BT-Drucksache 17/7843

Einsetzung einer Expertenkommission zur Sicherungsverwahrung

Vom 22. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7843
17. Wahlperiode 22. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, Wolfgang Neskovic,
Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel und der Fraktion
DIE LINKE.

Einsetzung einer Expertenkommission zur Sicherungsverwahrung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Das Institut der Sicherungsverwahrung ist nach wie vor höchst umstritten und
Gegenstand vielfältiger Diskussion. Es begegnet sowohl normativen als auch
empirischen Bedenken. In normativer Hinsicht ist es fraglich, ob das Institut der
Sicherungsverwahrung nicht bereits grundsätzlich verfassungswidrig ist. Dies
gilt insbesondere im Hinblick auf die nach Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grund-
gesetzes (GG) garantierte Freiheit der Person und das rechtsstaatlich
wesentliche Schuldprinzip des deutschen Strafrechts. Ohne Schuld darf es keine
Strafe geben. Die Sicherungsverwahrung hat erkennbar Strafcharakter, wird
aber angeordnet, obwohl die Strafe der zugrunde liegenden schuldhaften Tat be-
reits verbüßt wurde.

In empirischer Hinsicht ist es fraglich, ob das Institut der Sicherungsverwahrung
überhaupt sachlich gerechtfertigt werden kann. Die Verfassung der Bundes-
republik Deutschland ist ganz bewusst, auch aus Respekt vor den bitteren Leh-
ren der deutschen Historie, auf eine die Freiheit der Person wahrende Grundord-
nung festgelegt. Das bedeutet aber auch, dass man bestimmte gesellschafts-
immanente Gefahren dieser Freiheit in Kauf nehmen muss. Vollkommene
Sicherheit kann es in einer menschlichen Gesellschaft nicht geben. Zu vielfältig
und unüberschaubar sind die Hintergründe und Kausalzusammenhänge des Ent-
stehens von Kriminalität, als dass es möglich wäre, Personen zielsicher als
„gefährlich“ und „ungefährlich“ zu kategorisieren. Einzelnen sodann aufgrund
von einer menschlichen Fehlern nur allzu zugänglichen Gefährlichkeitsprog-
nose die Freiheit zu nehmen, ist mit dem durch unsere Verfassung vorgegebenen
Gesellschaftsbild nicht in Einklang zu bringen. Freiheit birgt Risiken. Die Frei-
heit ungerechtfertigt zu versagen, bedeutet jedoch eine solche Abkehr von den
Grundwerten unserer Gesellschaft, dass die freiheitsimmanenten Risiken dieser
in jedem Falle vorzuziehen sind.

2. Durch diverse Neuregelungen über die letzten Jahre hinweg, zuletzt durch das
am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Neuordnung des Rechts der

Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen, ist ein kaum mehr zu
überblickendes Gefüge an Vorschriften entstanden, welches der dem Thema der
Sicherungsverwahrung immanenten hochsensiblen und vielschichtigen Proble-
matik leider nicht gerecht wird. Es verwundert daher nicht, dass die verschiede-
nen Vorschriften zur Sicherungsverwahrung mehrfach Gegenstand höchstrichter-
licher Rechtsprechung waren. Die logische Konsequenz aus dem gesetzgeberi-
schen Desaster bestand letztlich in den vernichtenden Urteilen des Europäischen

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Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 17. Dezember 2009 (Be-
schwerde-Nr. 19359/04) und 13. Januar 2011 (Beschwerde-Nr. 6587/04) und
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 4. Mai 2011 (Az. 2 BvR 2365/09).
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber eine ausreichende Frist zur
Neuregelung bis zum 31. Mai 2013 gesetzt. Diese Frist muss genutzt werden,
um endlich zu einer abschließenden, allen Belangen gerecht werdenden Lösung
für den Bereich der Sicherungsverwahrung zu kommen.

3. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 festge-
stellt, dass sämtliche Vorschriften des Strafgesetzbuchs und des Jugendgerichts-
gesetzes über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung mit dem
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar sind. Die Vor-
schriften zur Sicherungsverwahrung verletzen das Grundrecht der in der Siche-
rungsverwahrung untergebrachten Personen auf Freiheit gemäß Artikel 2 Ab-
satz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 GG, da sie den hohen
Anforderungen des verfassungsrechtlichen Abstandgebots nicht genügen. Auch
das gegenwärtige Konzept des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) für die
Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stellt nunmehr
endlich fest, dass bezüglich des Abstandgebotes erheblicher Veränderungsbe-
darf in der Ausgestaltung des Vollzuges der Sicherungsverwahrung besteht. Die
Sicherungsverwahrung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht
auf Freiheit dar. Dieser Eingriff kann, wenn überhaupt, nur nach Maßgabe strik-
ter Verhältnismäßigkeitsprüfung und unter Wahrung strenger Anforderungen an
die zugrunde liegenden Entscheidungen und die Ausgestaltung des Vollzugs ge-
rechtfertigt werden. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts er-
füllen die vorhandenen Regelungen über die Sicherungsverwahrung allerdings
nicht einmal die verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen an die Aus-
gestaltung des Vollzugs. Das Abstandsgebot ist Ausfluss der grundlegenden
Unterschiede zwischen Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung. Die Frei-
heitsstrafe dient der Vergeltung schuldhaft begangener Straftaten. Die Siche-
rungsverwahrung hingegen ist rein präventiver Natur. Ihr einziger Zweck
besteht darin, etwaige zukünftige Straftaten zu verhindern. Der eingesperrten
Person wird ein Sonderopfer auferlegt und ihr verfassungsmäßig garantiertes
Recht auf Freiheit einem allgemeinen Sicherheitsinteresse untergeordnet.

4. Laut dem Bundesverfassungsgericht ist die Sicherungsverwahrung überhaupt
nur dann zu rechtfertigen, wenn der Gesetzgeber bei ihrer Ausgestaltung dafür
Sorge trägt, dass über den unabdingbaren Freiheitsentzug hinaus weitere Belas-
tungen vermieden werden. Dementsprechend muss der Vollzug der Sicherungs-
verwahrung freiheitsorientiert und therapiegerichtet sein, um den allein präven-
tiven Charakter der Maßregel sowohl gegenüber den Untergebrachten als auch
gegenüber der Allgemeinheit zu verdeutlichen. Insbesondere Letzteres ist in der
Vergangenheit nur äußerst unzureichend gelungen; verfestigte sich in der öffent-
lichen Wahrnehmung doch eher das Bild der Sicherungsverwahrung als lebens-
langes Einschließen eines entmenschlichten Intensivtäters ohne jegliche Per-
spektive auf Rückkehr in die Gesellschaft. Und auch in tatsächlicher Hinsicht
schien es sich bei der Sicherungsverwahrung hauptsächlich um zeitlich mög-
lichst unbegrenztes Wegsperren der Untergebrachten zu handeln. Genau das
Gegenteil ist jedoch das Ziel. Durch klare therapeutische Ausrichtung muss die
vermeintlich von dem oder der Untergebrachten ausgehende Gefahr minimiert
und so die Dauer der Freiheitsentziehung auf das unbedingt erforderliche Maß
reduziert werden. Die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit muss sicht-
bar die Praxis der Unterbringung bestimmen. Hinsichtlich dieses Ziels hat das
Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil ausdrücklich hervorgehoben, dass
etwa erforderliche therapeutische Behandlungen schon während des voran-
gehenden Strafvollzugs so zeitig beginnen und intensiv durchgeführt werden

müssen, dass sie möglichst schon vor dem Strafende abgeschlossen werden. Das
bedeutet letztlich, dass die Sicherungsverwahrung als letztes, äußerstes Mittel,

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durch den vorhergehenden entsprechend therapeutisch ausgerichteten Strafvoll-
zug, tunlichst zu vermeiden ist.

