BT-Drucksache 17/774

Nachhaltige Hilfe für Haiti: Entschuldung jetzt - Süd-Süd-Kooperation stärken

Vom 23. Februar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/774
17. Wahlperiode 23. 02. 2010

Antrag
der Abgeordneten Heike Hänsel, Sevim Dag˘delen, Jan van Aken, Christine
Buchholz, Dr. Diether Dehm, Heidrun Dittrich, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth,
Inge Höger, Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema
Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Katrin Werner und
der Fraktion DIE LINKE.

Nachhaltige Hilfe für Haiti: Entschuldung jetzt – Süd-Süd-Kooperation stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Bundestag trauert um die vielen Menschen, die bei dem Erdbeben am
12. Januar 2010 in Haiti ihr Leben verloren haben, und appelliert an die
Geberländer, in ihrer Unterstützung für die Überlebenden nicht nachzulas-
sen. Angesichts des Ausmaßes der Zerstörung erwächst Deutschland und
allen Geberländern eine langfristige Verpflichtung, nachhaltige Aufbauhilfe
zu leisten.

2. Der Bundestag blickt mit großer Sorge und Anteilnahme auf die Situation
von Zehntausenden Haitianerinnen und Haitianern, die infolge des Erdbebens
schwere und dauerhafte Verletzungen erlitten haben, und erachtet die Unter-
stützung der haitianischen Regierung beim Aufbau effektiver Versorgungs-
strukturen für diese Menschen sowie beim Aufbau eines funktionierenden
und für alle Menschen zugänglichen staatlichen Gesundheitssystems als vor-
rangige Aufgabe der internationalen Geber.

3. Der Bundestag schließt sich dem Appell vieler Entwicklungsorganisationen
an, dass die Schulden Haitis sofort vollständig und bedingungslos erlassen
werden müssen und dass die Aufbauhilfe nicht zu neuer Verschuldung füh-
ren darf.

4. Der Bundestag erinnert an die wichtigen Beiträge, die Haiti zum globalen
zivilisatorischen Fortschritt geleistet hat. Der erfolgreiche Befreiungskampf
der Sklavinnen und Sklaven der damaligen französischen Kolonie Saint-
Domingue Ende des 18. Jahrhunderts läutete das Ende der Sklaverei welt-
weit ein. Als erster unabhängiger Staat Lateinamerikas unterstützte Haiti ab
1804 den Unabhängigkeitskampf in Südamerika.

5. Der Bundestag würdigt den Umstand, dass den Haitianerinnen und Haitia-

nern aus vielen Nationen, darunter solchen, die selbst mit schwerwiegenden
Problemen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung konfrontiert
sind, solidarische Hilfe angeboten und zuteil wurde und wird.

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6. Der Bundestag setzt Hoffnung darauf, dass im Angesicht der Katastrophe
und vor dem Hintergrund der Erfahrung gemeinsamer Hilfe für die Über-
lebenden in Haiti eine neue Atmosphäre internationaler Zusammenarbeit
entstanden ist.

7. Der Bundestag kritisiert zugleich den Umstand, dass sich im Kontext der
dringend benötigten Hilfe für die Menschen in Haiti der Aufbau einer be-
trächtlichen militärischen Präsenz der USA vollzieht, und nimmt mit Be-
sorgnis Kenntnis von den Vorwürfen anderer Geberländer, dass die starke
militärische Präsenz der USA in Haiti die Ankunft von Hilfe aus anderen
Ländern mehrfach behindert bzw. verzögert hat. Die Militärpräsenz darf
keine dauerhafte Besatzung Haitis etablieren, sondern sie muss umgehend
wieder abgebaut werden.

