BT-Drucksache 17/7645

Menschenrechte und Demokratie in den Staaten des Südkaukasus fördern

Vom 9. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7645
17. Wahlperiode 09. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth, Wolfgang Gehrcke,
Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm,
Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich,
Niema Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich
und der Fraktion DIE LINKE.

Menschenrechte und Demokratie in den Staaten des Südkaukasus fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Georgien, Armenien und Aserbaidschan haben seit ihrer Unabhängigkeit 1991
schwierige Transformationsprozesse durchlaufen, die durch wirtschaftliche
Not, Flüchtlingselend, innenpolitische Instabilität sowie gewaltsame zwischen-
staatliche und Nationalitätenkonflikte belastet waren bzw. sind. Im Zuge der
Konsolidierung ihrer Staatlichkeit sind die drei Südkaukasusrepubliken Mit-
glieder des Europarats und Partnerländer der Europäischen Nachbarschafts-
initiative der EU geworden. Mit ihrer Mitgliedschaft haben sie sich verpflich-
tet, Menschenrechte und Demokratie im jeweiligen Land zu fördern.

Im Rahmen der EU-Aktionspläne der Europäischen Nachbarschaftspolitik wer-
den die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte in den Süd-
kaukasusstaaten einem neoliberalen Wirtschaftsumbau untergeordnet. Unter
der Maßgabe „verantwortungsvoller Regierungsführung“ werden von den Part-
nerländern Austeritätspolitik zur Sicherung der Geldwertstabilität, Investitions-
sicherheit, Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und umfangreiche Privatisie-
rungsprogramme gefordert. Die gegenwärtigen Verhandlungen der EU über
Assoziierungsabkommen mit den Staaten des Südkaukasus werden von Seiten
der EU mit dem Ziel geführt, diesen Umbau voranzutreiben und auch die wirt-
schaftlichen Beziehungen zwischen den Staatengruppen weiter zu liberalisie-
ren. Als Ergebnis dieser Politik hat sich die soziale Spaltung vor allem in Geor-
gien und Armenien vertieft und die Massenarmut zementiert. Demgegenüber
unterstreichen die umfangreichen Sozialprogramme und die staatliche Umver-
teilungspolitik in Aserbaidschan den Souveränitätsanspruch über die eigene
wirtschaftliche Entwicklungsrichtung.

Die Menschenrechtslage in Georgien hat sich in den letzten Jahren verschlech-
tert. Nach einer Phase des staatlichen Zusammenhalts im und nach dem Kau-

kasuskrieg 2008 ging die Regierung zunehmend repressiver insbesondere
gegen die außerparlamentarische Opposition vor. Laut Jahresreport 2011 des
Human Rights Centre in Tbilisi sind in Georgien derzeit zwischen 50 und
60 Oppositionelle inhaftiert. Staatlicherseits unterblieben bislang Ermittlungen
und Anklagen gegen die exzessive Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte
und Polizeibeamte während der Proteste gegen Präsident Michail Saakaschwili
im Zeitraum von April bis Juni 2009. Die Verantwortung der georgischen Füh-

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rung für die militärische Eskalation und Verstöße gegen das humanitäre Kriegs-
völkerrecht im Kaukasuskrieg 2008 blieben ebenfalls ungeahndet. Die De-
facto-Administrationen in Abchasien und Südossetien unternahmen allerdings
auch nichts, um Menschenrechtsverletzungen gegen Angehörige der georgi-
schen Minderheit in beiden Sezessionsrepubliken aufzuklären. Trotz staatlicher
Anstrengungen zur Verbesserung der Lebenssituation der georgischen Binnen-
vertriebenen haben diese einen deutlich schlechteren Zugang zu Gesundheits-
fürsorge und Sozialleistungen als Nichtflüchtlinge.