5. Die derzeitigen Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Siche-
rungsverwahrung über die frühere Zehnjahreshöchstfrist hinaus und zur nach-
träglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung im Erwachsenen- und Ju-
gendstrafrecht verletzen das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot aus Artikel 2
Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 GG. Bezüglich der sog.
Altfälle liegt in der nachträglichen Verlängerung ein schwerer Bruch des Ver-
trauens der Untergebrachten auf ein Ende der Sicherungsverwahrung nach Ab-
lauf von zehn Jahren. Bei der nachträglichen Anordnung der Sicherungsver-
wahrung besteht ein Eingriff in das Vertrauen auf das Ausbleiben dieser Anord-
nung.

Dem Bundesverfassungsgericht nach kommt angesichts des damit verbundenen
schwerwiegenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht diesen Vertrauensschutz-
belangen ein besonders hohes verfassungsrechtliches Gewicht zu, das durch die
Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention noch verstärkt wird.
Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts kann eine nachträglich an-
geordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung durch Sicherungsverwahrung
daher nur noch in solchen Ausnahmefällen als verhältnismäßig angesehen wer-
den, in denen der gebotene Abstand zur Strafe gewahrt wird, eine hochgradige
Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in
der Person oder dem Verhalten des oder der Untergebrachten abzuleiten ist und
die Voraussetzungen des Artikels 5 Absatz 1 Satz 2 der Europäischen Men-
schenrechtskonvention (EMRK) erfüllt sind. Besonderes Gewicht kommt dem
Vertrauensschutzgebot auch im Hinblick auf die bezüglich des Zieles der Reso-
zialisierung gewollte positive Entwicklung des Straftäters oder der Straftäterin
während des Vollzugs zu. Wird dieser oder diese in Ungewissheit darüber ge-
lassen, ob eine Sicherungsverwahrung nachträglich verlängert oder angeordnet
wird, so kann dies einen deutlich negativen, demotivierenden Effekt auf die
Bemühungen des Straftäters oder der Straftäterin, sich letztlich wieder in die
Gesellschaft einzugliedern, haben. Ebenso können sowohl Mitgefangene als
auch Vollzugsbedienstete diesen Umstand als Druckmittel gegen die Insassen
verwenden, über denen das Damoklesschwert der nachträglich verlängerten
oder angeordneten Sicherungsverwahrung schwebt.

6. Der bisherige Katalog der Straftaten, aufgrund derer eine Sicherungsverwah-
rung überhaupt in Betracht kommt, ist viel zu weit gefasst. Derzeit umfasst die-
ser Katalog neben Gewalt- und Sexualstraftaten auch einen Teil der gewaltan-
wendungsfreien Eigentumsdelikte, der gemeingefährlichen Delikte sowie der
Staatsschutz- und Betäubungsmitteldelikte. Bei diesen Delikten ist eine Ver-
hältnismäßigkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung jedoch von vorn-
herein ausgeschlossen. Dies ergibt sich u. a. aus den vom Bundesverfassungs-
gericht formulierten Übergangsregelungen für die Zeit bis zur Einführung einer
Neuregelung. Danach darf eine Sicherungsverwahrung generell nur nach Maß-
gabe einer strikten Prüfung der Verhältnismäßigkeit, die in der Regel nur ge-
wahrt ist, wenn die Gefahr künftiger schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten
des oder der Betroffenen besteht, angeordnet werden. Dies lässt erkennen, dass
eine Sicherungsverwahrung für andere als Gewalt- und Sexualstraftaten prinzi-
piell mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist.