8. Im selben Zusammenhang lehnt der Bundestag die von der EU-Außenmi-
nisterin angekündigte Militärmission der Europäischen Union zur Verstär-
kung der UN-Mission MINUSTAH (Mission des Nations Unies pour la
stabilisation en Haïti), die nach der gewaltsamen Absetzung des damaligen
haitianischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide im Jahr 2004 nach Kapi-
tel 7 der VN-Charta eingerichtet worden war und nach dem Erdbeben auf-
gestockt wurde, ab.

9. Der Bundestag nimmt die Kritik vieler Organisationen der haitianischen
Zivilgesellschaft zur Kenntnis, die Besatzung durch die MINUSTAH
schränke die Souveränität ihres Landes ein, binde erhebliche finanzielle
Ressourcen von über 400 Mio. Euro jährlich, sei seit 2004 mehrfach an
Übergriffen auf die Zivilbevölkerung beteiligt gewesen und habe nicht zur
Entwicklung des Landes beigetragen. Haiti braucht mehr zivile Aufbauhel-
fer anstelle von militärischer Besatzung.

10. Der Bundestag drückt seine Hochachtung vor der haitianischen Zivilge-
sellschaft aus. Unmittelbar nach dem Erdbeben wurden in Port-au-Prince
Nachbarschaftskomitees gebildet, die die gegenseitige solidarische Hilfe in
den Stadtteilen in die Hand nahmen. Die internationalen Geber müssen
diese selbstorganisierten Strukturen einbeziehen und unterstützen, um die
Ermittlung von Bedarf zu verbessern und die bedarfsgerechte Verteilung
von Hilfe abzusichern.

11. Der Bundestag nimmt die Kritik des haitianischen Präsidenten zur Kennt-
nis, der beklagt hat, dass seine Regierung bislang nicht in die Koordinie-
rung der Hilfs- und Aufbauarbeiten in ihrem Land einbezogen wurde, und
fordert die Rückgabe der vollen Souveränität an Haiti. Haiti darf kein Pro-
tektorat werden.

12. Der Bundestag begrüßt die Initiative des südamerikanischen Staatenbun-
des UNASUR zur Unterstützung Haitis, verweist darauf, dass durch das
seit Dezember 1998 andauernde Engagement medizinischer Fachkräfte aus
Kuba in vielen haitianischen Gemeinden erstmals ein Zugang zu medizini-
scher Versorgung ermöglicht wurde, und würdigt dieses Engagement als
international einmaliges und unterstützenswertes Beispiel der Süd-Süd-
Solidarität.

13. Der Bundestag erinnert an den Aufruf des damaligen kubanischen Präsi-
denten Fidel Castro an die Industriestaaten von 1998, das kubanische
Engagement in Haiti mit eigenen Beiträgen wie der Bereitstellung von
Medizintechnik, Material und Medikamenten zu unterstützen, und nimmt
positiv zur Kenntnis, dass die norwegische Regierung Ende Januar 2010 ein
Abkommen mit Kuba unterzeichnet hat, demzufolge Norwegen die Arbeit
der kubanischen Ärztinnen und Ärzte in Haiti mit knapp 900 000 US-Dollar

unterstützt. Der Bundestag appelliert an alle Industriestaaten, diesem Bei-
spiel zu folgen.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. Haiti wieder auf die Länderliste für die bilaterale Entwicklungszusammenar-
beit aufzunehmen;

2. im Sinne des Aufrufs, in dem der Generalsekretär der Vereinten Nationen,
Ban Ki Moon, und der Sondergesandte der Vereinten Nationen für Haiti,
William Clinton, die Geberländer zu weiteren Beiträgen zum Wiederaufbau
in Haiti auffordern, für dieses Jahr und für die kommenden vier Jahre einen
Sondertitel von mindestens 100 Mio. Euro jährlich für die mittelfristige
Hilfe für Haiti vorzusehen;

3. gegenüber allen internationalen Gläubigern, insbesondere bei den multilate-
ralen Banken, für eine sofortige, vollständige und bedingungslose Entschul-
dung Haitis einzutreten und sich dafür einzusetzen, dass die Katastrophen-
und Aufbauhilfe ausschließlich in Form von Zuschüssen gewährt wird;