Die Situation der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte hat
sich infolge der radikalen Privatisierungs- und Sozialabbaupolitik weiter ver-
schärft. Nach Angaben der Weltbank betrug das durchschnittliche Jahres-
einkommen 2010 lediglich 2 690 US-Dollar. Circa 40 Prozent der georgischen
Bevölkerung sind unmittelbar von Armut betroffen, 21 Prozent der Betroffenen
leben sogar in „tiefer Armut“. Die Einkommensentwicklung stagniert nicht
zuletzt als Folge der staatlichen Repressionspolitik gegen Gewerkschaften.
Infolge des weitestgehenden Rückzugs des Staates aus Wirtschaft und Gesell-
schaft wurde die soziale Verantwortung für das Gemeinwohl in hohem Maße
auf karitative Wohltätigkeitseinrichtungen und Nichtregierungsorganisationen
übertragen. Die Menschenrechtssituation von Minderheiten hat sich demgegen-
über verbessert. Bei der Korruptionsbekämpfung schneidet Georgien deutlich
besser als seine beiden südkaukasischen Nachbarn ab. Erreichte gesetzgeberi-
sche Fortschritte bei der Presse- und Meinungsfreiheit werden hingegen in der
Praxis dadurch konterkariert, dass sich regierungskritische Medien und Journa-
listinnen und Journalisten mitunter mit unerwarteten Steuernachforderungen
der Finanzbehörden konfrontiert sehen.

In Armenien wurden am 1. März 2008 die Massenproteste gegen die umstrittene
Präsidentschaftswahl von der Staatsmacht gewaltsam niedergeschlagen. Min-
destens zehn Personen wurden dabei getötet und über 350 Personen verletzt.
Über 100 Anhängerinnen und Anhänger der Opposition wurden festgenommen
und zum Teil zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Spitzenkandidat der
demokratischen Opposition, der ehemalige Staatspräsident Lewon Ter-Petrosjan,
stand zeitweilig unter Hausarrest. Trotz vorhandener Rechtsgrundlage wird das
Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen nicht eingehalten.
Laut Jahresbericht 2011 von amnesty international befanden sich Ende 2010
73 Kriegsdienstverweigerer, vornehmlich Anhänger der Zeugen Jehovas, unter
erschwerten Bedingungen in Haft. Fortschritte sind dagegen im Bereich der
Presse- und Medienfreiheit zu verzeichnen. Printmedien und Internet sind weit-
gehend unzensiert. Der regierungskritische Fernsehsender „Gala TV“ hat seine
Sendelizenz allerdings verloren.

Die Situation bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrech-
ten hat sich infolge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise weiter ver-
schärft. 2009 brach das Bruttoinlandsprodukt um 14 Prozent ein. Der Preisan-
stieg betrug im Jahr 2010 9,5 Prozent. Das durchschnittliche Jahreseinkommen
lag laut Weltbank 2010 bei 3 090 US-Dollar. Nach Angaben des armenischen
Ombudsmanns für Menschenrechte, Karen Andreasyan, leben gegenwärtig
34,1 Prozent der Gesamtbevölkerung in absoluter Armut. Mindestens weitere
ca. 20 Prozent der Bevölkerung gelten als armutsgefährdet. Der gesetzlich vor-
gesehene, monatliche Mindestlohn in Höhe von 32 500 AMD (ca. 65 Euro) liegt
deutlich unter dem als monatliches Existenzminimum definierten Mindestein-
kommen von 52 000 AMD (ca. 105 Euro). Ein großes Problem bildet ferner die
geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen. Es existiert bislang lediglich eine
von der NGO Women’s Right Centre unterhaltene Notunterkunft für Opfer
familiärer Gewalt, die mit ausländischen Spendengeldern finanziert wird.
In Aserbaidschan bleibt die Lage bei den bürgerlichen und politischen Men-
schenrechten angespannt. Demonstrationen in der Innenstadt von Baku werden

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von den Stadtbehörden weiterhin nicht genehmigt. Die Gründung oppositio-
neller und unabhängiger Medien ist deutlich eingeschränkt. Gegen einige regie-
rungskritische Journalisten und Blogger wurden mehrjährige Haftstrafen ver-
hängt. Korruption bildet das innenpolitische Hauptproblem Aserbaidschans.
Hervorzuheben sind demgegenüber die Freiheit der Religionsausübung sowie
die hohe gesellschaftliche Toleranz gegenüber Minderheiten in dem mehrheit-
lich muslimisch geprägten Land. Die Glaubensangehörigen der drei monotheis-
tischen Weltreligionen leben hier friedlich zusammen.