7. Das neu eingeführte Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) begegnet eben-
falls verfassungsrechtlichen Bedenken und ist als Ersatz für die bereits als ver-
fassungswidrig festgestellten Regelungen zur Sicherungsverwahrung nicht ge-
eignet. Nach § 1 ThUG ist dieses Gesetz explizit dann einschlägig, wenn eine
Person deshalb nicht weiter in Sicherungsverwahrung bleiben kann, weil ein

Gericht rechtskräftig festgestellt hat, dass dies gegen ein Verbot rückwirkender
Verschärfung im Recht der Sicherungsverwahrung verstößt. Das erscheint maß-

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geschneidert für jene Sicherungsverwahrte, die wegen der kürzlich ergangenen
Entscheidungen des EGMR und des BVerfG frei gelassen werden müssen. So-
mit könnte es sich bei dieser Regelung um ein nach Artikel 19 Absatz 1 Satz 1
GG verbotenes Einzelfallgesetz handeln, da es auf einen konkreten aktuellen
Anlass reagiert und versucht, die Konsequenzen der ergangenen Gerichtsent-
scheidungen zu umgehen. Darüber hinaus erscheint das ThUG auch im Hin-
blick auf die verfassungsrechtliche Gesetzgebungskompetenz problematisch.
Bei der Unterbringung nach dem ThUG handelt es sich letztlich um eine Ge-
fahrenabwehr, da der ausschlaggebende Grund für eine Unterbringung allein
die von dem oder der Untergebrachten etwaig ausgehende Gefahr für die All-
gemeinheit ist. Im Bereich der Gefahrenabwehr haben jedoch die Länder nach
Artikel 70 Absatz 1 GG die alleinige Gesetzgebungskompetenz.

Zudem ist der im ThUG verwandte Begriff der psychischen Störung als An-
knüpfungspunkt für die Anordnung einer Sicherungsverwahrung ungeeignet.
Der Begriff ist nicht genauer definiert und eröffnet somit letztlich die Möglich-
keit, die Anwendung der Sicherungsverwahrung noch auszuweiten, was dem
Charakter der Sicherungsverwahrung als Ultima Ratio widerspricht. Es ist
letztlich fraglich, ob hier nicht ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot aus
Artikel 103 Absatz 2 GG vorliegt. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde kritisiert in einer Stellungnahme vom
11. Oktober 2011 diese Etikettierung gefährlicher Straftäter oder Straftäterin-
nen mit einer nicht näher bestimmten „psychischen Störung“ sogar als Miss-
brauch der Psychiatrie, da dieser Begriff im Zusammenhang mit der Siche-
rungsverwahrung suggeriere, dass psychische Störungen mit erheblicher Ge-
fährlichkeit verbunden seien, was aber für fast alle Patienten und Patientinnen,
die die Kriterien einer solchen psychischen Störung erfüllen, gerade nicht zu-
treffe.

Darüber hinaus ist es fraglich, ob hier nicht ein Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 1
Satz 2 Buchstabe e der EMRK vorliegt. Es spricht viel dafür, dass die Grenzen
des dort verwandten Begriffs der psychischen Krankheit („unsound mind“ in der
völkerrechtlich verbindlichen englischen Fassung) sehr viel enger sind, als die
des Begriffs der psychischen Störung im ThUG. Eine Freiheitsentziehung auf-
grund des ThUG würde somit durch den EGMR womöglich als für mit der
EMRK unvereinbar erklärt werden.

8. Die Frage, ob überhaupt Handlungsbedarf in Form der Sicherungsverwah-
rung zum Schutz vor Wiederholungstätern und Wiederholungstäterinnen be-
steht, muss vor dem sachlichen Hintergrund der kriminalstatistischen Tatsachen
aufgegriffen werden. Der Eingriff der Sicherungsverwahrung kann nur als Ab-
wehr einer Gefahr gerechtfertigt werden. Hier stellt sich jedoch das Problem
der Prognose dieser Gefahr. Diese Prognose ist unsicher und anfällig für vieler-
lei Fehler der menschlichen Wahrnehmung. Eine Verhältnismäßigkeit der Si-
cherungsverwahrung kann daher nur im Zusammenhang mit den tatsächlich
vorhandenen Rückfallquoten von bisher in der Sicherungsverwahrung unterge-
brachten Personen bewertet werden. Dabei zeigt sich jedoch, dass die Prognose
der Gefährlichkeit der sicherungsverwahrten Person erschreckend oft zu Lasten
derselbigen falsch liegt. Eine im Jahr 1998 am Freiburger Max-Planck-Institut
begonnene und an der Eberhard Karls Universität Tübingen abgeschlossene
Studie „Die Legalbewährung gefährlicher Straftäter“ kommt zu dem Ergebnis,
dass von 22 als gefährlich eingeschätzten, aber aus formalrechtlichen Gründen
freigelassenen Straftätern nur zwei relevant rückfällig wurden. Die Rückfall-
wahrscheinlichkeit für als gefährlich eingeschätzte Straftäter oder Straftäte-
rinnen könnte demnach also bei ca. 10 Prozent verortet werden. Zu einem ähn-
lichen Ergebnis kommt eine im Jahr 2008 an der Universität Bochum durch-
geführte Studie. Diese geringe Wahrscheinlichkeit kann aber die Anordnung

