BT-Drucksache 17/8851

Atomkraftwerksprojekt Angra 3 in Brasilien - Kenntnisse und Positionierung der Bundesregierung

Vom 2. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8851
17. Wahlperiode 02. 03. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, Sven-Christian Kindler,
Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, Oliver Krischer, Undine Kurth (Quedlinburg),
Nicole Maisch, Dr. Hermann E. Ott, Dorothea Steiner und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Atomkraftwerksprojekt Angra 3 in Brasilien – Kenntnisse und Positionierung
der Bundesregierung

Nachdem rund ein Jahrzehnt keine Atomexporte mehr von der Bundesrepublik
Deutschland gefördert wurden, hob die schwarz-gelbe Bundesregierung das
Ausschlusskriterium für Atombürgschaften auf und erteilte gegen den breiten
Protest von Opposition, Umweltverbänden und Öffentlichkeit im Jahr 2010
eine Grundsatzzusage für eine Exportkreditgarantie für das brasilianische
Atomkraftwerksprojekt Angra 3 über rund 1,3 Mrd. Euro. Das völlig veraltete
Atomkraftwerksprojekt Angra 3 wurde in den 70er-Jahren konzipiert. Der Bau
wurde Anfang der 80er-Jahre begonnen aber bald abgebrochen und über zwei
Jahrzehnte nicht mehr weiterverfolgt. Im Jahr 2007 gab der damalige Präsident
Lula da Silva grünes Licht für den Weiterbau des Projekts. Ein Atomkraftwerk
dieses Typs wäre in Deutschland jedoch bereits seit 1994 nicht mehr genehmi-
gungsfähig.

Die AREVA NP GmbH, die die Exportkreditgarantie bei der Bundesregierung
beantragte, holte hierzu ein technisches Gutachten von der deutschen ISTec
GmbH (Institut für Sicherheitstechnologie) ein. Dass dieses Gutachten trotz
eines völlig veralteten Atomkraftwerkskonzepts, gravierender Sicherheits-
defizite und weiterer Sicherheitsprobleme aufgrund der lokalen Gegebenheiten
in Brasilien dennoch zu einem positiven Ergebnis für das Vorhaben kam, zeigt,
dass das Gutachten mit äußerster Vorsicht betrachtet werden muss.

Als Konsequenz aus der Atomkatastrophe von Fukushima richtete die Bundes-
regierung mehrere Fragen an Brasilien, um herauszufinden, inwiefern sich die
Sachlage beim Projekt Angra 3 geändert habe. Ferner wurde die ISTec GmbH
mit einem neuen Gutachten zu dem Projekt beauftragt. Dieses Gutachten wird
der Bundesregierung in Kürze vorliegen. Dabei scheint äußerst fraglich, ob
eine erneute Beauftragung desselben Gutachters, der bereits das ursprüngliche,
aus den oben genannten Gründen deutlich zu kritisierende Gutachten erstellt
hat, zu der nach Fukushima umso notwendigeren kritischen Prüfung des Pro-

jekts führen wird.

Aus Sicht der Fragestellerinnen und Fragesteller war die Entscheidung der
Bundesregierung, den Export von Atomtechnologie über Hermes-Exportkredit-
garantien wieder zu fördern, bereits vor der Atomkatastrophe von Fukushima
vollkommen falsch. Die Atomkatastrophe von Fukushima führte jedoch selbst
bei der Bundesregierung zu einer Neubewertung der nationalen nuklearen Risi-
ken und der Rücknahme ihrer kurz zuvor beschlossenen Laufzeitverlängerun-

Drucksache 17/8851 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

gen der deutschen Atomkraftwerke (AKW). Aus Sicht der Fragestellerinnen
und Fragesteller ergeben sich aus der Atomkatstrophe von Fukushima und der
deshalb von der Bundesregierung vorgenommenen eigenen „Energiewende“
zwingende Gründe auch für eine Abkehr der bisherigen Regierungshaltung hin-
sichtlich der Exportförderung von Atomtechnologie. Denn in Deutschland aus
der Atomkraft auszusteigen und gleichzeitig den Export von Atomtechnologie
ins Ausland zu fördern, ist widersprüchlich und nicht vermittelbar.