4. sich für die Wiederherstellung der vollen Souveränität Haitis einzusetzen;

5. sich dafür einzusetzen, dass gewährleistet ist, dass die Hilfs- und Aufbau-
arbeiten in Haiti durch die haitianische Regierung koordiniert und dabei
auch die zivilgesellschaftlichen Strukturen der Nachbarschaftshilfe einbezo-
gen werden;

6. sich dafür einzusetzen, dass die Koordinierung der internationalen Hilfszu-
sagen durch die Vereinten Nationen in enger Abstimmung mit der haitia-
nischen Regierung erfolgt;

7. sich dafür einzusetzen, dass die militärische Präsenz der USA in Haiti
beendet, die Entsendung einer EU-Militärmission gestoppt und die UN-
Mission MINUSTAH durch eine zivile Aufbaumission ersetzt wird;

8. dem Beispiel Norwegens folgend, der kubanischen Regierung umgehend
Verhandlungen über ein Abkommen anzubieten, das die Unterstützung der
Arbeit des kubanischen medizinischen Personals in Haiti durch Deutschland
zum Gegenstand hat;

9. gemeinsam mit der haitianischen und der kubanischen Regierung zu son-
dieren, auf welchen weiteren Feldern eine trilaterale Zusammenarbeit zur
Förderung der Süd-Süd-Kooperation möglich und wünschenswert wäre.

Berlin, den 23. Februar 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Das Ausmaß von Leid und Not nach dem Erdbeben in Haiti wurde zusätzlich
durch strukturelle Defizite, die bereits zuvor bestanden, vergrößert, etwa durch
den Mangel an medizinischem Personal und medizinischer Infrastruktur außer-
halb von Port-au-Prince oder durch fehlende Verkehrsinfrastruktur. Vor diesem
Hintergrund ist eine langfristige Hilfe für Haiti notwendig, die auf den Aufbau
von Infrastruktur für die Bevölkerung ausgerichtet ist. In diesem Zusammen-
hang ist es zu bedauern, dass die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, 2007 ent-
schieden hatte, Haiti von der Liste der Partnerländer der deutschen Entwick-
lungszusammenarbeit herunterzunehmen. Dies geschah gegen den fraktions-

übergreifenden Widerstand von Abgeordneten, die im Herbst 2007 an einer

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Delegationsreise des Deutschen Bundestags nach Haiti teilgenommen hatten.
Erst recht ist nicht nachvollziehbar, dass die Bundesregierung bislang die Ein-
richtung eines Sondertitels für die Aufbauhilfe für Haiti verweigert und auch
die Aufstockung der entwicklungsorientierten Not- und Übergangshilfe im Ein-
zelplan 23 des Bundeshaushalts abgelehnt hat.

Haiti hat immer noch beträchtliche Schulden, überwiegend bei multilateralen
Banken (vor allem beim Internationalen Währungsfonds und der Interamerika-
nischen Entwicklungsbank), die größtenteils in der Zeit der Herrschaft der
Familie Duvalier aufgelaufen waren. Die vom Internationalen Währungsfonds
gewährte Stundung der Tilgungszahlungen und der angekündigte Erlass der
bilateralen Schulden durch die G7-Staaten stellen zwar eine gewisse Erleichte-
rung für die haitianische Regierung dar, sind aber noch keine nachhaltige
Lösung. Eine solche nachhaltige Lösung kann nur in der sofortigen, vollstän-
digen und bedingungslosen Entschuldung durch alle Gläubiger bestehen.