der Sicherungsverwahrung als Ultima Ratio nicht rechtfertigen. Viel wichtiger
wäre es, das eigentlich ohnehin allein ausschlaggebende Ziel der Resozialisie-

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rung des Straftäters oder der Straftäterin wieder in den Mittelpunkt zu rücken
und alle hierfür geeigneten Maßnahmen zu treffen und auszuweiten. Es gilt
nicht, wegzusperren, sondern zu reintegrieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

zeitnah eine aus Justizpraktikerinnen und Justizpraktikern, Gesellschaftswissen-
schaftlerinnen und Gesellschaftswissenschaftlern, Expertinnen und Experten
des Straf-, Polizei- und Verfassungsrechts, psychiatrischen, psychologischen
und kriminologischen Sachverständigen sowie Vertreterinnen und Vertretern
von Opferschutzverbänden bestehende Kommission einzusetzen, die zunächst
generelle Feststellungen zur Frage des Bestehens eines Handlungsbedarfs zum
Schutz vor Wiederholungstäterinnen und Wiederholungstätern in Form der
Sicherungsverwahrung trifft und gegebenenfalls neue Vorschläge für eine ange-
messene sowie menschen- und verfassungsrechtlich unbedenkliche materiell-,
verfahrens- und vollzugsrechtliche Lösung bis Anfang 2013 erarbeitet.

Berlin, den 22. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 hat die fortwäh-
rende Diskussion um das Institut der Sicherungsverwahrung zu Recht weiter
angefacht. Die bisherige gesetzliche Regelung verstößt gegen das Grundgesetz.
Die derzeitige Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung wird den tatsächlichen
Anforderungen und Verhältnissen nicht gerecht, sondern ist in dieser Form zur
Resozialisierung der Untergebrachten schlicht unbrauchbar. Um einen best-
möglich an den tatsächlichen Gegebenheiten ausgerichteten Neuentwurf auszu-
arbeiten, ist die Einbeziehung von Experten und Expertinnen aller beteiligten
Fachbereiche dringend geboten. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode
forderte die Fraktion DIE LINKE. die Einsetzung einer Expertenkommission
zur Ausarbeitung eines Lösungsvorschlags zur Frage der Sicherungsverwah-
rung (Bundestagsdrucksache 16/9649). Leider wurde der entsprechende Ent-
schließungsantrag abgelehnt und stattdessen an den bereits zum damaligen
Zeitpunkt offensichtlich verfassungswidrigen Regelungen festgehalten. Auch
das nun durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts schwer angegriffene
Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu beglei-
tenden Regelungen wurde bereits während des Gesetzgebungsverfahrens von
der Fraktion DIE LINKE. zu Recht heftig kritisiert (siehe u. a. Plenarprotokoll
17/69, S. 7442 B, Rede der Abgeordneten Halina Wawzyniak).