Wir fragen die Bundesregierung:

Zum neuen ISTec-Gutachten

1. Wann erwartet die Bundesregierung nach aktuellem Kenntnisstand das
Vorliegen des neuen ISTec-Gutachtens?

2. Wird das Gutachten veröffentlicht werden?

a) Falls ja, wann und wo?

b) Falls nein, warum nicht, und welche Akteurinnen und Akteure werden
das Gutachten erhalten (welche Abgeordneten, Ausschüsse, Bundes-
ministerien)?

3. Welches Verfahren, also welche wesentlichen Schritte mit Zeitplan/Datum,
im Umgang mit dem Gutachten sind seitens der Bundesregierung vorge-
sehen, sobald das Gutachten vorliegt?

4. Wann genau (Datum) finden die nächsten Sitzungen des Interministeriellen
Ausschusses (IMA), der über die Vergabe von Hermes-Exportkreditbürg-
schaften entscheidet, im ersten Halbjahr 2012 statt?

5. Gedenkt die Bundesregierung, eine gutachterliche Bewertung zum neuen
ISTec-Gutachten einzuholen?

6. Wird auch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit (BMU), das nicht Mitglied im IMA ist, das Gutachten erhalten?

a) Falls nein, warum nicht?

b) Falls ja, wird das BMU regierungsintern Stellung zu dem neuen ISTec-
Gutachten nehmen, und ggf. welcher Zeitbedarf (in Wochen) wird
schätzungsweise für diese Stellungnahme und Bewertung durch das
BMU nötig sein?

7. Wird eine Bewertung des Gutachtens dahingehend, ob es als Entschei-
dungsgrundlage für oder gegen die Exportkreditbürgschaft geeignet ist,
allein dem IMA obliegen?

a) Falls nein, welche weiteren Akteure werden an der Entscheidung betei-
ligt?

b) Falls ja, welche fachlichen Kompetenzen hat der IMA in Fragen nuk-
learer Sicherheit und des Katastrophenschutzes?

Zur Rolle und den Kenntnissen der deutschen Gesellschaft für Anlagen- und
Reaktorsicherheit mbH

8. Worin genau besteht die Kooperation der deutschen Gesellschaft für An-
lagen- und Reaktorsicherheit (GRS) mbH mit der brasilianischen Atomauf-
sichtsbehörde CNEN?

9. Seit wann genau und aufgrund welcher vertraglichen Grundlagen existiert
die Kooperation?
10. Kam es zu der Kooperation mit Wissen und Zustimmung der Bundesregie-
rung?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8851

11. Welche konkreten Erkenntnisse zu Angra 3 hat die GRS aufgrund der Ko-
operation mit CNEN erlangt?

12. Welche schriftlichen Unterlagen welchen Datums liegen der GRS zu
Angra 3 aufgrund der Kooperation mit CNEN vor?

13. Welche Stellungnahmen, Gutachten etc. hat die GRS im Zusammenhang
mit der Kooperation mit CNEN wann und für wen erstellt?

Zu Sicherheitsstandards

14. Inwiefern setzt sich die Bundesregierung als Konsequenz der Atomkata-
strophe von Fukushima bereits konkret für eine Verschärfung der Sicher-
heitsvorgaben und -standards der Internationalen Atomenergie-Organisation
(IAEA) ein?

a) Gegebenenfalls seit wann, in welcher Form und durch welchen Vertre-
ter/welches Bundesministerium setzt sich die Bundesregierung für eine
solche Verschärfung der Sicherheitsvorgaben und -standards der IAEA
ein?

b) Falls sie dies noch nicht tut, plant sie, sich mit konkreten Forderungen
und Vorschlägen für eine solche Verschärfung einzusetzen (falls ja, bis
wann, und falls nein, warum nicht)?