Aufgrund der hohen wirtschaftlichen Dynamik und staatlichen Umverteilungs-
politik hat sich die positive Entwicklung bei den wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Menschenrechten beschleunigt. Mit den hohen Einnahmen aus dem
Erdöl- und Erdgasexport, massiven öffentlichen Infrastrukturinvestitionen und
dem staatlichen Programm zur Entwicklung der Regionen wurden bei einer
Gesamtzahl von ca. 4,6 Millionen Erwerbsfähigen (die Gesamtbevölkerungs-
zahl beträgt ca. 9 Millionen) seit 2004 rund 900 000 neue Vollzeitarbeitsplätze
geschaffen. Der Anteil der Armutsbevölkerung konnte seit 2001 von 49 Pro-
zent auf 9 Prozent gesenkt werden. Das durchschnittliche Jahreseinkommen der
Erwerbstätigen ist nach Angaben der Weltbank 2010 auf 5 080 US-Dollar ge-
stiegen, die Bedeutung von Zusatz- und Nebeneinkünften in der informellen
Ökonomie nimmt allmählich ab. Von den ca. 200 000 Kriegsflüchtlingen aus
Armenien und ca. 800 000 Binnenvertriebenen als Folge des armenisch-aser-
baidschanischen Konflikts um Berg-Karabach leidet noch etwa ein Fünftel
unter schlechten, unangemessenen Wohnverhältnissen. Ihr Recht auf Bildung
wird vom Staat garantiert und der Zugang zu Gesundheitsversorgung hat sich
deutlich verbessert. Die restriktiven behördlichen Meldevorschriften behindern
allerdings die Bewegungsfreiheit und soziale Integration der Flüchtlinge. Dies
ist darauf zurückzuführen, dass die aserbaidschanische Politik lange Zeit die
Rückkehr der Flüchtlinge priorisierte und deshalb erst mit zeitlicher Verzöge-
rung begann, eine soziale Integrationsstrategie zu entwickeln.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. in der Menschenrechts-, Entwicklungs- und Außenpolitik Deutschlands
grundsätzlich den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrech-
ten den gleichen Stellenwert einzuräumen wie den bürgerlichen und politi-
schen Menschenrechten;

2. sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen,

a) dass die Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Men-
schenrechte in den Aktionsplänen der EU-Nachbarschaftspolitik mit den
Südkaukasusstaaten eine gleichrangige Zielsetzung wie die Förderung
der bürgerlichen und politischen Menschenrechte erhält und dabei die
Souveränitätsrechte der Partnerländer hinsichtlich der freien Wahl der
Wirtschafts- und Eigentumsordnung nicht eingeschränkt werden,

b) dass die Assoziierungsabkommen nicht mit dem Ziel der Handelsliberali-
sierung und Marktöffnung geführt werden, sondern auf Armutsbekämp-
fung, bessere Gesundheitsversorgung, sozialen Ausgleich, fairen Handel,
Öffnung des EU-Binnenmarkts auch für industrielle und agrarische
Produkte, Stärkung der demokratischen Entwicklung sowie der demokra-
tischen Mitspracherechte in der Wirtschaft und der Rechte von Gewerk-
schaften abzielen;

3. in Gesprächen mit den Regierungen Georgiens, Armeniens und Aserbaid-
schans die problematische Menschenrechtslage zu thematisieren mit dem
Ziel, künftig jegliche Form repressiver Gewaltanwendung auszuschließen,

freie und faire Wahlen durchzuführen und vorbehaltlos die Ausübung der
Versammlungs-, Meinungs-, Medien- und Pressefreiheit zu garantieren;

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4. sich gegenüber Georgien, Armenien und Aserbaidschan für die Freilassung
von regierungskritischen Journalistinnen und Journalisten, Kriegsdienstver-
weigerern und Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsver-
teidigern einzusetzen;

5. den Aufbau und Ausbau staatlicher Sicherungssysteme in Georgien, Arme-
nien und Aserbaidschan zu unterstützen und weiterer Privatisierung keinen
Vorschub zu leisten;

6. sich auf EU-Ebene für eine bedarfsgerechte Anpassung der zur Armuts-
bekämpfung in den Partnerländern vorgesehenen EU-Finanzmittel einzuset-
zen, um Georgien und Armenien bei der Bewältigung von sozialen Notlagen
und der Bekämpfung von Massenarmut zu unterstützen;

7. sich mit Bezug auf den Bericht der Independent International Fact-Finding
Mission der EU („Tagliavini-Report“) für Ermittlungen des Internationalen
Strafgerichtshofs zur Verantwortung Georgiens für die militärische Eskala-
tion im Kaukasuskrieg 2008 auszusprechen;

8. die Regierung Georgiens aufzufordern, die Menschenrechtsverletzungen und
Verstöße gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht während des Kaukasus-
kriegs 2008 aufzuarbeiten und die hierfür Verantwortlichen zur Rechenschaft
zu ziehen.

Berlin, den 9. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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