BT-Drucksache 17/8679

Sachstand von ACTA, IPRED, TRIPS und der Warnhinweisstudie

Vom 21. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8679
17. Wahlperiode 21. 02. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, Agnes Alpers,
Herbert Behrens, Sevim Dag˘delen, Dr. Rosemarie Hein, Andrej Hunko, Ulla Jelpke,
Dr. Lukrezia Jochimsen, Petra Pau, Jens Petermann, Kathrin Senger-Schäfer,
Raju Sharma, Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Sachstand von ACTA, IPRED, TRIPS und der Warnhinweisstudie

Die Proteste gegen das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) haben in
mehreren EU-Mitgliedstaaten einen Prozess zur Neubewertung des Abkom-
mens und seiner Folgewirkungen eingeleitet. Allein in Deutschland nahmen
Zehntausende zumeist junge Menschen am Aktionstag gegen ACTA teil. Sie
thematisierten insbesondere Fragen einer drohenden Einschränkung der Kom-
munikationsfreiheit im Internet, einer heraufziehenden Echtzeitüberwachung
des Internet-Traffics und einer zunehmenden Privatisierung der Rechtsdurch-
setzung im Falle von Urheberrechtsverletzungen, aber auch einer weiteren
Verschlechterung in der Medikamentenversorgung von Entwicklungsländern.
Aufgrund der Proteste, alternativ wegen vieler Unsicherheiten in der Bewertung
und Auslegung des Abkommens, setzten mehrere Mitgliedstaaten den Ratifizie-
rungsprozess vorläufig aus, darunter auch Deutschland.

Viele Hintergrundinformationen zum Abkommen sind bisher unklar, unbekannt
oder zumindest nicht öffentlich zugänglich. Zudem fördern weitere Aktivitäten
und Maßnahmen im internationalen und europäischen Rechtsrahmen sowie auf
nationalstaatlicher Ebene Befürchtungen, mit oder im Windschatten von ACTA
käme es zu weitreichenderen Einschränkungen, als sie der Vertragstext vorder-
gründig hergibt. So hat die Europäische Kommission vor wenigen Tagen eine
„Roadmap“ zur Novellierung der Richtlinie zur Durchsetzung geistiger Eigen-
tumsrechte (Intellectual Property Rights Enforcement Directive – IPRED) ver-
öffentlicht, von der Kritiker befürchten, dass sie über die ACTA-Passage zur
„Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums im digitalen Umfeld“ hinaus-
geht und zu Regelungen zurückkehrt, die aufgrund von Protesten einer kritischen
Öffentlichkeit im Netz bereits vor längerem aus ACTA gestrichen werden muss-
ten.

Ferner wurde durch jüngste Medienberichte bekannt, dass ACTA Gegenstand
von Beratungen in der Expertengruppe zum Übereinkommen über handelsbezo-
gene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum (Agreement on Trade-Related
Aspects of Intellectual Property Rights – TRIPS) des EU-Ministerrates und dem

TRIPS Council der Welthandelsorganisation (World Trade Organization –
WTO) ist. Dies erscheint im Widerspruch zur Antwort der Bundesregierung vom
10. Dezember 2009 auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. Seiner-
zeit verlautbarte die Bundesregierung auf die Frage des Bezugs von ACTA zu
TRIPS: „Bestehende internationale Abkommen, wie das Übereinkommen über
handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum (TRIPS), werden
durch ACTA nicht berührt“ (Bundestagsdrucksache 17/186).

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Schließlich kommt ein kürzlich veröffentlichtes, vom Bundesministerium für
Wirtschaft und Technologie (BMWi) in Auftrag gegebenes Gutachten zu dem
Ergebnis, die Einführung eines vorgerichtlichen Warnhinweismodells unter
Inpflichtnahme der Zugangsanbieter sei europa- und verfassungsrechtlich nicht
zu beanstanden. Der Verfasser der Studie, Prof. Rolf Schwartmann, hatte Ende
November 2010, noch vor Vergabe des Gutachtens, in einer Stellungnahme für
die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen
Bundestages vorgeschlagen: „Nicht eine Behörde, sondern die Internet Service
Provider selbst sollten Nutzer, bei denen sie urheberrechtswidrige Aktivitäten
feststellen, mahnen und ihnen die ‚gelbe Karte zeigen‘“ (Ausschussdrucksache
17(24)009-H). Ein Jahr zuvor hatte der für die Vergabe des Gutachtens verant-
wortliche Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie, Hans-Joachim Otto, einen nahezu gleichlautenden Vorschlag
unterbreitet. Ein Nachrichtenportal gab ihn mit den Worten wieder: „Nicht eine
Behörde, sondern die Internet Service Provider selbst sollten Kunden, bei denen
sie urheberrechtswidrige Aktivitäten feststellen, zweimal mahnen. Die Kunden
bekämen sozusagen die gelbe Karte von ihrem Provider gezeigt“ (heise online,
8. Dezember 2009, www.heise.de/newsticker/meldung/IT-Gipfel-Nicht-drei-
sondern-nur-zwei-Strikes-880366.html).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wann genau und mit welchem Wortlaut wurde die Vollmacht zur Unter-
zeichnung des ACTA-Abkommens von der Bundesregierung zurückgezo-
gen?

