeben hätte.

3. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) hat in der Erklärung seines
Exekutivausschusses vom 4. März 2008 demgegenüber die Forderung auf-
gestellt, die EU-Verträge durch die Aufnahme eines Protokolls zu ergänzen,
das soziale Grundrechte und gewerkschaftliche Rechtspositionen vor einer
sie immer weiter einschränkenden Rechtsprechung schützt. Dem haben sich
die deutschen Gewerkschaften, insbesondere der Deutsche Gewerkschafts-
bund (DGB) und die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) ange-
schlossen. Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament am 6. Juni 2009
haben neben der Partei DIE LINKE. auch die SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN diese gewerkschaftlichen Forderungen vorbehaltlos unterstützt.
4. Im Deutschen Bundestag unterstützte keine der anderen Fraktionen den
entsprechenden Antrag der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache
16/13056). Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass die Vertragsver-
handlungen über den Vertrag von Lissabon abgeschlossen seien und weitere
Vertragsänderungen nicht bevorstünden, also nicht die richtige Zeit für die
Durchsetzung des berechtigten Anliegens sei.

Drucksache 17/902 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
5. Nunmehr steht aber fest, dass es in absehbarer Zeit Vertragsänderungen
anlässlich der Aufnahme von Kroatien und Island eingeleitet werden. Zu ei-
nem noch früheren Zeitpunkt wird mit einer Veränderung des Vertrags im
Hinblick auf die Größe und Zusammensetzung des 2009 gewählten Europa-
parlaments gerechnet. Es ist daher jetzt an der Zeit, die Arbeiten zur Auf-
nahme einer sozialen Fortschrittsklausel in das EU-Vertragsrecht unmittelbar
in Angriff zu nehmen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Entwurf eines Protokolls zum Vertrag über die Europäische Union
(EUV) und zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
(AEUV) auf der Grundlage und in voller Übereinstimmung mit dem Inhalt
des Vorschlags des EGB vom 4. März 2008 zu erarbeiten, in dem es heißt:
„Keine Regelung der Verträge und insbesondere nicht die Grundfreiheiten
oder Wettbewerbsregeln sollten Vorrang vor den sozialen Grundrechten und
dem sozialen Fortschritt haben. Im Fall eines Konflikts, sollten die sozialen
Grundrechte Priorität erhalten. Die Auslegung wirtschaftlicher Freiheiten
darf nicht so ausfallen, als ob sie die Unternehmen dazu berechtigten, sie zu
nutzen, um die nationalen Arbeits- und Sozialrechte zu umgehen und ihnen
auszuweichen oder sie für Sozialdumping einzusetzen. Die in den Verträgen
festgelegten wirtschaftlichen Freiheiten sind so auszulegen, dass sie kein
Hemmnis für die Ausübung der sozialen Grundrechte darstellen, wie sie von
den Mitgliedstaaten und vom Gemeinschafts-/Unionsrecht anerkannt sind,
einschließlich des Rechts, Tarifverträge auszuhandeln, abzuschließen und
durchzusetzen sowie Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen. Demnach sollte
die Unabhängigkeit der Sozialpartner bei der Wahrnehmung dieser Grund-
rechte für soziale Interessen und zum Schutz der Arbeitnehmer also nicht be-
einträchtigt werden. Der Arbeitnehmerschutz bedarf einer Auslegung, die
den Gewerkschaften und Arbeitnehmern das Recht zuerkennt, für den Schutz
der existierenden Standards und für die Verbesserung der Lebens- und
Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer in der Union über die bestehenden
(minimalen) Standards hinaus einzutreten, insbesondere im Kampf gegen
unfairen Wettbewerb über Löhne und Arbeitsbedingungen sowie bei der Ein-
forderung der Gleichbehandlung der Arbeitnehmer, unabhängig von ihrer
Nationalität oder anderer Gründe.“;

2. darauf zu dringen, dass das Protokoll zum Gegenstand der nächsten Verhand-
lungen über Vertragsänderungen gemacht wird und Verhandlungen nicht
zuzustimmen, bei denen das Protokoll über die soziale Fortschrittsklausel
nicht auch Verhandlungsgegenstand ist;

3. gegen jedes Verhandlungsergebnis zu stimmen, dass kein Protokoll mit einer
sozialen Fortschrittsklausel entsprechend den Inhalten des Vorschlags von
Seiten der Gewerkschaften enthält;

4. diesen Beschluss des Deutschen Bundestages als Stellungnahme nach § 9 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem
Bundestag (EUZBBG) in Angelegenheiten der Europäischen Union zu
berücksichtigen.

Berlin, den 3. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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