BT-Drucksache 17/890

Niedriglöhne bekämpfen - Gesetzlichen Mindestlohn einführen

Vom 2. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/890
17. Wahlperiode 02. 03. 2010

Antrag
der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun
Dittrich, Diana Golze, Katja Kipping, Cornelia Möhring, Jörn Wunderlich, Sabine
Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Niedriglöhne bekämpfen – Gesetzlichen Mindestlohn einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Regierungen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel haben die Ausweitung von Niedriglöhnen massiv politisch
vorangetrieben. Agenda 2010, Hartz IV, die Förderung von Leiharbeit und
Minijobs – all das folgt dem Motto „Hauptsache Arbeit, egal wie schlecht die
Bedingungen sind“. Die schwarz-gelbe Regierung zementiert diese Linie,
indem sie befristete Beschäftigung und Minijobs noch weiter verbreiten will
und Leiharbeit nicht reguliert. Zur Begrenzung niedriger Löhne soll lediglich
die Rechtsprechung zu sittenwidrigen Löhnen gesetzlich festgeschrieben wer-
den. Hiermit wird Niedriglohnbeschäftigung nicht verhindert, sondern ein
Unterschreiten ohnehin oft völlig unzureichender branchenspezifischer Löhne
sogar legitimiert. Erwerbslose werden weiter unter Androhung von Leistungs-
kürzungen gezwungen, auch untertariflich bezahlte Jobs ohne ausreichende
soziale Absicherung anzunehmen. Gleichzeitig wächst die Gefahr eines schnel-
len sozialen Absturzes durch Hartz IV und die verkürzte Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes I. Dies führt bei den Beschäftigten zu einem Klima der
Angst. Gehälter und Löhne geraten so zunehmend unter Druck.

Es ist nicht hinzunehmen, dass heute jede und jeder fünfte Beschäftigte einer
Niedriglohnbeschäftigung nachgehen muss. Mehr als sechs Millionen Men-
schen sind betroffen, davon sind rund 70 Prozent Frauen. 1,37 Millionen Men-
schen müssen ihren Lohn durch Hartz-IV-Leistungen aufstocken, weil er nicht
einmal mehr zur Sicherung der Existenz reicht. Dadurch werden niedrige
Löhne auch noch staatlich subventioniert. Die Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler finanzieren den vorenthaltenen Lohn in Milliardenhöhe. Stattdessen
muss gelten: Wer Vollzeit arbeitet, muss mindestens einen existenzsichernden
Lohn bzw. ein existenzsicherndes Gehalt erhalten.

Seit Jahren verweigern die verschiedenen Regierungskoalitionen die Ein-
führung eines allgemeinen, gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland, obwohl
es hier gemessen an vergleichbaren anderen europäischen Ländern mittlerweile

einen sehr hohen Anteil an Niedriglohnbeschäftigten gibt. Betrachtet man das
Wachstum des Niedriglohnsektors, ist dieses in Deutschland schneller voran-
geschritten als in anderen Ländern, sogar schneller als in den USA. Die Aus-
weitung der Niedriglohnbeschäftigung ist politisch gewollt, sonst wäre
Deutschland schon lange dem Beispiel von 20 EU-Ländern gefolgt und hätte
einen gesetzlichen Mindestlohn als feste Untergrenze für alle Löhne eingeführt.

Drucksache 17/890 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns wird von einem großen Teil
der Bevölkerung befürwortet. Immerhin 70 Prozent der Menschen sprechen
sich laut dem Institut für Wirtschaft, Arbeit und Kultur dafür aus. Sie plädieren
im Schnitt für einen Mindestlohn in Höhe von 10,03 Euro pro Stunde. Die
Katholische Arbeitnehmer-Bewegung fordert einen gesetzlichen Mindestlohn
von 9,20 Euro pro Stunde. Es zeichnet sich ab, dass der Deutsche Gewerk-
schaftsbund seine Mindestlohnforderung aktualisieren und einen höheren
Mindestlohn als bisher fordern wird. Diese breite gesellschaftliche Zustimmung
für einen gesetzlichen Mindestlohn ist ein Handlungsauftrag für die Politik.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

zügig einen Gesetzentwurf vorzulegen, der folgende Maßnahmen beinhaltet:

– Die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns, der
noch in dieser Wahlperiode auf 10 Euro pro Stunde erhöht wird und jährlich
mindestens in dem Maße wächst, wie die Lebenshaltungskosten steigen. Er
bildet die allgemeine Untergrenze der Entlohnung, die für alle Beschäftigten,
für Menschen mit und ohne Behinderungen, gilt.