2. Welche Gründe stehen einer Unterzeichnung entgegen?

3. Inwieweit hat sich die Bundesregierung mit anderen Regierungen vor dem
Zurückziehen der Vollmacht zum Unterzeichnen abgestimmt?

4. Wann soll die Vollmacht zur Unterzeichnung wieder erteilt werden?

5. Wann wird sich das Bundeskabinett mit ACTA befassen, und wann plant
oder erwägt die Bundesregierung die Unterzeichnung des Abkommens?

6. Welche Regierungen haben das Abkommen bisher nicht unterzeichnet, und
welche Gründe wurden hierfür angeführt?

7. Welche Staaten haben derzeit den Ratifizierungsprozess von ACTA unter-
brochen, und aus welchem Grund?

8. Welche Folgen hätte eine abschließende oder längerfristige Nichtratifizie-
rung durch einen der EU-Mitgliedstaaten?

9. Ist im Fall einer Nichtratifizierung durch einen Mitgliedstaat der EU ein
teilweises oder gestuftes Ratifizierungsverfahren möglich oder geplant?

10. In welchen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind bei der Ratifizie-
rung von ACTA unmittelbare Rechtsänderungen notwendig?

11. In welchen weiteren an ACTA teilnehmenden Staaten sind für die Ratifizie-
rung unmittelbare Rechtsänderungen notwendig?

12. Falls in Deutschland keine unmittelbaren Rechtsänderungen zur Ratifizie-
rung notwendig sind, warum unterstützt die Bundesregierung das Abkom-
men?

13. Welche weiteren Staaten wollen ACTA beitreten oder planen, dies zu tun?

14. Welche Protokolle, Vereinbarungen oder weiteren Dokumente existieren,
die für die Auslegung und das Verständnis des Vertragstextes relevant sind
oder notwendig sein könnten?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8679

15. Wann sollen diese Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wer-
den?

16. Welche Personen welcher Behörden bzw. Abteilungen haben für die Bun-
desregierung an den ACTA-Verhandlungen teilgenommen?

17. Mit welchen anderen öffentlichen oder privaten Institutionen hat sich die
Bundesregierung bezüglich ihrer Verhandlungsposition zu ACTA abge-
stimmt?

18. Welche Initiativen wird die Bundesregierung vor der öffentlichen ACTA-
Anhörung im Europäischen Parlament am 1. März 2012 ergreifen?

19. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung hinsichtlich des Statements
der Kommission, man müsse die Abgeordneten davon überzeugen, dass
die Proteste nicht berechtigt seien (heise online, 12. Februar 2012,
www.heise.de/newsticker/meldung/Europaeische-Kommission-zeigt-sich-
von-ACTA-Protesten-unbeeindruckt-1433102.html)?

20. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Ansicht der Kommission, wonach
es misslich sei, dass sich die Diskussion um ACTA von den Freihandels-
aspekten weg zu den Grundrechten verschoben habe?

21. Inwieweit hat die Kommission Deutschland, wie im heise-Bericht wieder-
gegeben, „ergänzendes Informationsmaterial“ zur Verfügung gestellt, um
ACTA-Gegner zu überzeugen, bzw. welche Verabredungen wurden hierzu
getroffen?

22. Bestehen neben der zeitlichen Koinzidenz der Veröffentlichung des ACTA-
Vertragstextes durch die Europäische Kommission und der Bewertung zur
Anwendung der Richtlinie zur Durchsetzung der Rechte des geistigen
Eigentums (KOM(2010) 779 endg.) inhaltliche oder politische Parallelen
zwischen ACTA und der Novellierung von IPRED?

23. Aus welchen Gründen erfordert ACTA nach Angaben der Europäischen
Kommission „keine Überarbeitung oder Anpassung des EU-Rechts und
keine Überarbeitung der Maßnahmen oder Instrumente, mit denen ein-
schlägige EU-Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden“
(10 Mythen über das ACTA), und warum empfiehlt die Europäische Kom-
mission zugleich aber in einer Roadmap (Stand: Januar 2010) zur Novellie-
rung von IPRED eine Überarbeitung von Maßnahmen zur Rechtsdurchset-
zung und Änderungen von Rechtsvorschriften auf EU-Ebene?