Ebenso hatten verschiedene Berufsverbände, wie z. B. die Neue Richtervereini-
gung, der Deutsche Richterbund, der Republikanische Anwältinnen- und An-
wälteverein, der Deutsche Anwaltverein, der Bund der Strafvollzugsbedienste-
ten Deutschlands und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychothera-
pie und Nervenheilkunde teils bereits im Vorfeld des Urteils des Bundesverfas-
sungsgerichts, das am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Neuordnung
des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen kriti-
siert und Nachbesserungen angemahnt. Dabei wurde erneut deutlich, dass
durch das Institut der Sicherungsverwahrung verschiedenste Bereiche tangiert
und vielfältige Probleme aufgeworfen werden, derer es sich in umfassendem

Maße durch Einbeziehung aller Betroffenen anzunehmen gilt.

Drucksache 17/7843 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Das gegenwärtige Konzept des BMJ für die Umsetzung der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 lässt zumindest einige positive
Ansätze zur zukünftigen Ausgestaltung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung
erkennen. Zwar sind die vorgeschlagenen Regelungen im Einzelfall noch dis-
kussionsbedürftig, jedoch sind z. B. die Fokussierung auf die Therapieausrich-
tung der Unterbringungseinrichtungen und die angedachten Vollzugslockerun-
gen für die Untergebrachten prinzipiell zu begrüßen. Wichtig ist auch der
Ansatz, eine begonnene Sicherungsverwahrung im Falle des Ausbleibens geeig-
neter Betreuungsmaßnahmen gerichtlich für beendet erklären zu lassen, um
sicherzustellen, dass die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Therapie-
möglichkeiten während der Sicherungsverwahrung auch tatsächlich angeboten
werden. Dass das Konzept des BMJ endlich auch die Betreuung schon während
des Strafvollzuges weiter in den Mittelpunkt rückt, um so eine anschließende
Sicherungsverwahrung im Idealfall überflüssig machen zu können, ist ebenso
wichtig wie überfällig.

Bedauernswert ist jedoch, dass es weiterhin die Möglichkeit der Anordnung des
Vorbehaltes der Sicherungsverwahrung, insbesondere auch im Jugendstrafrecht,
vorsieht. Hier wird dem das Jugendstrafrecht bestimmenden Erziehungsgedan-
ken nicht genügend Rechnung getragen. Insbesondere im Jugendstrafrecht gilt
es, alle Möglichkeiten zu ergreifen, um den jugendlichen Straftäter oder die
jugendliche Straftäterin, der bzw. die ihr Leben noch vor sich hat, wieder in die
Gesellschaft zu integrieren. Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung kann hier
nur kontraproduktiv wirken, da der jugendliche Straftäter oder die jugendliche
Straftäterin demotivierendem Druck ausgesetzt wird, welcher gerade keine
positive Beziehung zwischen dem Jugendlichen oder der Jugendlichen und den
Betreuungspersonen entstehen lässt. Dass nämlich die Androhung härtester
Konsequenzen nur selten zu dem gewünschten Erziehungseffekt führt, sollte
hinlänglich bekannt sein. Zudem gilt es zu bedenken, dass die Persönlichkeit
von Jugendlichen meist noch nicht gefestigt, sondern immer noch formbar ist.
Eine verlässliche Prognose bezüglich der Gefährlichkeit von Jugendlichen nach
der Haftentlassung ist daher methodisch nahezu unmöglich. Vor diesem Hinter-
grund erscheint das gesamte Institut der Sicherungsverwahrung zumindest im
Jugendstrafrecht prinzipiell unangebracht.

Das Konzept des BMJ sieht vor, die Grundsatzentscheidungen der Sicherungs-
verwahrungsreform vom 1. Januar 2011 in jedem Fall beizubehalten. Dies ist in
Anbetracht der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil
vom 4. Mai 2011 festgestellt hat, dass sämtliche Vorschriften des Strafgesetz-
buchs und des Jugendgerichtsgesetzes über die Anordnung und Dauer der
Sicherungsverwahrung mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
nicht vereinbar sind, nicht nachvollziehbar. In jedem Fall kann es nur sachdien-
lich sein, für die Ausarbeitung einer Neuregelung sämtliche verfügbaren Erfah-
rungen aus der Vollzugspraxis mit einzubeziehen. Die Einsetzung einer Exper-
tenkommission ist daher hier der richtige Weg.

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