BT-Drucksache 17/8582

Selbständige Entwicklung fördern - Faire Handelsbeziehungen zu Ägypten, Jordanien, Marokko und Tunesien aufbauen

Vom 7. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8582
17. Wahlperiode 07. 02. 2012

Antrag
der Abgeordneten Niema Movassat, Heike Hänsel, Annette Groth,
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen,
Dr. Diether Dehm, Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich,
Ulla Lötzer, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Katrin Werner
und der Fraktion DIE LINKE.

Selbständige Entwicklung fördern – Faire Handelsbeziehungen zu Ägypten,
Jordanien, Marokko und Tunesien aufbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Umwälzungen im südlichen
Mittelmeerraum will die Europäische Union (EU) ihre Handels- und Investi-
tionsbeziehungen mit Ägypten, Jordanien, Marokko und Tunesien vertiefen.
Die bisherigen Europa-Mittelmeer-Assoziationsabkommen umfassen vor
allem den Warenhandel. Die EU will nun zusätzlich Vereinbarungen zum
Investitionsschutz und zu handelsbezogenen Regulierungsbereichen, wie
öffentliches Beschaffungswesen, Wettbewerb, Rechte des geistigen Eigen-
tums treffen. Mit der Annahme des Kommissionsvorschlags auf Ratsdoku-
ment 15577/11 hat der Rat im Dezember 2011 die Kommission zu entspre-
chenden Verhandlungen ermächtigt und außerdem konkrete Verhandlungs-
richtlinien bestätigt. Mit den genannten Ländern sollen weitreichende und
umfassende Freihandelsabkommen abgeschlossen werden, die als Fernziel
die Einrichtung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums ermöglichen sollen.

2. Die Verhandlungsrichtlinien enthalten dieselben Marktzugangs- und Inves-
titionsschutzforderungen, die die EU gegenwärtig in den Verhandlungen mit
vielen Staaten und Staatengruppen weltweit durchsetzen will und die bei den
Verhandlungspartnern auf Ablehnung stoßen, weil sie darauf ausgerichtet
sind, deren entwicklungspolitische Handlungsspielräume massiv zu unter-
graben, darunter: weitere Liberalisierung des Handels mit landwirtschaft-
lichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen und
Fischereierzeugnissen sowie des Dienstleistungssektors; höchstmöglicher
Rechtsschutz, gleiche Ausgangsbedingungen und uneingeschränkte Inlän-
derbehandlung für europäische Investoren, Schutz vor Enteignung und un-
gehinderter Kapitaltransfer; beidseitiger Zugang zu Ausschreibungen des
öffentlichen Beschaffungswesens.
3. Die Umwälzungen in Ägypten und Tunesien und die Reformen in Marokko
und Jordanien bedürfen der politischen Unterstützung und dürfen von der
EU nicht ausgenutzt werden, um eigene wirtschaftliche Interessen durchzu-
setzen. Die Proteste, die zu den Veränderungen in den genannten Ländern
geführt haben, waren auch Ausdruck sozialer Verwerfungen, die sich bereits
in den letzten Jahren mit der Liberalisierungspolitik der alten Regierungen
zugespitzt hatten. Eine weitere Vertiefung dieser Liberalisierungspolitik ist
daher genau die falsche Antwort auf die neuen gesellschaftlichen Herausfor-
derungen in den südlichen Mittelmeer-Anrainern. Die neu entstehenden

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Demokratien dürfen nicht dadurch begrenzt werden, dass ihre wirtschafts-
politischen Spielräume eingeschränkt werden.

4. Dass der Kommissionsvorschlag für das Verhandlungsmandat als Verschluss-
sache eingestuft wurde, ist ein weiterer Ausdruck davon, dass die Kommis-
sion ihre Handelspolitik weitgehend unter Ausschluss der demokratischen
Öffentlichkeit betreibt. Angesichts dessen, dass Millionen von Menschen von
dem Ergebnis dieser Politik betroffen sein werden, und angesichts dessen,
dass Lobbyverbände der europäischen Wirtschaft, nicht aber die Zivilgesell-
schaften immer wieder privilegierten Zugang zu Verhandlungsständen im
Rahmen der Vorbereitung von Handelsabkommen gefunden haben, ist die
Demokratisierung der EU-Handelspolitik dringend angezeigt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich in der EU für ein grundlegend verändertes, entwicklungsförderliches
Verhandlungsmandat und konkret dafür einzusetzen, dass

– die selbständige Entwicklung der südlichen Mittelmeerländer ermöglicht
und gefördert wird,

– weder für den Handel mit Erzeugnissen aus Landwirtschaft und Fischerei
noch für den Dienstleistungssektor die Forderung nach weiterer Liberali-
sierung erhoben wird,

– von der Forderung Abstand genommen wird, Ausschreibungen im öffent-
lichen Beschaffungswesen der Partnerländer dem gleichberechtigten Zu-
gang europäischer Wettbewerber zu öffnen,

– auf den Abschluss von Investitionsschutzabkommen verzichtet wird, die
die Möglichkeiten der Partnerländer, Investitionen aus der EU entwick-
lungspolitisch zu steuern, einschränken,

– stattdessen die Partnerländer bei der Gestaltung und Umsetzung einer
eigenständigen Wirtschaftspolitik und insbesondere bei der Stärkung
regionaler und nationaler Wirtschaftskreisläufe sowie bei beim Auf- und
Ausbau eines demokratischen öffentlichen Sektors in der Daseinsvor-
sorge unterstützt werden,

– keine Verschärfung patentrechtlicher Bestimmungen vorgenommen wird,

– das Abkommen mit Marokko nicht für das Gebiet der Westsahara und
dort produzierte Güter angewendet werden kann;

2. die Einbindung des Deutschen Bundestages bei der Neufassung eines sol-
chen entwicklungsförderlichen Verhandlungsmandats sicherzustellen;

3. darauf hinzuwirken, dass sowohl auf EU-Seite als auch aufseiten der Part-
nerländer Parlamentarierinnen und Parlamentarier, Gewerkschaften, Bau-
ernvereinigungen und andere zivilgesellschaftliche Organisationen, die die
Interessen Betroffener vertreten, in die Verhandlungen eingebunden werden;

4. aktuelle Verhandlungsstände, Angebote und Forderungen kontinuierlich und
nachvollziehbar offenzulegen;

5. sicherzustellen, dass die vier Abkommen (EU-Ägypten, EU-Jordanien, EU-
Marokko, EU-Tunesien) nach Abschluss dem Deutschen Bundestag zur
Ratifizierung vorgelegt werden.

Berlin, den 7. Februar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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