BT-Drucksache 17/886

Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages durch atomare Abrüstung stärken

Vom 2. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/886
17. Wahlperiode 02. 03. 2010

Antrag
der Abgeordneten Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen,
Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger,
Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord,
Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages durch atomare
Abrüstung stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die letzten Jahrzehnte sind von einer Erosion des gesamten atomaren Nicht-
verbreitungsregimes geprägt, was sich u. a. im Scheitern der letzten Überprü-
fungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages von Atomwaffen im Jahre
2005 ausdrückt.

2. Die Bekenntnisse zur Abrüstung der Präsidenten der USA und Russlands bie-
ten einen neuen Ansatzpunkt, diesen Erosionsprozess zu stoppen und eine
Phase der Weiterentwicklung und Erfüllung von internationalen Vertragsver-
pflichtungen auf dem Gebiet der atomaren Abrüstung und Nichtverbreitung
einzuleiten. Dies ist im Interesse aller Staaten, die gegen ein atomares Wett-
rüsten sind und für die Idee einer atomwaffenfreien Welt eintreten. Das Er-
reichen einer atomwaffenfreien Welt ist ein langer, komplexer und schwie-
riger Prozess.

3. Die anstehende Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages von
Atomwaffen im Mai 2010 in New York muss als Chance genutzt werden, die
Schwächung des atomaren Kontroll- und Abrüstungsregimes zu überwinden.
Einseitige Abrüstungsschritte sind unverzichtbare positive Zeichen, die auf
das Verhalten der anderen Staaten wirken und sie zu ähnlichem vertrauens-
bildendem Handeln anzuregen. Die Bundesregierung muss einen eigenen
entschlossenen Beitrag leisten, um die Überprüfungskonferenz zu stärken.
Wichtigstes Signal an die anderen atomwaffenfreien Staaten ist die Bereit-
schaft, ohne den „atomaren Schutzschirm“ zu leben. Der Abzug der in
Deutschland stationierten US-Atomwaffen ist der konkrete erste Schritt, um
den völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag
nach Artikel II (Kernwaffenverzicht) und Artikel VI (Abrüstungsgebot)

nachzukommen. Der Abzug der US-Atomwaffen aus Europa wäre ein sicht-
barer Beitrag zu einer atomwaffenfreien Welt.

4. Solange ein Staat im Besitz von Atomwaffen ist, wollen andere sie auch
besitzen. Begründet wird dies damit, dass der Besitz von Atomwaffen mehr
Sicherheit bedeute und das Risiko beachtlich gesenkt würde, selbst Ziel eines
Angriffs zu werden. Solange Atomwaffenstaaten und Teilhabestaaten argu-
mentieren, dass der Besitz von Atomwaffen für ihre Sicherheit unverzichtbar

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ist und ihre Sicherheitsstrategien auf Atomwaffen ausrichten, sind ihre Be-
strebungen, andere Staaten auf einen Verzicht zu verpflichten, unglaubwür-
dig. Der Versuch, privilegierte Besitzstände im Bereich der Massenvernich-
tungswaffen dauerhaft abzusichern, erweist sich aber nicht nur theoretisch,
sondern auch praktisch als hochproblematisch, wie die Entwicklung von
Atomwaffen durch Staaten, die den Nichtverbreitungsvertrag nicht unter-
zeichnet haben (Pakistan, Indien, Israel) zeigen. Derzeit sieht es so aus, als
würde der Versuch der Absicherung privilegierter Besitzstände perspek-
tivisch den Zusammenbruch des atomaren Abrüstungsregimes hervorrufen.

5. Der Atomwaffensperrvertrag ist in seiner Gesamtheit gefährdet, wenn er
nicht für alle Länder gleichermaßen verbindlich gilt. Das Abrüstungsgebot
muss für alle Länder gelten, ein einseitiger Fokus auf den Nichtverbreitungs-
aspekt wird unweigerlich zum Scheitern des gesamten Vertrages führen.
Doppelte Standards, die einigen Ländern höhere Bürden auferlegen als ande-
ren, unterhöhlen den Vertrag. Konflikte der Vertragsparteien müssen grund-
sätzlich auf diplomatischem Wege gelöst werden, jegliche Androhung und
Ausübung von militärischer Gewalt im Zusammenhang mit der Erfüllung
von Vertragsverpflichtungen sind ausdrücklich abzulehnen.

