BT-Drucksache 17/863

Konsequenzen aus einer vorläufigen Tarifunfähigkeit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen

Vom 26. Februar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/863
17. Wahlperiode 26. 02. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Werner
Dreibus, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann und der Fraktion
DIE LINKE.

Konsequenzen aus einer vorläufigen Tarifunfähigkeit der Tarifgemeinschaft
Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen

„Wer um des Profit Willens auf Scheintarifverträge setzt, war schon immer
schlecht beraten und muss sich nun auf umfangreiche Nachzahlungen einstel-
len“, erklärte Helga Schwitzer, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG
Metall, anlässlich des Urteils des Landesarbeitsgerichts Berlin am 7. Dezember
2009 zur Feststellung der Tariffähigkeit der Christlichen Gewerkschaften für
Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP). In zweiter Instanz wurde dort
der CGZP die Tariffähigkeit abgesprochen.

Bereits 2003 hat die CGZP den ersten bundesweiten Flächentarifvertrag für
Leiharbeitsunternehmen abgeschlossen. Dabei machte sie sich eine Ausnahme-
regelung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) zunutze: Der Grundsatz
„Equal-Pay“ kann durchbrochen werden, wenn ein für Leiharbeitnehmer/Leih-
arbeitnehmerinnen gültiger Tarifvertrag vorliegt. Diese Ausnahmeregelung
lässt den Gleichbehandlungsgrundsatz ins Leere laufen. Mit fatalen Folgen für
den Arbeitsmarkt und die Beschäftigten. Denn mit Hilfe dieses Schlupflochs
vereinbarten die so genannten Christlichen Gewerkschaften Dumpinglöhne in
der Leiharbeitsbranche. Die CGZP hatte solche Scheintarifverträge abgeschlos-
sen und damit zum Teil Löhne von nur rund 4,80 Euro durchgesetzt.

Nicht umsonst bezeichnet die Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und
Soziales Carola Bluhm die Entscheidung als Meilenstein in der Tarifgeschichte
und ein wichtiges Signal für die Beschäftigten in der Leiharbeit (Pressemittei-
lung vom 7. Dezember 2009). Zwar hat das Landesarbeitsgericht (LAG) die
Rechtsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht zugelassen; sollte das Bundes-
arbeitsgericht (BAG) das Urteil rechtskräftig bestätigen, wären die Gesamt-
sozialversicherungsbeiträge auf der Grundlage der eigentlich durch Vergleich
der Löhne mit der Stammbelegschaft entstandenen Entgeltansprüche nach dem
Grundsatz „Equal-Pay“ nachzuzahlen. Die Arbeitgeber würden den Sozialver-
sicherungsträgern auch für den Arbeitnehmeranteil zu den Sozialversiche-
rungsbeiträgen haften. Da die CGZP-Tarifverträge bereits seit 2003 angewandt
werden, sind in dieser Zeit enorme Beitragsforderungen aufgelaufen. Insgesamt

wird der Unterschied der Gesamtsozialversicherungsbeiträge für die über
200 000 betroffenen Leiharbeitnehmer/Leiharbeitnehmerinnen auf eine halbe
Milliarde Euro pro Jahr geschätzt. Dieser Betrag steht den Sozialversicherungs-
trägern grundsätzlich rückwirkend bis zu vier Jahre zu, ohne dass die einzelnen
Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen ihren Lohnanspruch geltend machen. Da
aber die Beitragsnachforderungen einer vierjährigen Verjährungsfrist unter-
liegen, können diese für die Jahre 2003, 2004 und 2005 nicht mehr geltend ge-

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macht werden. Nach § 25 Absatz 2 Satz 2 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB IV) wird die vierjährige Verjährungsfrist des Sozialversicherungsan-
spruchs für die Dauer der Betriebsprüfung allerdings gehemmt.

Bisher sehen sich aber weder die Sozialversicherungsträger noch die Bundes-
regierung in der Lage, wenigstens die Gesamtsozialversicherungsbeiträge vor
Gericht geltend zu machen oder zumindest den Verzicht auf die Einrede der
Verjährung zu erwirken.

