BT-Drucksache 17/8653

Überstellung von Asylsuchenden im Dublin-Verfahren nach Ungarn trotz drohender Inhaftierung und Abschiebung vor Ende des Asylverfahrens

Vom 10. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8653
17. Wahlperiode 10. 02. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Christine Buchholz, Annette Groth,
Inge Höger, Andrej Hunko, Niema Movassat, Thomas Nord, Raju Sharma, Frank
Tempel, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler und der Fraktion DIE LINKE.

Überstellung von Asylsuchenden im Dublin-Verfahren nach Ungarn trotz
drohender Inhaftierung und Abschiebung vor Ende des Asylverfahrens

Ende des vergangenen Jahres warnte die Menschenrechtsorganisation Ungari-
sches Helsinki-Komitee vor Überstellungen von Asylsuchenden im so genann-
ten Dublin-Verfahren nach Ungarn. Durch die Dublin-II-Verordnung sind Asyl-
suchende gezwungen, ihr Verfahren im Regelfall in dem Land zu betreiben, in
dem sie zuerst die EU betreten haben. Umgekehrt sind die Ersteinreisestaaten
verpflichtet, ein den einschlägigen EU-Richtlinien entsprechendes Verfahren
durchzuführen.

Das Ungarische Helsinki-Komitee zeigt in einer Stellungnahme vom 16. Dezem-
ber 2011 („Access to protection jeopardized“), dass insbesondere bei sog. Dub-
lin-Rückkehrern in Ungarn nur sehr eingeschränkt Zugang zu einem Asylverfah-
ren besteht. Statt die ursprünglich (vor der Weiterreise in andere EU-Staaten)
gestellten Asylanträge weiterzubearbeiten, werden nach der Rücküberstellung
gestellte Asylanträge als Folgeanträge behandelt. Die sog. Dublin-Rückkehrer
werden außerdem als ausreisepflichtige illegale Einwanderer behandelt. Trotz
laufenden Asylverfahrens werden die Betroffenen deshalb abgeschoben – ent-
weder in ihren Herkunftsstaat oder in von Ungarn entsprechend deklarierte
„sichere Drittstaaten“. Darunter befinden sich die Ukraine und Serbien, obwohl
dort keineswegs Zugang zu einem fairen Asylverfahren und menschenwürdige
Aufnahmebedingungen garantiert sind. Ihnen droht also eine Kettenabschiebung
in ihren Herkunftsstaat.

Auch die rechtlichen Grundlagen und die Asylpraxis selbst werden vom Unga-
rischen Helsinki-Komitee stark kritisiert. Eine Inhaftierung Asylsuchender bis zu
zwölf Monate sei rechtlich möglich. Daraus habe sich eine routinemäßige Inhaf-
tierung Asylsuchender entwickelt. Eine formale gerichtliche Überprüfung der
Haftverlängerung finde zwar statt, führe aber quasi automatisch zu einer Haft-
verlängerung, da die Gerichte solche Haftprüfungen als reine Formalität ohne
jede individuelle Prüfung vornähmen. Davon seien auch sog. Dublin-Rück-
kehrer betroffen, weil ihre Anträge als Folgeanträge behandelt werden und sie
sofort ausreisepflichtig würden.
Für besondere öffentliche Aufmerksamkeit sorgte in den vergangen Wochen ein
Fall in Bayern. Vier syrische Asylbewerber waren aus Ungarn nach Deutschland
weitergeflohen, weil Ungarn bis mindestens September 2011 Syrien als sicheres
Herkunftsland angesehen hat. Nach einer Versicherung der ungarischen Seite,
dass diese Einstufung zurückgenommen worden sei, wurden die Betroffenen am
1. bzw. 2. Februar 2012 nach Ungarn überstellt.

Drucksache 17/8653 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Asylsuchende aus Syrien sind im vergangenen und in diesem Jahr
aus Deutschland nach Ungarn rücküberstellt worden (bitte nach Übernahme-
ersuchen und Überstellungen nach Monaten auflisten)?

2. In welchem Umfang hat die Bundesrepublik Deutschland Asylsuchende aus
anderen Herkunftsstaaten im genannten Zeitraum nach Ungarn überstellt bzw.
Ungarn um Übernahme ersucht (bitte nach Monaten und den zehn häufigsten
Herkunftsstaaten auflisten)?

3. Welche Entscheidungen/Urteile europäischer Gerichte sind der Bundesregie-
rung bekannt, die sich mit der Ausgestaltung des ungarischen Asylsystems
oder Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn befassen, und was ist der
Tenor dieser Entscheidungen/Urteile?