6. Die aus dem Kalten Krieg stammende Abschreckungslogik beherrscht den
Diskurs bis heute, wenn auch die Adressaten heute andere sind. Angesichts
der stetig steigenden Zahl der Staaten, die Atomwaffen besitzen, und mit je-
der weiteren produzierten Atomwaffe erhöht sich das Risiko, dass es eines
Tages wieder zum Einsatz dieser Waffe und damit zu einer Katastrophe kom-
men wird. Die Gefahren und Risiken von Atomwaffen und Atomwaffentech-
nik werden durch die Staaten zwar problematisiert, bleiben aber stets zweit-
rangig. Zumeist wird sich dabei auf die Gefahren konzentriert, die vom
„Missbrauch“ von Atomwaffen ausgehen. Damit wird so getan, als gäbe es
einen „guten“ Gebrauch dieser Waffen. Hier ist ein Umdenken zwingend not-
wendig. Gegenwärtig gibt es schätzungsweise 23 000 atomare Sprengköpfe,
die einer Sprengkraft von 150 000 Hiroshima-Bomben entsprechen. Der Ein-
satz von Atomwaffen, egal durch wen und mit welcher Begründung, bringt
unendliches Leid über diejenigen, in deren Lebensraum sie eingesetzt wer-
den. Das haben die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vor
65 Jahren gezeigt. Atombomben bedrohen die Existenz aller Lebewesen auf
der Erde. Der Internationale Gerichtshofs in Den Haag (IGH) stellte 1996 in
seinem Gutachten zum Einsatz von Atomwaffen fest, dass es eine völker-
rechtliche Verpflichtung gibt, redliche Verhandlungen zu führen und abzu-
schließen, die zu atomarer Abrüstung führen. Der IGH begründete dies über-
zeugend damit, dass Atomwaffen das Potenzial besitzen, ganze Zivilisa-
tionen auszulöschen und das Ökosystem der Erde zu vernichten.

7. Auch die Angebotsseite ist eine große Herausforderung für die Nichtverbrei-
tung. Durch die Globalisierung der Waffenindustrie und der Waffenmärkte ist
die Kontrolle der Anbieter schwieriger geworden. Durch diese Veränderun-
gen ist es für Staaten leichter geworden, die Technologie für ein atomares
Waffenprogramm zu bekommen, wenn sie es möchten. Mohamed ElBaradei
hat bereits 2005 davor gewarnt, dass Nuklerarkomponenten, die in einem
Land entwickelt wurden, in einem anderen Land hergestellt, durch ein drittes
geschifft, in einem vierten zusammengebaut und in einem fünften genutzt
werden können (vgl. Preserving the Non-Proliferation Treaty, Disarmament
Forum 4).

8. Durch die Vergrößerung der Zahl der friedlichen Nutzer der Kernenergie – in
fast 60 Staaten werden gegenwärtig Kernkraftwerke und Forschungsreak-
toren betrieben und mindestens 40 davon verfügen über die industrielle und

wissenschaftliche Infrastruktur, um in relativ kurzer Zeit Atomwaffen zu
bauen – und wegen des weiter anhaltenden Trends bei dieser Form der Ener-

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giegewinnung wird sich nicht nur der Handel mit Nuklearmaterial und ato-
marer Technologie weiter ausweiten, sondern es steigt auch die Zahl der
potenziellen Besitzer von atomwaffenfähigem Material. Nicht zuletzt gibt
es das Problem, dass atomare Technologien, Materialen und das Know-
how „dual use“-fähig sind, d. h. sie können gleichermaßen für friedliche
und für militärische Zwecke benutzt werden.

