BT-Drucksache 17/7335

Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung (Abschaffung der nichtindividualisierten Funkzellenabfrage - § 100g Absatz 2 Satz 2 StPO)

Vom 18. Oktober 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7335
17. Wahlperiode 18. 10. 2011

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein,
Ulla Jelpke, Kornelia Möller, Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Frank
Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung (Abschaffung
der nichtindividualisierten Funkzellenabfrage – § 100g Absatz 2 Satz 2 StPO)

A. Problem

Durch zahlreiche – inzwischen durch den Sächsischen Datenschutzbeauftragten
bestätigte – Medienberichte wurde bekannt, dass die Polizei bei und im Vorfeld
der Demonstrationen am 19. Februar 2011 in Dresden im Zusammenhang mit
dem 66. Jahrestag der Bombardierung der Stadt nichtindividualisierte Funk-
zellenabfragen (FZA) in großem Umfang durchgeführt hat. Die FZA vom
19. Februar 2011 erfolgte über insgesamt neun Stunden an 14 verschiedenen
Örtlichkeiten, wobei die Sonderkommission 19/2 der Polizeidirektion Dresden
(SoKo 19/2) 138 630 Verkehrsdaten (Seriennummern der Mobiltelefone und
die dazugehörigen Telefonnummern, Standortdaten, Telefonnummern einge-
hender und abgehender Anrufe und Kurznachrichten sowie Datum und Uhrzeit
der Kommunikation) erhoben hat. Diese wurden mit dem Verdacht der Bege-
hung schweren Landfriedensbruchs durch mehrere noch unbekannte Demons-
trationsteilnehmerinnen bzw. -teilnehmer begründet, da es im Verlauf der Ver-
sammlungen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und
Demonstrantinnen und Demonstranten gekommen war. Die 138 630 Verkehrs-
datensätze enthielten 65 645 verschiedene Anschlussnummern, insbesondere
von friedlichen Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmern sowie von
Anwohnerinnen und Anwohnern, aus denen laut dem Gemeinsamen Bericht
des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz und für Europa und des Sächsi-
schen Staatsministeriums des Innern vom 24. Juni 2011 anhand von Kriterien
wie Häufung von Telefonaten und Aufenthalt an Tatorten des mutmaßlichen
schweren Landfriedensbruchs 460 verschiedene Einzelpersonen und Institutio-
nen herausgefiltert wurden. Diese Daten wurden rechtswidrig auch für Ermitt-
lungsverfahren wegen Störung einer Versammlung nach § 21 des Versamm-
lungsgesetzes herangezogen. Der für diese nachträgliche Maßnahme erforderli-
che richterliche Beschluss war durch die Staatsanwaltschaft vorformuliert und
wurde am 22. Februar 2011 ohne Änderung vom Gericht abgezeichnet.
Am 13., 18. und 19. Februar 2011 wurden im Rahmen von „Strukturermitt-
lungen“ gegen eine mutmaßliche kriminelle Vereinigung ebenfalls nichtindivi-
dualisierte Funkzellenabfragen durchgeführt, wobei Gebiete in Dresden zum
Teil bis zu 48 Stunden abgefragt wurden. Hierbei erhob das Landeskriminalamt
Sachsen 896 072 Datensätze, die neben Verkehrsdaten auch 40 732 Bestands-
daten (Name, Vorname, Geburtsdatum und Wohnanschrift der Telekommunika-
tionskundin bzw. des -kunden) enthielten. Diese Datensätze wurden außerdem

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an die SoKo 19/2 übermittelt. Der Sächsische Datenschutzbeauftragte befand
die Mehrzahl dieser Funkzellenabfragen für rechtswidrig und beanstandete sie
gegenüber der Landesregierung.

§ 100g Absatz 2 Satz 2 der Strafprozessordnung (StPO) stellt ein Mittel der Straf-
verfolgung zur heimlichen nachträglichen Erhebung von Telekommunikations-
spuren in einem räumlich und zeitlich eingegrenzten Gebiet dar. Die Strafverfol-
gungsbehörden dürfen von Telekommunikationsanbietern Auskunft über Tele-
kommunikation, die in deren Netz stattgefunden hat, verlangen. Dazu hat die
zuständige Staatsanwaltschaft zuvor einen Beschluss des zuständigen Amtsge-
richts einzuholen. Für die anschließende Abfrage der sensiblen Bestandsdaten
ist ein richterlicher Beschluss allerdings nicht erforderlich. Die Maßnahme darf
sich nur gegen Beschuldigte und Nachrichtenmittler richten, trifft aber de facto
alle Personen, die sich in dem betroffenen Gebiet mit einem Mobiltelefon auf-
halten oder darüber kommunizieren sowie diejenigen, die aus diesem Bereich
kontaktiert werden oder selber in das betroffene Gebiet Kontakt aufnehmen.
Eine Erfassung von unberechenbar vielen Personen, die in keinerlei Zusammen-
hang mit den polizeilichen Ermittlungen stehen – insbesondere in großen Bal-
lungszentren – ist also unvermeidlich.