– Höhere tarifliche Branchenmindestlöhne werden für die jeweilige Branche
für allgemeinverbindlich erklärt. Um dies zu gewährleisten, wird das Arbeit-
nehmerentsendegesetz auf alle Branchen ausgeweitet. Ein über dem all-
gemeinen Mindestlohn liegender Branchenmindestlohn muss auf Antrag
einer Tarifvertragspartei vom Bundesarbeitsminister bzw. von der Bundes-
arbeitsministerin für allgemeinverbindlich erklärt werden können.

– Die Modalitäten der Einführung und die jährlichen Anpassungen des
Mindestlohns, entsprechend der steigenden Lebenshaltungskosten, werden
von der Bundesregierung nach Konsultation mit den Tarifvertragsparteien
und wissenschaftlichen Expertinnen und Experten bestimmt. Dazu wird ein
nationaler Mindestlohnrat einberufen. Ernannt werden dessen Mitglieder auf
Vorschlag der Tarifparteien vom Bundesminister bzw. der Bundesministerin
für Arbeit und Soziales. Der Rat wird paritätisch besetzt (Gewerkschaften,
Arbeitgeberverbände, Wissenschaft) und nach Geschlecht quotiert.

– Um eine wirksame Durchsetzung des Mindestlohnes in der Praxis zu er-
möglichen, werden Kontrollmechanismen und Sanktionen bei Verstößen
festgelegt und ein Verbandsklagerecht eingeführt.

Berlin, den 2. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Niedrige Löhne treffen laut statistischem Bundesamt besonders Menschen,
die einer atypischen, häufig prekären Beschäftigung nachgehen müssen. Über
80 Prozent der Minijobberinnen und Minijobber müssen sich mit niedrigen
Löhnen begnügen. Ebenso geht es zwei Drittel der Leiharbeiterinnen und Leih-
arbeiter sowie 40 Prozent der befristet Beschäftigten. Aber auch wer einer regu-
lären Beschäftigung nachgeht, ist nicht immer vor Dumpinglöhnen geschützt.
Immerhin 11 Prozent der normalen sozialversicherungspflichtigen Arbeits-
verhältnisse werden unzureichend entlohnt. Das Institut für Arbeit und Qualifi-

kation weist in seinen Analysen darauf hin, dass zwar der Anteil von Niedrig-
lohnbeschäftigten bei atypischen Beschäftigungsformen besonders hoch ist,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/890

aber auch die Kernbereiche von Beschäftigung in zunehmendem Maß betroffen
sind. So verzeichnet die Gruppe der Vollzeitbeschäftigten ebenso Zuwächse
wie unbefristet Beschäftigte und mittlere Altersgruppen. Daher besteht drin-
gender Handlungsbedarf.

Von einem niedrigen Lohn spricht man gemeinhin, wenn die sogenannte
Niedriglohnschwelle unterschritten wird. Diese liegt nach Berechnungen des
Statistischen Bundesamtes und der OECD in Deutschland bei einem Brutto-
stundenlohn von 9,85 Euro. Das entspricht zwei Dritteln des mittleren Stunden-
verdienstes. Die Niedriglohnschwelle muss Ausgangspunkt für die erstmalige
Festsetzung eines gesetzlichen Mindestlohns sein. Mehr als sechs Millionen
Menschen arbeiten für einen Lohn unterhalb dieser Schwelle. Ein darüber
liegender gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 10 Euro würde also den Lohn
für ebenso viele Menschen verbessern. Er ist ein wirksames Mittel zur Be-
kämpfung von Niedriglohnbeschäftigung.

Gegner eines gesetzlichen Mindestlohnes behaupten häufig, dass eine niedrige
Entlohnung die einzige Chance für gering Qualifizierte wäre, einen Zugang
zum Arbeitsmarkt zu bekommen. Diese Argumentation verkennt, dass vier von
fünf Niedriglohnbeschäftigten eine abgeschlossene Berufsausbildung oder
einen Universitäts- bzw. Fachhochschulabschluss haben. Zu diesem Ergebnis
kommen Untersuchungen des Institutes für Arbeit und Qualifikation. Die Situa-
tion von Menschen mit formal geringer Qualifikation verbessert man durch
berufliche Aus- und Weiterbildung, aber nicht durch niedrige Löhne, die nicht
zum Leben reichen.

Ebenso warnen Gegner eines gesetzlichen Mindestlohnes vor einem damit
einhergehenden Arbeitsplatzabbau. Hier beweisen vergleichbare europäische
Beispiele und Studien das Gegenteil. In Frankreich liegt der gesetzliche
Mindestlohn bei 8,82 Euro und in Luxemburg bei 9,73 Euro – ohne dass hier-
durch die Arbeitslosenzahlen gestiegen sind. Auch Großbritannien ist ein Bei-
spiel dafür, dass die Einführung eines Mindestlohns nicht zu Arbeitsplatz-
verlusten führt. Großbritannien kann als Vorbild für die Einführung eines
gesetzlichen Mindestlohns dienen, da dieser dort mit Hilfe der sogenannten
Low Pay Commission (ähnlich dem vorgeschlagenen Mindestlohnrat) geregelt
wurde. 20 von 27 EU-Ländern haben bereits einen gesetzlichen Mindestlohn,
in den übrigen Ländern schützen funktionierende Tarifvertragssysteme vor der
Ausbreitung von Niedriglöhnen. Beides ist in Deutschland nicht (mehr) ge-
geben.

