BT-Drucksache 17/8766

Niemanden abschreiben - Analphabetismus wirksam entgegentreten, Grundbildung für alle sichern

Vom 29. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8766

17. Wahlperiode 29. 02. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, Ulla Jelpke,
Petra Pau, Jens Petermann, Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Petra Sitte,
Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Niemanden abschreiben – Analphabetismus wirksam entgegentreten,
Grundbildung für alle sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Fehlende Grundbildung und Analphabetismus sind auch im hochindustrialisier-
ten Deutschland keine Randerscheinung, sondern ein Problem der gesellschaft-
lichen Mitte. Lange Zeit spielte das Problem fehlender Grundbildung und An-
alphabetismus in Deutschland in der öffentlichen Wahrnehmung keine große
Rolle. Mit Bestürzung und Entsetzen nahm die Öffentlichkeit die Ergebnisse der
im Frühjahr 2011 veröffentlichten leo. – Level-One-Studie zur Kenntnis. Erst-
mals wird das Ausmaß des Analphabetismus in Deutschland mit empirisch
erhobenen Zahlen greifbar. Während bisher von vier Millionen funktionalen An-
alphabetinnen und Analphabeten ausgegangen wurde, zeigen die Ergebnisse der
Studie ein weitaus erschreckenderes Bild für Deutschland: 7,5 Millionen funk-
tionale Analphabetinnen und Analphabeten im Alter von 18 bis 64 Jahren (über
14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung). Unter Berücksichtigung der bei-
den Altersgrenzen muss von einer weitaus größeren Dunkelziffer ausgegangen
werden. Von den 7,5 Millionen Analphabetinnen und Analphabeten haben
4,4 Millionen Menschen (etwa 58 Prozent) Deutsch als Muttersprache gelernt.
Analphabetismus ist also kein alleiniges „Migrantenproblem“. Der Deutsche
Volkshochschul-Verband e. V. (DVV) geht von 21 Millionen Erwachsenen in
Deutschland aus, die „gravierende Grundbildungsdefizite“ aufweisen (vgl. Stel-
lungnahme des DVV zum öffentlichen Fachgespräch „Alphabetisierung“ des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deut-
schen Bundestages am 8. Februar 2012).

Betroffene sind aufgrund ihrer geringen schriftsprachlichen Kompetenzen bei
gesellschaftlicher, sozialer, beruflicher und ökonomischer Teilhabe erheblich
eingeschränkt. Scham, Angst um die berufliche und damit finanzielle Zukunfts-
sicherung und vor gesellschaftlicher Stigmatisierung gehören zum Lebens-
alltag. Die Existenz einer solch hohen Anzahl an funktionalen Analphabetinnen
und Analphabeten verdeutlicht einmal mehr die schwerwiegenden Defizite un-

seres Bildungssystems. Es ist bemerkenswert, dass fast 80 Prozent der funk-
tionalen Analphabetinnen und Analphabeten einen Schulabschluss haben.
Ursachen und Gegenstrategien zur Problematik des Analphabetismus spielen in
den Curricula der Lehramtsausbildungen so gut wie keine Rolle. Der Mangel
an fachlich gut ausgebildeten Kursleiterinnen und Kursleitern für Alphabetisie-
rung und Grundbildung sowie die schlechte Bezahlung des vorhandenen Lehr-

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personals und das Fehlen öffentlicher Finanzmittel machen es unmöglich, ein
flächendeckendes und auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der potenziellen
Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer aufgebautes Kursangebot aufzu-
bauen. Weitere Hürden, wie die finanzielle Eigenbeteiligung für Kursteilneh-
mende, die häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, fehlende
Transparenz des Angebots und gesellschaftliche Sensibilisierung für Analpha-
betismus sowie die Angst der Betroffenen vor gesellschaftlicher Ausgrenzung
erschweren es ihnen, zunächst die Hemmschwelle zu überwinden und letztlich
auch einen Kurs in Anspruch zu nehmen.

Das Recht auf Bildung umfasst eine gute Grundbildung, die jedem zugänglich
sein muss. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die öffentlich aus-
finanziert werden muss. Dazu gehört eine flächendeckende Alphabetisierungs-
arbeit. Daneben ist es notwendig, ein öffentlich finanziertes und flächendecken-
des System der Bildungs- und Berufsberatung aufzubauen.