24. Wird sich die Bundesregierung zur Novellierung von IPRED im Sinne der
in der Roadmap beschriebenen Politikoptionen sowie der dort benannten
Legislativ- und außergerichtlichen Maßnahmen einsetzen?

25. Ist es richtig, dass laut einem Protokoll der Sitzung der TRIPS-Experten-
gruppe des EU-Ministerrats von Anfang Februar 2012 ein Vertreter der
Europäischen Kommission vermerkte, Hauptzweck von ACTA sei es, dass
das Abkommen mittelfristig zum internationalen Standard werde, und teilt
die Bundesregierung diese Auffassung?

26. Wie wurden im Rahmen der Tätigkeit der TRIPS-Expertengruppe des EU-
Ministerrats die Straßenproteste gegen ACTA sowie Aktionen gegen Regie-
rungswebseiten in Österreich und Tschechien bewertet?
Ist es richtig, dass diesen mangelhafte Informationen über das Abkommen
zugeschrieben wurden?

27. Wie wurde im Rahmen der Tätigkeit der TRIPS-Expertengruppe des EU-
Ministerrats der Rücktritt des ACTA-Berichterstatters im Europäischen
Parlament, Kader Arif, bewertet?

Drucksache 17/8679 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Ist es richtig, dass Kader Arifs Rücktritt, entgegen der offiziellen Begrün-
dung, damit gegen die fehlende Beteiligung der Zivilgesellschaft, ein ins-
gesamt intransparentes Verfahren und die Nichtachtung von Entschließun-
gen des Europäischen Parlaments zu protestieren, auf dessen Engagement
im französischen Präsidentschaftswahlkampf auf Seiten des sozialistischen
Bewerbers François Hollande zurückgeführt wurde?

28. Bestehen weitere Protokolle der TRIPS-Expertengruppe des EU-Minister-
rats, in denen ACTA behandelt wird, und wann wurden oder werden diese
dem Deutschen Bundestag vorgelegt?

29. Wann und zu welchem Zwecke werden der TRIPS Council und der General
Council der WTO ACTA behandeln?

30. Wie viele und welche Bewerber gab es für das vom BMWi vergebene
Gutachten „Vergleichende Studie über Modelle zur Versendung von Warn-
hinweisen durch Internet-Zugangsanbieter an Nutzer bei Urheberrechts-
verletzungen“?

31. Welche Sachverhalte sprachen für eine Gutachtenvergabe an Prof. Rolf
Schwartmann, und welche Kosten verursachte die Studie?

32. Ist oder war der Bundesregierung bekannt, dass Prof. Rolf Schwartmann im
Vorfeld seiner gutachterlichen Tätigkeit im Rahmen der Studie eine nahezu
wortgleiche Position zu Warnhinweisen vertrat wie der für die Vergabe der
Studie maßgeblich mitverantwortliche Parlamentarische Staatssekretär beim
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Hans-Joachim Otto, und wie
bewertet sie diesen Sachverhalt im Hinblick auf das Ergebnis der Studie?

33. Wie bewertet die Bundesregierung den Sachverhalt, dass in dem vorgeleg-
ten rechtswissenschaftlichen Gutachten durchgängig von Raub und Pirate-
rie gesprochen wird, wenn unter Raub die Wegnahme einer Sache unter
Gewalt oder Drohungen mit Gefahren für Leib und Leben zu verstehen ist
(§ 249 des Strafgesetzbuchs), daher Raub zu mittelschwerer und schwerster
Kriminalität gehört und Piraterie ebenfalls für schwerste Gewaltkriminalität
auf Hoher See steht (Brodowski/Freiling: Cyberkriminalität, Computer-
strafrecht und die digitale Schattenwirtschaft, Berlin 2011, S. 109)?
Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass Urheberrechtsverletzungen
ähnlich wie Delikte schwerster Gewaltkriminalität zu behandeln sind oder
mit dieser gleichzusetzen sind?

34. Welche Rechteinhaber und Diensteanbieter werden im Einzelnen vom
BMWi im Rahmen des von ihm initiierten „Wirtschaftsdialogs zur Be-
kämpfung der Internetpiraterie“ eingeladen, um am 15. März 2012 die
Ergebnisse des Gutachtens zu diskutieren?

35. Werden auch Akteure der Zivilgesellschaft, die sich gegen Onlineüber-
wachung und Warnhinweismodelle wenden, zur Diskussion des Gutachtens
am 15. März 2012 eingeladen?
Wenn ja, welche?
Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 16. Februar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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