Eine Studie für die Gewerkschaften ver.di und NGG kommt zu dem Ergebnis,
dass die Einführung eines Mindestlohns (beginnend mit 7,50 Euro pro Stunde,
der schnell auf 9 Euro ansteigt) die Einkommenslage für vier Millionen Voll-
zeitbeschäftigte und für fünf Millionen geringfügig und Teilzeitbeschäftigte
verbessern würde. Langfristig würden durch die Verbesserung der privaten
Kaufkraft und somit der Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen fast
600 000 zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse entstehen.

Zur Berücksichtigung der Lage kleiner Unternehmen besteht die Möglichkeit,
für bestimmte Branchen eine zeitlich befristete, stufenweise Einführung des
Mindestlohnes vorzusehen, der am Ende der Legislaturperiode bei 10 Euro
liegen muss. Sie soll Unternehmen in denjenigen Branchen zugute kommen,
die nicht kurzfristig dazu in der Lage sind, ihren Beschäftigten einen Mindest-
lohn von 10 Euro zu zahlen. So erhalten die betroffenen Unternehmen die Mög-
lichkeit, die Lohnsteigerungen aus eigener Kraft zu bewältigen, ohne in wirt-
schaftliche Schwierigkeiten zu kommen. Die Modalitäten einer solchen stufen-
weisen Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in einzelnen Branchen wer-
den vom Mindestlohnrat definiert. Direkte oder indirekte Lohnsubventionen

sind dagegen kontraproduktiv. Lohnsubventionen erzeugen Mitnahmeeffekte
und führen zur Verdrängung regulärer durch subventionierte Beschäftigungs-

Drucksache 17/890 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
verhältnisse. Die positiven Effekte des Mindestlohns für die Unternehmen sind:
Er begrenzt die Lohnkonkurrenz zwischen Unternehmen, setzt Anreize für Pro-
duktivitätssteigerungen und stärkt die Nachfrage nach Gütern und Dienst-
leistungen. Dies ist gerade in Krisenzeiten von erheblicher Bedeutung für die
Stärkung der Binnennachfrage.

Obwohl es in der vergangenen Legislaturperiode eine parlamentarische Mehr-
heit für einen gesetzlichen Mindestlohn gab, hat die Fraktion der SPD entspre-
chende Initiativen regelmäßig scheitern lassen. Ihr war die Koalitionstreue
wichtiger als gute Löhne für Millionen Beschäftigte. Die große Koalition hat
sich lediglich auf einige wenige Branchenmindestlöhne verständigen können.
Die schwarz-gelbe Koalition geht diesen Weg zwar bisher weiter, stellt die bis-
herigen Branchenmindestlöhne aber laut Koalitionsvertrag wieder auf den
Prüfstand. Von den derzeitigen Branchenmindestlöhnen profitieren rund 1,1
Millionen Beschäftigte, mit den geplanten Mindestlöhnen für das Dachdecker-
und das Gebäudereinigerhandwerk wären es knapp zwei Millionen. Angesichts
von mehr als sechs Millionen Niedriglohnbeschäftigten ist dies zu wenig.
Außerdem ist zu kritisieren, dass Branchenmindestlöhne zu einem unübersicht-
lichen Flickenteppich von vielen verschiedenen Mindestlöhnen führen – mit
vielen weißen Flecken. Sie ersetzen daher keinen flächendeckenden gesetz-
lichen Mindestlohn. Branchenmindestlöhne sind dann eine sinnvolle Ergänzung,
wenn sie über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen.

Zudem ist es gesellschaftlich völlig inakzeptabel, dass die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler gezwungen werden, den vom Arbeitgeber vorenthaltenen
Lohnanteil über Transferleistungen finanzieren zu müssen. Für die insgesamt
1,37 Millionen Menschen, die ihren Lohn mit Hartz-IV-Leistungen aufgestockt
bekommen, zahlte der Staat 2009 auf das Jahr hochgerechnet 8,8 Mrd. Euro an
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes und weitere 2,1 Mrd. Euro an
Sozialversicherungsbeiträgen und -zuschüssen (vgl. die Antworten auf die
Schriftlichen Fragen der Abgeordneten Sabine Zimmermann – Bundestags-
drucksache 17/702). Bei einem erheblichen Teil davon handelt es sich um vor-
enthaltenen Lohn, den eigentlich die Arbeitgeber zahlen müssten.

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