15. Hält die Bundesregierung den IAEA-Sicherheitsstandard 50-C-S „Code on
the Safety of Nuclear Power Plants: Siting”, der 1988 veröffentlicht wurde,
noch für zeitgemäß?

16. Hält die Bundesregierung den IAEA-Sicherheitsstandard 50-SG-S5 „Ex-
treme Man-lnduced Events in relation to Nuclear Power Plant Siting“, der
1981 veröffentlicht wurde, noch für zeitgemäß?

17. Hält die Bundesregierung insbesondere die in den o. g. IAEA-Sicherheits-
standards enthaltene Regelung, dass im Zusammenhang mit extremen
externen Ereignissen lokale Gegebenheiten bei der Risikoermittlung be-
rücksichtigt werden können, noch uneingeschränkt für zeitgemäß und
sachgerecht?

18. Hält die Bundesregierung die Reaktor-Sicherheitskommissions-Leitlinie
zur Auslegung von Druckwasserreaktoren von 1981, aktualisiert 1996,
noch für zeitgemäß, insbesondere hinsichtlich Flugzeugabstürzen?

19. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass die IAEA als Konsequenz aus
der Atomkatastrophe von Fukushima konstatiert hat, ihr „Emergency
Response Framework“ müsse überarbeitet werden?

Zu etwaigen Neubewertungen/neuen Maßnahmen in Brasilien

20. Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass sich die brasilia-
nischen Evakuierungspläne und entsprechenden Übungen nur auf den
Radius von 5 km um Angra 3 beziehen, angesichts der Tatsache, dass die
Evakuierungszone um Fukushima zunächst 20 km betrug und anschließend
der Bevölkerung im Radius 20 bis 30 km nahegelegt wurde, das Gebiet zu
verlassen?

a) Ist der Bundesregierung bewusst, dass ein größerer Evakuierungsrah-
men (20 km) um Angra 3 bedeuten würde, dass fast 200 000 Einwohner
statt 15 000 evakuiert werden müssten?

b) Inwiefern und mit welchen Ergebnissen ist die Bundesregierung hierzu
im Gespräch mit Brasilien?

Drucksache 17/8851 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

21. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, ob sich die brasilia-
nische Regierung bei der IAEA für eine Ausweitung der Evakuierungszone
einsetzt, um den Erfahrungen aus Fukushima gerecht zu werden?

22. Setzt die brasilianische Regierung dies nach den Erkenntnissen der Bun-
desregierung selbst bei der Planung für Angra 3 um?

23. Verfolgt die Bundesregierung die Ergebnisse der von Eletrobras Eletro-
nuclear gebildeten Arbeitsgruppe zu externen Ereignissen, Verlust von
Sicherheitsfunktionen und schweren Unfällen?

a) Wenn ja, was sind die bisherigen Ergebnisse?

b) Wenn nein, warum nicht?

24. Wie bewertet die Bundesregierung nach der Katastrophe von Fukushima
die Tatsache, dass die einzige Fluchtroute BR 101 regelmäßig von schwer-
wiegenden Erdrutschen versperrt und teilweise zerstört wird?

a) Werden nach Kenntnis der Bundesregierung diesbezüglich hinreichende
Maßnahmen geplant und umgesetzt?

b) Wenn ja, überwacht die Bundesregierung die Umsetzung dieser Maß-
nahmen, und wie bewertet die Bundesregierung diese Maßnahmen?

c) Wenn nein, warum nicht?

25. Informiert und mit welchem Ergebnis beschäftigt sich die Bundesregierung
über die Katastrophenpläne rund um Angra 3 und beachtet sie dabei die
Frage, wie die Menschen logistisch evakuiert werden können?

a) Falls ja, mit welchem Ergebnis?

b) Falls nein, warum nicht?

26. Wie bewertet die Bundesregierung die Zuverlässigkeit der brasilianischen
Behörden vor dem Hintergrund der Tatsache, dass im März vergangenen
Jahres der Chef der Atomaufsichtsbehörde sein Amt aufgeben musste,
nachdem publik wurde, dass Angra 2 seit zehn Jahren ohne endgültige
Betriebsgenehmigung lief, weil nicht alle Auflagen umgesetzt wurden, und
welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus diesen schweren
Fehlern?

27. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die brasilianische Atomauf-
sichtsbehörde CNEN dem Trennungsgebot von Artikel 8 Absatz 2 des
internationalen Übereinkommens über nukleare Sicherheit (Convention on
Nuclear Safety) in vollem Umfang gerecht wird oder nicht (es wird explizit
um eine konkrete Antwort mit Begründung auf diese Frage gebeten sowie
darum, von einer rein beschreibenden Darstellung wie der bereits bekann-
ten auf Bundestagsdrucksache 17/2817, Antwort der Bundesregierung zu
Frage 9, abzusehen)?

Weitere Fragen

28. Wann erwartet die Bundesregierung nach aktuellem Stand den Abschluss
der Liefer- und Finanzierungsverträge, die die Exportkreditbürgschaft für
Angra 3 betreffen?

29. Hat die Bundesregierung nach ihrem ersten Fragenkatalog zu Angra 3, den
sie infolge der Atomkatastrophe von Fukushima an Brasilien richtete, wei-
tere Fragen an Brasilien gerichtet?

a) Falls ja, welche, wann und wie lauteten die Antworten Brasiliens, sofern
sie bereits vorliegen (ggf. bitte Wortlautangabe der Fragen und der Ant-
worten)?
b) Falls nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/8851

30. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, ob der Standort von
Angra 3 noch aktuellen brasilianischen Kriterien entspricht, d. h. der
Standort auch aus heutiger Sicht noch als Standort gewählt werden könnte?

a) Hat sie sich diesbezüglich bei Brasilien erkundigt oder eigene Prüfun-
gen dieser Frage veranlasst?

b) Falls ja, mit welchem Ergebnis, und falls nein, warum nicht?

31. Sieht die Bundesregierung einen Widerspruch zwischen der Grundsatzzu-
sage der Hermesbürgschaft für Angra 3 und der vom Bundesministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung verfolgten Koopera-
tion im Energiesektor mit Entwicklungs- und Schwellenländer, in der nach-
haltige Energie als wichtiger Schlüssel für Entwicklung definiert wird und
die Relevanz von erneuerbaren Energien und Energieeffizienz unterstri-
chen wird?

a) Falls ja, wie wird mit diesem Widerspruch umgegangen?

b) Falls nein, warum nicht?

32. Welche Stellen der Bundesregierung – insbesondere BMU und Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) – haben die Antworten
Brasiliens auf den ersten Fragenkatalog zu Angra 3, den die Bundesregie-
rung infolge der Atomkatastrophe von Fukushima an Brasilien richtete, mit
jeweils welchen Ergebnissen ausgewertet (bitte jeweils auch mit Angabe des
Datums)?

33. Gibt es hinsichtlich einer weiteren Unterstützung des Projekts Angra 3 bzw.
der betreffenden Exportkreditbürgschaft aktuell unterschiedliche Haltungen
zwischen dem BMU und dem BMWi?

Falls ja, was sind die jeweiligen Positionen der beiden Häuser?

34. Hält die Bundesregierung es angesichts der beschlossenen Energiewende
und ihrer eigene Neubewertung nuklearer Risiken noch für angemessen,
für den Umweltbereich die Umweltleitlinien der Organisation für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung als alleinigen Maßstab bei
der Prüfung von Anträgen auf Exportkreditgarantien heranzuziehen oder
wird sie prüfen, für Exporte von Atomtechnologie zukünftig keine Export-
kreditgarantien mehr zu geben?

35. Welche konkreten Kenntnisse hat die Bundesregierung über Art, Umfang,
Zweck und Laufzeit der Nuklearsicherheitskooperation von CNEN mit der
EU?

Liegt der Bundesregierung das betreffende „cooperation agreement“
zwischen CNEN und EU vor (ggf. bitte mit Angabe der betreffenden Bundes-
ministerien)?

Berlin, den 2. März 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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