Argumentiert wird, dass sich die Sozialversicherungsträger bei der Frage, ob
Zweifel an der Tariffähigkeit von Vereinigungen bestehen, neutral verhalten
müssten und dass „gegenwärtig und vor einer abschließenden Entscheidung der
Arbeitsgerichtsbarkeit weder durch die Einzugstellen geltend zu machen noch
bei turnusmäßigen Prüfungen nach § 28p SGB IV durch die Träger der Renten-
versicherung zu erheben sind“ (Besprechung des GKV-Spitzenverbandes, der
Deutschen Rentenversicherung Bund und der Bundesagentur für Arbeit über
Fragen des gemeinsamen Beitragseinzugs am 13./14. Oktober 2009).

Problematisch ist diese Rechtsaufassung vor allem aus zwei Gründen: Erstens
befinden sich gerade unter den so genannten Aufstockern viele Zeitarbeitnehmer/
Zeitarbeitnehmerinnen. Es werden also Steuermittel dafür verwendet, dass Leih-
arbeitnehmer/Leiharbeitnehmerinnen unterhalb vergleichbarer Stammbeleg-
schaften bezahlt werden. Gleiches gilt für Leiharbeitnehmer/Leiharbeitnehme-
rinnen, die aufgrund der fehlenden Sozialversicherungsbeiträge mit niedrigeren
Rentenanwartschaften zu rechnen haben und deshalb auf die Grundsicherung im
Alter angewiesen sein könnten. Auch müssten dann Steuermittel für die soziale
Absicherung der Betroffenen aufgewendet werden. Zweitens belasten die Folgen
der Finanz- und Wirtschaftskrise die Sozialversicherungssysteme spürbar. Auch
in diesem Jahr wird sich die Situation kaum verbessern. Schon deshalb sollten
die Sozialversicherungsträger jede sich bietende Möglichkeit nutzen, um die
eigene Finanzausstattung zu verbessern und mögliche Haushaltsrisiken auf ein
Minimum zu reduzieren.

Egal wie das Urteil des BAG lauten wird, es hätte weitreichende Folgen: Ge-
winnt die CGZP, erhält eine systematische Praxis des Lohndumpings grünes
Licht. Verliert die CGZP, kämen auf die Arbeitgeber bzw. die Verleiher Nach-
forderungen in Milliardenhöhe zu.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Hat die Bundesregierung, angesichts der Bedeutung dieses Verfahrens für
die Sozialversicherungsträger, bereits im April 2009, als die erstinstanzliche
Entscheidung zur Tariffähigkeit der CGZP bekannt wurde, mit diesen Ge-
spräche über mögliche Konsequenzen, die sich aus dem Urteil ergeben, ge-
führt?

Wenn ja, welchen Inhalt und welches Ergebnis hatten diese Gespräche?

2. Welche Maßnahmen wurden insbesondere in der Bundesagentur für Arbeit
(BA) unternommen, um auch die möglichen Beitragsmittel aus dem Jahr
2005 zu sichern, und welche Position haben die Vertreter/Vertreterinnen der
Bundesministerien im Verwaltungsrat der BA zu dieser Frage im Rahmen
des Abstimmungsprozesses mit den anderen Spitzenverbänden der Sozial-
versicherung eingenommen?

Mit welchem Ergebnis wurden hier Gespräche mit der Deutschen Renten-
versicherung Bund bzw. dem GKV-Spitzenverband der Krankenkassen ge-
führt?

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3. Werden die Träger der Rentenversicherung von der anstehenden BAG-Ent-
scheidung etwaig betroffene Arbeitgeber im Rahmen der turnusmäßigen
Betriebsprüfung über die beitragsrechtlichen Folgen aufgrund einer mög-
lichen Nichtigkeit der Tarifverträge mit der CGZP aufklären?

Wenn ja, wurde bereits damit begonnen, und wenn nein, aus welchen
Gründen wurde bisher darauf verzichtet?

4. Welche Unternehmen wurden bisher durch Träger der Rentenversicherung
über die möglichen beitragsrechtlichen Folgen einer Tarifunfähigkeit der
CGZP informiert (bitte nach Bundesländern geordnet)?

5. Werden bei einer entsprechenden Information an die betreffenden Arbeit-
geber über die beitragsrechtlichen Folgen einer möglichen Nichtigkeit der
Tarifverträge mit der CGZP durch die Deutsche Rentenversicherung Bund
die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass nach einem rechtskräftigen
Urteil des BAG, indem das Urteil des LAG Berlin bestätigt werden würde,
ein bedingter Vorsatz des Arbeitgebers im Sinne des § 25 Absatz 1 Satz 2
SGB IV gegeben wäre und damit die dreißigjährige Verjährung gälte (bitte
begründen)?