Bis heute scheinen die politischen Kräfte sowohl auf nationaler als auch auf in-
ternationaler Ebene selten über die Willensbekundung, Grundbildung und Al-
phabetisierung ernsthaft zu bekämpfen, hinauszugehen. Eine aktive zielgerich-
tete und nachhaltige Problemlösung wird hingegen nicht in Angriff genommen.
Das Ziel der Weltalphabetisierungsdekade 2003 bis 2012 der Vereinten Natio-
nen (VN), die Quote der Menschen mit unzureichender Alphabetisierung und
Grundbildung zu halbieren, wird absehbar nicht einmal annähernd erreicht. Die
„Nationale Strategie“ von Bund und Ländern in Deutschland, die vom Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der Kultusministerkonfe-
renz (KMK) im Dezember 2011 ins Leben gerufen wurde, greift ohne die Wir-
kung in alle Lebensbereiche und ohne Einbeziehung aller gesellschaftlichen
Kräfte zu kurz. Es ist wesentlich mehr notwendig als die Vermittlung von Lese-
und Schreibkompetenzen. Dazu braucht man eine ausreichende Grundbildung
für alle.

Es ist nicht hinnehmbar, dass im Prozess der gesellschaftlichen Sensibilisierung
wichtige und öffentlich wirksame Initiativen, wie z. B. „Schreib dich nicht ab –
Lern lesen und schreiben“ des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grund-
bildung e. V., lediglich durch Spenden- und Sponsorengelder, nicht aber durch
öffentliche Mittel finanziert werden. Gleiches gilt für das ALFA- TELEFON,
über das Betroffene, Vertrauenspersonen oder auch Multiplikatoren eine kos-
tenlose Beratung und Informationen über das Kursangebot vor Ort erhalten.

Daneben leisten die Volkshochschulen den entscheidenden Beitrag zur Vermitt-
lung von Grundbildung und Alphabetisierung. Sie decken den größten Teil der
Alphabetisierungskurse ab (etwa 90 Prozent). Durch zusätzliche finanzielle
Mittel müssen sie dabei unterstützt werden, ihre Kursangebote weiter auszu-
bauen.

Es gibt europäische Länder, die Deutschland weit voraus sind. In Großbritannien
fiel bereits 2001 der Startschuss für eine nationale Alphabetisierungsstrategie.
3,6 Mrd. Euro wurden in einem Zeitraum von zehn Jahren für die Grundbildung
und Alphabetisierung investiert. Ziel war es, bis zum Jahr 2010 2,25 Millionen
Betroffene zu erreichen. Im Vergleich dazu sehen die in Deutschland geplanten
Investitionen und die damit verbundenen Zielsetzungen von Bund und Ländern
sehr dürftig aus und lassen nicht auf die Erkenntnis eines ernstzunehmenden
Problems schließen. Der Ausbau des Kursangebots von 20 000 auf 100 000
Kursplätze erscheint bei diesem Vergleich wenig ambitioniert.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ein Zehn-Jahres-Programm aufzulegen mit dem Ziel, die Zahl der von Anal-
phabetismus Betroffenen zu halbieren. Dazu soll ein Finanzvolumen, das
mindestens dem der Nationalen Strategie zur Alphabetisierung von Groß-
britannien (3,6 Mrd. Euro) entspricht, von Bund, Ländern und Kommunen
bereitgestellt werden. Die Bundesregierung soll dem Deutschen Bundestag
unverzüglich einen gemeinsam mit den Ländern erarbeiteten konkreten Um-
setzungsplan von Bund und Ländern in Ergänzung zu der tabellarischen Auf-
listung von Programmen und Projekten, die mehr oder weniger mit der
Alphabetisierung und der Sicherung der Grundbildung zu tun haben, vor-
legen. Dieser Umsetzungsplan soll enthalten: eine genaue Definition von
konkreten Zielvorgaben, Zuständigkeiten, bereitgestellten finanziellen Mit-
teln und Zeitplänen;

2. gemeinsam mit den Ländern dauerhaft, auf Nachhaltigkeit angelegte
Finanzierungsmodelle zur Sicherstellung des qualitativen und quantitativen
Ausbaus von Grundbildung und Alphabetisierungskursen in der Erwachse-
nenbildung und im Bereich der Integrationskurse zu erarbeiten und umzuset-
zen;

3. dafür Sorge zu tragen, dass die zusätzlichen Mittel nicht auf Kosten anderer
Bildungsmaßnahmen gehen;