9. Atomwaffenfreie Zonen können ein wichtiges Mittel gegen die Weiterver-
breitung von Atomwaffen sein, wenn entsprechende rechtliche Bedingun-
gen dafür vorliegen. Lateinamerika ist atomwaffenfrei und soll atomwaffen-
frei bleiben. Mit dem Vertrag von Pelindaba vom 15. Juli 2009 wurde
Afrika und damit die gesamte Südhalbkugel offiziell atomwaffenfrei. Im
asiatischen Raum können atomwaffenfreie Regionen eingerichtet werden,
da sie de facto atomwaffenfrei sind. In Mitteleuropa wird seit Jahrzehnten
die Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone, wie sie vom ehemaligen pol-
nischen Außenminister Adam Rapacki vorgeschlagen wurde, gefordert.
Saudi-Arabien und Ägypten schlagen für den Nahen und Mittleren Osten
die Errichtung einer atomwaffenfreien Zone vor. In eine solche atomwaffen-
freie Zone soll auch der Iran einbezogen werden. Atomwaffenfreie Zonen
erfordern Sicherheitsgarantien durch die (Noch-)Atommächte.

10. In Deutschland ist die Mehrheit der Bevölkerung für ein atomwaffenfreies
Deutschland. Das Engagement der Kampagne „unsere zukunft atomwaffen-
frei“, der über 40 unabhängige Organisationen angehören, hat dazu beige-
tragen und ihr Engagement gilt es zu unterstützen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. zum Gelingen der Überprüfungskonferenz beizutragen, indem sie eigene
konkrete Abrüstungsschritte einleitet und sich unmissverständlich für den
unverzüglichen Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland
einsetzt sowie keine Trägermittel für Atomwaffen mehr bereitstellt;

2. innerhalb der NATO darauf zu drängen, das System der atomaren Teilhabe zu
beenden und die US-amerikanischen Atomwaffen aus Europa abzuziehen;

3. im Rahmen der Überprüfungskonferenz zu verkünden, dass Deutschland die
atomare Teilhabe aufgeben wird;

4. den Abzug der taktischen Atomwaffen aus Europa zu fordern und aktiv ein
atomwaffenfreies Mitteleuropa voranzutreiben. In diesem Zusammenhang ist
auf die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens dahingehend einzu-
wirken, dass diese auf die Modernisierung ihrer Atomwaffen verzichten;

5. sich innerhalb der NATO und bilateral dafür einzusetzen, dass die Politik der
atomaren Abschreckung überwunden wird. Das bedeutet, dass auf den Erst-
einsatz von Atomwaffen verzichtet wird und dass Nichtatomwaffenstaaten
die Garantie erhalten, nicht Ziel von einem Atomwaffeneinsatz zu werden;

6. in der verbleibenden Vorbereitungszeit bis zur Überprüfungskonferenz wei-
terhin auf die noch ausstehenden Ratifizierungen des Atomteststoppvertrags
einiger Staaten zu drängen, damit dieser wichtige Vertrag endlich in Kraft tre-
ten kann;

7. die bei der Überprüfungskonferenz im Jahre 2000 verabschiedeten 13 Schritte
zur Abrüstung als Diskussionsgrundlage wiederzubeleben;

8. für die Erhöhung des regulären Budgets der Internationalen Atomenergiebe-
hörde einzutreten, damit diese gestärkt wird und über die nötigen finanziel-
len, personellen und technischen Ressourcen verfügt, um die atomare Sicher-

heit und die Einhaltung der Schutzklauseln effektiv überwachen zu können;

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9. dafür einzutreten, dass die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls der Inter-
nationalen Atomenergiebehörde für alle Vertragsparteien des Nichtverbrei-
tungsvertrages zur Verpflichtung wird;

10. den konkreten Vorschlag aktiv zu unterstützen, die Produktion, Nutzung
und Wiederaufbereitung von atomaren Brennstoffen unter die Kontrolle der
Internationalen Atomenergiebehörde zu stellen und die Einrichtung einer
internationalen Brennstoffbank voranzutreiben;

11. im Rahmen der EU darauf hinzuwirken, dass Abrüstung und Nichtweiter-
verbreitung erstrangige Ziele werden;

12. die Diskussion in der EU darüber voranzutreiben, welchen praktischen Bei-
trag die Staaten der Europäischen Union zur Umsetzung des Ziels einer
atomwaffenfreien Welt leisten können und auf die Verabschiedung eines
Aktionsplans hinzuwirken, der kurz-, mittel- und langfristige Ziele und
Maßnahmen im Hinblick auf atomare Abrüstung und Nichtverbreitung be-
nennt, sowie einen konkreten Umsetzungsfahrplan enthält.

Berlin, den 2. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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