6. Trifft es zu, dass keine Verjährung der Sozialversicherungsbeiträge eintritt,
wenn und soweit die beschäftigten Leiharbeitnehmer/Leiharbeitnehmerin-
nen den Differenzbetrag zwischen dem erhaltenen Lohn und dem Lohn eines
Stammbelegschaftsmitarbeiters/einer Stammbelegschaftsmitarbeiterin er-
folgreich geltend machen?

7. Wie viele Leiharbeitsunternehmen wurden von den Trägern der Rentenver-
sicherung in den vergangenen vier Jahren turnusmäßig einer sozialversi-
cherungspflichtigen Prüfung unterzogen?

8. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, aufgrund der Verjährung et-
waiger Beitragsansprüche nach § 25 Absatz 1 Satz 1 SGB IV unabhängig
davon, dass ein arbeitsgerichtliches Verfahren zur Feststellung der Tarif-
fähigkeit der CGZP anhängig ist, die Entscheidungskompetenz der Prüf-
dienste der Rentenversicherungsträger in Hinblick auf die Tariffähigkeit
von als Tarifvertragsparteien auftretenden Vereinigungen zu stärken, und
wenn ja, in welcher Form, und wenn nein, warum nicht?

9. Wie haben sich die Beitragseinnahmen bei den Sozialversicherungsträgern
in der Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren 2007 bis 2009 entwickelt
(bitte nach Jahren, Sozialversicherungsträgern und Ländern gesondert aus-
weisen)?

10. In welchem Verhältnis steht das Neutralitätsgebot (vgl. Besprechung des
GKV-Spitzenverbandes, der Deutsche Rentenversicherung Bund und der
Bundesagentur für Arbeit über Fragen des gemeinsamen Beitragseinzugs
am 13./14. Oktober 2009) der Sozialversicherungsträger zu den berechtig-
ten Interessen der Versichertengemeinschaft, nicht auf entgangene Beiträge
zu verzichten?

11. Ist nicht gerade Ziel der Beitragsprüfung durch die zuständigen Träger der
Rentenversicherung nach § 28 Absatz 1 Satz 1 SGB IV, dass eben keine
Beitragseinnahmen verloren gehen, und besteht nicht die Gefahr, dass die
Rentenversicherungsträger aufgrund einer etwaigen Verjährung der Bei-
tragsansprüche mit der Frage des Schadenersatzes nach § 28r SGB IV
seitens der anderen Sozialversicherungsträger konfrontiert sein könnten?

12. Wie viele und welche Unternehmen haben seit 2002 mit der CGZP Tarif-
verträge geschlossen und diese entsprechend der Verpflichtung aus dem
Tarifvertragsgesetz dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales

(BMAS) nach Abschluss übersandt (dabei wird eine Aufstellung erbeten

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nach Jahren und geordnet nach Branchen- und Haustarifverträgen unter
Angabe des Geltungsbereiches und der Geltungsdauer)?

13. Wieso hat es das BMAS versäumt, als im Oktober 2008 mit der Klage der
Berliner Senatsverwaltung Zweifel an der Tariffähigkeit der CGZP aufkam,
sich zum Verfahren einzulassen oder an der Anhörung teilzunehmen, wo
doch zum Zweck der Wahrnehmung der präventiven Staatsaufsicht über das
Tarifwesen nach § 97 Absatz 1 Satz 1 des Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG)
diese Möglichkeit den obersten Arbeitsbehörden des Bundes und der
Länder ausdrücklich eingeräumt wird?

14. Hat die Bundesregierung, ausweislich der Antwort auf Frage 10 der Klei-
nen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Leiharbeit in Bundesministerien,
nachgelagerten Ämtern und Behörden im Jahr 2009“ (Bundestagsdruck-
sache 17/736), wonach sich insgesamt sechs der in Anspruch genommenen
Leiharbeitsfirmen bei der Bezahlung ihrer Mitarbeiter an Tarifverträgen
orientieren, die mit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für
Zeitarbeit und Personalserviceagenturen abgeschlossen wurden, angesichts
der Möglichkeit, dass auch das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil zu
dem Schluss kommen sollte, dass die CGZP nicht tariffähig ist, Rückstel-
lungen für Sozialversicherungsbeiträge gebildet?

Berlin, den 26. Februar 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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