4. gemeinsam mit den Ländern und allen gesellschaftlich relevanten Kräften
im Rahmen der Nationalen Strategie gegen Analphabetismus verbindlich zu
vereinbaren, dass Grundbildung flächendeckend gebührenfrei und für jeden
zugänglich ist;

5. Institutionen, wie etwa der Deutsche Volkshochschul-Verband e. V. oder der
Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e. V., und deren wir-
kungsträchtige Projekte finanziell zu unterstützen, so dass sie nicht nur auf
Sponsoren und Spenden angewiesen sind und Planungssicherheit gewinnen;

6. sich für eine angemessene Bezahlung der Kursleiterinnen und Kursleiter
(häufig Honorarkräfte) einzusetzen, um u. a. das Berufsbild bzw. die Attrak-
tivität einer solchen Tätigkeit zu stärken;

7. gemeinsam mit den Ländern die Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte in
der Grundbildung zu stärken, indem:

a) die Qualifizierung zu Kursleiterinnen und Kursleitern professionalisiert
ist;

b) die Themen Grundbildung und Alphabetisierung in die Lehreraus- und
-weiterbildung verstärkt eingebunden und die Diagnosefähigkeiten der
Fachkräfte verbessert werden;

c) in Zusammenarbeit mit den Ländern gemeinsame Standards für die Aus-
und Weiterbildung des notwendigen Lehrpersonals zu entwickeln und
umzusetzen;

8. gemeinsam mit den Ländern und Kommunen die allgemein bildenden Schu-
len zu unterstützen, ihrem Bildungsauftrag nachzukommen und jedem Schü-
ler und jeder Schülerin mindestens eine ausreichende gute Grundbildung zu
vermitteln. Jeder Schulabschluss muss sichern, dass Schülerinnen und Schü-
ler eine gute Grundbildung haben;

9. auf die Länder dahingehend einzuwirken, dass im Bereich der beruflichen
Schulen in den berufsspezifischen Unterrichtsinhalten und in der Allgemein-
bildung Grundbildung als fachübergreifendes Prinzip verstanden wird;

Drucksache 17/8766 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
10. dafür Sorge zu tragen, dass so viele Kursplätze in Alphabetisierungskursen
angeboten werden, dass es möglich wird, wenigstens eine Halbierung der
Betroffenenzahlen im unter Nummer 1 geforderten Dekadezeitraum zu er-
reichen. Dazu sollen die Fortschritte jährlich erfasst werden;

11. in Zusammenarbeit mit den Ländern gemeinsame Curricula für die Kurse
zu entwickeln und umzusetzen unter Berücksichtigung der vielfältigen Ur-
sachen und unterschiedlichen Qualifikationsniveaus;

12. e-learning- und blended-learning-Angebote auszubauen, da solche Ange-
bote einerseits eine höhere Anonymität geben und andererseits durch die
Loslösung von der Festlegung von Ort und Zeit den Lernenden mehr Flexi-
bilität gestatten;

13. Schwerpunkteinrichtungen bei den Bildungsträgern zu errichten, die ein
vielfältiges und ursachenspezifisches Grundbildungsangebot bieten;

14. gemeinsam mit den Ländern und Kommunen ein breites, niedrigschwelli-
ges und öffentlich finanziertes Bildungs- und Berufsberatungsangebot zu
schaffen;

15. die Schaffung eines transparenten, dauerhaft wirkenden und kooperieren-
den Netzwerks, in denen relevante gesellschaftliche Akteure, wie Ver-
bände, schulische und außerschulische Einrichtungen, Betriebe und Ge-
werkschaften zusammenarbeiten, verstärkt voranzutreiben und in Zusam-
menarbeit mit den Ländern notwendige Strukturen zu schaffen, die eine
nachhaltige Grundbildung und Alphabetisierung sichern;

16. die Medienanstalten, sowohl die privaten als auch im Besonderen die öf-
fentlich-rechtlichen, ihrem Bildungsauftrag entsprechend als Partner zu
gewinnen und sie in die gesellschaftliche Pflicht zu nehmen, um sie für die
Enttabuisierung von Analphabetismus, die Sensibilisierung der Gesell-
schaft, die Motivierung von Betroffenen dauerhaft zu gewinnen;

17. Arbeitgeber mit in die gesellschaftliche Pflicht nehmen, Beschäftigte mit
einer mangelnden Grundbildung zu motivieren und dabei zu unterstützen,
die Defizite abzubauen, etwa durch die Teilnahme an einem Alphabetisie-
rungskurs.

Berlin, den 29. Februar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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