Die starke militärische Präsenz der USA, die sofort nach dem Erdbeben aufge-
baut wurde, hat Kritik herausgefordert: Andere Geberländer hatten darüber ge-
klagt, dass ihre Hilfsflüge aufgrund von militärischen Dislokationen auf dem
Flughafen von Port-au-Prince umgeleitet werden mussten bzw. dass ihren Schif-
fen mit Hilfslieferungen von den US-Militärs die Anlandung am Hafen verwehrt
worden sei. Die US-Militärpräsenz und die Präsenz der UN-Militärmission
MINUSTAH sollen nun auch noch zusätzlich durch eine Militärmission der
Europäischen Union ergänzt werden. Viele soziale Organisationen in Haiti be-
klagen in diesem Zusammenhang, dass anstelle der tatsächlichen humanitären
Herausforderung die Sicherheitsfrage in den Mittelpunkt gerückt wird. Latein-
amerikanische Nachbarstaaten befürchten zu Recht, dass die Militarisierung der
Hilfe für Haiti zu einem dauerhaften Souveränitätsverlust für das Land führt und
in eine Besatzung mündet. Tatsächlich beschreibt die Stiftung Wissenschaft und
Politik in einer aktuellen Ausarbeitung unterschiedliche Szenarien für die Zu-
kunft Haitis, wie sie in den truppenstellenden Ländern diskutiert werden und
von denen die meisten auf die Einrichtung eines Protektorats oder Treuhand-
gebiets hinauslaufen. Bereits jetzt beschwert sich die haitianische Regierung
darüber, dass sie keinen Überblick, geschweige denn Kontrolle darüber habe, in
welcher Weise die in Haiti ankommende Hilfe verwendet wird, und fordert für
sich die Koordinierung der Hilfs- und Aufbauarbeiten in ihrem Land ein.

Haiti galt bereits vor dem Erdbeben als eines der ärmsten Länder der Welt. Der
Zugang zu medizinischer Versorgung ist für einen großen Teil der Bevölke-
rung, insbesondere in ländlichen Regionen, aber auch in vielen Teilen der
Hauptstadt, nicht oder nur unzureichend gewährleistet. Durch das Erdbeben
sind über 200 000 Menschen ums Leben gekommen. Unter den Überlebenden
sind Zehntausende, die Gliedmaßen verloren haben, für immer gelähmt sein
werden, schwere Verbrennungen bzw. andere langfristige Gesundheitsschäden
erlitten haben. Ihre Versorgung wird eine der schwierigsten Herausforderungen
werden. Bereits vor dem Erdbeben war die Bereitstellung von Prothesen oder
anderen Materialien für Menschen mit Behinderungen bzw. ihre therapeutische
oder orthopädische Behandlung in Haiti kaum gewährleistet. Der Aufbau effek-
tiver Gesundheitsstrukturen in Haiti muss deshalb höchste Priorität haben.

Es empfiehlt sich dabei, die Zusammenarbeit mit Kuba zu suchen, das über
wertvolle Erfahrungen auf dem Gebiet der medizinischen Versorgung in Haiti
verfügt. Seit Dezember 1998 arbeiten kubanische Ärztinnen und Ärzte, Pflege-
rinnen und Pfleger in Haiti. Sie haben in vielen Gemeinden erstmals eine medi-
zinische Grundversorgung aufgebaut. Zum Zeitpunkt des Erdbebens waren
rund 400 kubanische Ärztinnen und Ärzte in Haiti. Verstärkt durch weitere
Kolleginnen und Kollegen, die sofort nach dem Erdbeben von Kuba nach Haiti

kamen, sowie rund 240 haitianische Ärztinnen und Ärzte, die in Kuba ausgebil-

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det worden waren, konnten sie sofort überlebenswichtige Hilfe anbieten. Später
eintreffende Ärztinnen und Ärzte aus anderen Ländern konnten an diese Arbeit
und an die Erfahrungen der kubanischen Kolleginnen und Kollegen anknüpfen.
Norwegen hat das Potenzial einer solchen Zusammenarbeit erkannt und unter-
stützt die Arbeit der kubanischen Ärztinnen und Ärzte mit Medikamenten und
Ausrüstung im Wert von 885 000 US-Dollar.

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