4. Welche eigenen Erkenntnisse hat die Bundesregierung zum Asylsystem in
Ungarn, insbesondere

a) die mögliche Inhaftierung von Asylsuchenden nach ihrer Einreise,

b) die mögliche Inhaftierung von Asylsuchenden nach ihrer Rücküberstel-
lung aus einem anderen sog. Dublin-Staat,

c) die Inhaftierung unbegleiteter Minderjähriger und von Familien mit Kin-
dern während des laufenden Asylverfahrens (Erst- und Folgeverfahren,
auch nach einer Dublin-Überstellung),

d) den prozeduralen Umgang mit Asylsuchenden, die im Rahmen des Dublin-
Verfahrens nach Ungarn überstellt wurden,

e) die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende (Erst- und Folgeanträge
sowie sog. Dublin-Rückkehrer), die sich nicht in Haft bzw. einer Gewahr-
samseinrichtung (detention center) befinden, bezüglich Verpflegung,
Unterkunft und medizinische Versorgung,

f) den Umgang mit besonders schutzbedürftigen Gruppen von Asylsuchenden
(unbegleitete Minderjährige, alleinreisende Frauen, Traumatisierte, Kranke)

betreffend?

5. Welche Staaten werden nach Kenntnis der Bundesregierung von den zustän-
digen Asylbehörden in Ungarn als „sichere Drittstaaten“ bzw. „sichere Her-
kunftsstaaten“ angesehen?

6. Was ist der Bundesregierung über die Praxis der zuständigen ungarischen Be-
hörden im Falle syrischer Asylbewerber bekannt, liegen der Bundesregierung
hierzu Stellungnahmen der ungarischen Regierung vor, und was ist ihr
Inhalt?

7. Inwieweit trifft es nach Kenntnissen der Bundesregierung zu, dass Asyl-
suchende von Ungarn in „sichere Drittstaaten“ abgeschoben werden, ohne
dass ein Asylverfahren in Ungarn abgeschlossen wurde?

8. Finden Rückschiebungen von Ungarn auch in die Ukraine statt, obwohl
Nichtregierungsorganisationen wie das Border Monitoring Project Ukraine
und der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) die
Ukraine wegen der Inhaftierung Asylsuchender, der Nichtbeachtung von
Asylanträgen und der unwürdigen Lebensbedingungen in den ukrainischen
Gewahrsamseinrichtungen kritisiert haben, und wenn ja, wie bewertet die
Bundesregierung dies?

9. Inwiefern berücksichtigt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) in Entscheidungen über ein Ersuchen an einen anderen sog. Dublin-
Staat zur Übernahme eines Asylsuchenden, ob dessen Herkunftsstaat trotz

gegenteiliger Überzeugung des BAMF im Aufnahmestaat als „sicherer Her-
kunftsstaat“ gewertet wird?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8653

10. Ist das BAMF nach Ansicht der Bundesregierung nach der Entscheidung
des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in den Rechtssachen C-411/10 und
C-493/10 verpflichtet, im Einzelfall oder bei entsprechend substantiiertem
Vorbringen oder regelmäßig in Bezug auf die am Dublin-Verfahren beteilig-
ten Staaten zu prüfen, ob die dortigen Asylverfahren und Aufnahmebedin-
gungen den Anforderungen der einschlägigen EU-Richtlinien und der
Grundrechtecharta entsprechen und Asylsuchende dorthin überstellt werden
können?

Was folgt ansonsten aus dieser Entscheidung des EuGH für die Tätigkeit des
BAMF?

11. Welche Schritte hat das BAMF bislang unternommen, um eine solche Prü-
fung der Verfahrensgarantien und Aufnahmebedingungen in den am Dublin-
Verfahren beteiligten Staaten vorzunehmen, bzw. anhand welcher Kriterien
prüft sie dies im konkreten Einzelfall?

12. Wie viele Mitarbeiter hat das BAMF 2011 und 2012 für welche Zeiträume
in welche der am Dublin-Verfahren beteiligten Staaten entsandt, um die
dortigen Aufnahme- und Asylverfahrensbedingungen für Asylsuchende
und insbesondere sog. Dublin-Rückkehrer in Augenschein zu nehmen und
zu bewerten?

13. Inwieweit und mit welcher Begründung geht die Bundesregierung davon
aus, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn vor
dem Hintergrund z. B. der Ausführungen des Ungarischen Helsinki-Komi-
tees in der Stellungnahme vom 16. Dezember 2011 systemische Mängel im
Sinne der Rechtsprechung des EuGH aufweisen?

14. Wie können Asylsuchende die Annahme eines „sicheren Drittstaates“
widerlegen, was nach dem Urteil des EuGH möglich sein muss, wenn ihnen
erst im Zuge der Überstellung in den vermeintlich „sicheren Drittstaat“
überhaupt bekannt gemacht wird, dass die Überstellung beabsichtigt ist, so
dass die Betroffenen rein faktisch keinerlei Gelegenheit mehr haben, rechts-
anwaltliche Hilfe zu suchen und/oder sich rechtshilfesuchend an ein Gericht
zu wenden?

15. In welchem Umfang wurden bislang bei Asylsuchenden, für die nach der
Dublin-Verordnung zunächst Griechenland als Ersteinreisestaat zuständig
wäre, Rückübernahmeersuchen an andere EU-Mitgliedstaaten (über die die
Einreise gegebenenfalls fortgesetzt wurde) gestellt bzw. Überstellungen tat-
sächlich vollzogen (bitte nach Monaten und Mitgliedstaaten differenziert
angeben)?

Berlin, den 10. Februar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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