BT-Drucksache 17/7468

Pressefreiheit und Situation von Roma in Ungarn

Vom 25. Oktober 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7468
17. Wahlperiode 25. 10. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katrin Werner, Sevim Dag˘delen, Annette Groth, Wolfgang
Gehrcke, Andrej Hunko, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler und der Fraktion
DIE LINKE.

Pressefreiheit und Situation von Roma in Ungarn

Ungarn ist seit dem 1. Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union (EU) und in
diesem Zusammenhang zur Einhaltung geltender EU-Standards bei demo-
kratischen Grundrechten und den universalen Menschenrechten verpflichtet.
In einigen Bereichen sind in letzter Zeit jedoch negative Entwicklungen zu
beobachten.

Mit der verschärften Mediengesetzgebung 2010 wurde in Ungarn eine neue
nationale Kontrollbehörde geschaffen, die ggf. hohe Geldstrafen gegen Rund-
funk- und Fernsehsender verhängen darf, falls diese Inhalte verbreiten, die dem
„öffentlichen Interesse“, der „allgemeinen Moral“, der „nationalen Sicherheit“
oder einer „ausgewogenen Berichterstattung“ zuwiderlaufen.

Roma bilden mit ca. 750 000 Angehörigen die mit Abstand größte Minderheit
Ungarns. Ihre gesellschaftliche Diskriminierung hat sich in den letzten Jahren
massiv verschärft. Roma sind überdurchschnittlich von Erwerbslosigkeit be-
troffen und Roma-Kinder werden weitaus häufiger als andere Kinder in Sonder-
klassen oder Sonderschulen für Lernbehinderte eingestuft. Soziale Segrega-
tionsprozesse werden damit zementiert und Roma-Angehörige als Sündenböcke
für sozio-ökonomische Probleme stigmatisiert. Antiziganistische Einstellungen
und rassistische Hetze sind bis weit in die politische Mitte verbreitet. Mord-
anschläge und pogromartige Gewaltexzesse gegen Roma haben an Häufigkeit
und Intensität zugenommen. Erst im Frühjahr 2011 mussten rund 400 Polizisten
in der nordostungarischen Ortschaft Gyöngyöspata Roma-Angehörige vor den
gewaltbereiten Anhängern der paramilitärischen, rechtsextremistischen Vereini-
gung „Szebb Jövöért“ („Verteidigungsmacht“), eine Nachfolgeorganisation der
gerichtlich verbotenen „Ungarischen Garde“, schützen. Szebb Jövöért steht in
enger Verbindung mit der rechtsradikalen Jobbik-Partei („Bewegung für ein
besseres Ungarn“), die mit derzeit 46 Abgeordneten drittstärkste Kraft in der
ungarischen Nationalversammlung ist und offensiv rechtspopulistische, anti-
ziganistische Ressentiments schürt. Die Jobbik-Partei propagiert Begriffe wie
„Zigeunerterror“, der mit Kürzungen bei Sozialleistungen und der Einrichtung
von Arbeitslagern für Wiederholungstäter bekämpft werden müsse.
Das EU-Mitglied Ungarn musste sich 2011 wegen der anhaltenden Diskrimi-
nierung von Roma bereits vor dem UN-Menschenrechtsrat verantworten und
brüskierte mit der Bemerkung, dass kein Land perfekt sei, wenn es um Men-
schenrechte ginge (vgl. www.tagesschau.de/ausland/ungarn252.htm).

Drucksache 17/7468 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Bundesregierung die
aktuelle Entwicklung bei Pressefreiheit und Minderheitenrechten in Ungarn
beurteilt, und welche Schlussfolgerungen sie hieraus für ihre bilaterale Politik
gegenüber Ungarn und für ihre Politik innerhalb der EU zieht.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie schätzt die Bundesregierung die derzeit gültige Mediengesetzgebung in
Ungarn im Hinblick auf deren Konformität mit dem Recht auf Meinungs-
freiheit aus Artikel 11 der EU-Grundrechtecharta und der EU-Medien-
richtlinie von 2007 ein, und welche Position hat sie diesbezüglich innerhalb
der EU eingenommen?

2. Welche Konsequenzen sind im Fall von Verletzungen der genannten EU-
Bestimmungen durch einzelne Mitglieder vorgesehen, und welche Position
vertritt die Bundesregierung hierzu auf EU-Ebene?

3. In wie vielen Fällen und in welchem finanziellen Umfang wurden nach
Kenntnis der Bundesregierung seit Inkrafttreten des neuen ungarischen
Mediengesetzes durch die „Nationale Medien- und Infokommunikations-
behörde“ (NMHH) Strafzahlungen verhängt, und welche Medien waren
ggf. davon betroffen?

4. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Besetzung von Leitungs-
positionen in der NMHH geregelt, und existieren insbesondere dahingehend
Restriktionen, die eine Beeinflussung bzw. Kontrolle der NMHH durch die
amtierende bzw. künftigen Regierung/en verhindern oder begrenzen können?

5. In welchem Umfang kam es nach Kenntnis der Bundesregierung im Zuge
der Verschärfung der ungarischen Mediengesetzgebung bereits zu Ent-
lassungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in öffentlich-recht-
lichen Medien?

6. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zum aktuellen Stand der
nationalen Roma-Strategie der ungarischen Regierung und dem dazu-
gehörigen Aktionsplan, und welche Schwerpunktsetzung enthalten diese?

7. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die aktuelle Beschäfti-
gungssituation der Roma-Bevölkerung und ihre Auswirkungen auf die
soziale Integration der Roma in der ungarischen Gesellschaft?

8. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den Zugang der Roma-
Bevölkerung zu Gesundheitsversorgung und medizinischer Behandlung,
und welche Auswirkungen sind hierbei insbesondere bei der Entwicklung
von Säuglingssterblichkeit und allgemeiner Lebenserwartung festzustel-
len?

9. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den Zugang der Roma-
Bevölkerung zu schulischer Bildung und beruflicher Ausbildung, und
welche Ursachen sind hierfür ausschlaggebend?

10. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung seit 1989 die Alphabeti-
sierungsquote unter der Roma-Bevölkerung in Ungarn entwickelt?

11. In welchem Ausmaß existieren derzeit nach Kenntnis der Bundesregierung
Benachteiligungen von Roma auf dem Wohnungsmarkt, und wie wirken
sich etwaige Segregationstendenzen auf die aktuelle humanitäre und
menschenrechtliche Situation in Roma-Siedlungen aus?

12. In welchem Umfang verfügen die Bewohnerinnen und Bewohner in Roma-
Siedlungen nach Kenntnis der Bundesregierung über Zugang zu sanitärer

Grundversorgung, sauberem Trinkwasser und Energieversorgung?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7468

13. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Häufigkeit und Inten-
sität von gewalttätigen Übergriffen gegen Roma seit dem EU-Beitritt
Ungarns entwickelt?

14. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung darunter der Anteil so-
genannter Hassverbrechen gegen Roma-Angehörige als spezifische Form
von rassistischer Gewalt entwickelt, und wie hat die ungarische Justiz auf
diese Entwicklung bislang reagiert?

15. Inwieweit wurden innerhalb der EU und im Rahmen der deutsch-ungari-
schen Beziehungen die Entwicklung der Menschenrechtslage von Roma in
Ungarn erörtert, und wie haben die diplomatischen Vertreterinnen und
Vertreter Ungarns hierauf reagiert?

16. In welcher Weise und durch wen wird in Ungarn die Einrichtung und Tä-
tigkeit von Opferberatungsstellen für Roma und andere Opfer rassistischer
Gewaltverbrechen gefördert?

17. In welchem Umfang ist nach Kenntnis der Bundesregierung neben Anti-
ziganismus ggf. auch eine Zunahme von Antisemitismus und anderen
Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Ungarn festzustellen?

18. Wie hat das politische Auftreten der Jobbik-Partei und ihr nahestehender,
paramilitärischer Verbände nach Einschätzung der Bundesregierung die
Entwicklung der gesellschaftlichen Atmosphäre gegenüber Roma und ggf.
anderen Minderheiten in Ungarn beeinflusst?

19. Sind nach Kenntnis der Bundesregierung seit dem Auftreten der Jobbik-Par-
tei Veränderungen im Bereich der Sozialgesetz- und Minderheitengesetz-
gebung in Ungarn festzustellen, und falls ja, um welche konkreten Maß-
nahmen handelt es sich dabei?

20. Wie viele Roma-Angehörige aus Ungarn halten sich nach Kenntnis der
Bundesregierung gegenwärtig in Deutschland auf, die ausreisepflichtig
wären?

21. Wie viele Roma-Angehörige mussten seit der EU-Aufnahme Ungarns
2004 pro Jahr nach den gültigen aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen aus
der Bundesrepublik Deutschland nach Ungarn ausreisen, und in wie vielen
Fällen erfolgte eine erneute Wiedereinreise?

22. Wie beurteilt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der konkreten
Rückkehrbedingungen vor Ort derzeit die Durchführbarkeit von Roma-
Abschiebungen nach Ungarn, und welche politischen Konsequenzen zieht
sie daraus für die menschenrechtlichen Staatenpflichten der Bundes-
republik Deutschland?

Berlin, den 25. Oktober 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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