Damit einher geht ein massiver Grundrechtseingriff. Direkt und gezielt wird in
das Fernmeldegeheimnis, das die Vertraulichkeit der Kommunikation schützt,
eingegriffen. Insbesondere im Hinblick auf die fortschreitende Technisierung
der Gesellschaft, die Verbreitung moderner Kommunikationsmittel und die da-
mit einhergehende Möglichkeit staatlichen Zugriffs auf mehr und mehr Verbin-
dungsdaten gewinnt dieses Grundrecht besondere Bedeutung. Durch die auto-
matisierte Verarbeitung und Verknüpfung der durch die FZA gewonnenen
computerlesbaren Verkehrsdaten können Freundschaftsbeziehungen und Netz-
werke, Interessen und politische Einstellungen identifiziert und Bewegungs-
profile erstellt werden. Dieser massive Eingriff ist in Bezug auf die unbere-
chenbar hohe Vielzahl an von der FZA betroffenen Unbeteiligten nicht verhält-
nismäßig. Dies gilt umso mehr angesichts des – aufgrund der ungezielten Vor-
gehensweise – zu erwartenden eher geringen Ermittlungsfortschritts. Bei der
Abfrage in Bezug auf Demonstrationen, wie in Dresden, kommt ein Eingriff in
die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit hinzu. Bei solchen sind – wie be-
reits im „Volkszählungsurteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 1983 festge-
stellt – staatliche Datenerhebungsmaßnahmen wegen des damit verbundenen
Einschüchterungseffekts im Hinblick auf die Bedeutung der Versammlungsfrei-
heit für eine Demokratie grundsätzlich gemeinwohlschädlich.

Der Dresdner Datenskandal verdeutlicht, dass es im Hinblick auf die Streu-
breite und die damit verbundenen schweren Eingriffe in die Grundrechte Unbe-
teiligter, die auf § 100g Absatz 2 Satz 2 StPO gestützten Ermittlungsmaßnah-
men innewohnen, nicht ausreicht, legislativ Sicherungen einzubauen, die ihre
Benutzung erträglich machen. Erforderlich ist vielmehr die ersatzlose Strei-
chung dieser Maßnahme aus dem Katalog möglicher Verfolgungsinstrumente.

B. Lösung

§ 100g Absatz 2 Satz 2 StPO wird aufgehoben.

C. Alternativen

Beschränkung des Anwendungsbereichs der Funkzellenabfrage, z. B. durch
Beschränkung der Anordnungsmöglichkeit auf schwerste Straftaten, Erweite-
rung des Richtervorbehalts und der Begründungspflichten sowie Beschränkun-

gen der Datenweitergabe. Dadurch würde der unverhältnismäßige Grundrechts-
eingriff aber nur reduziert, jedoch nicht endgültig behoben.

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D. Kosten

Bund, Länder und Gemeinden werden durch die Änderung nicht mit Kosten be-
lastet. Vielmehr ist durch den Wegfall dieser kostenintensiven Ermittlungsmaß-
nahme mit einer Kostenersparnis bei den Landes- und Bundespolizeien zu
rechnen.

Berlin, den 18. Oktober 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
Artikel 1
Änderung der Strafprozessordnung

§ 100g Absatz 2 Satz 2 der Strafprozessordnung in der
Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I
S. 1074, 1319), die zuletzt durch … geändert worden ist,
wird aufgehoben.

Artikel 2
Änderung des Einführungsgesetzes

zur Strafprozessordnung

Das Einführungsgesetz zur Strafprozessordnung in der
im Bundesgesetzblatt, Teil III, Gliederungsnummer 312-1,
veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch …
geändert worden ist, wird wie folgt geändert:

1. In der Inhaltsübersicht wird nach der Angabe zu § 13
folgende Angabe angefügt:

„§ 14 Übergangsregelung zum Gesetz zur Abschaffung
der nichtindividualisierten Funkzellenabfrage“.

2. Dem § 13 wird folgender § 14 angefügt:

㤠14
Übergangsregelung zum Gesetz zur Abschaffung der

nichtindividualisierten Funkzellenabfrage

Die bis zum … [einsetzen: Datum des Inkrafttretens
nach Artikel 3 dieses Gesetzes] mittels einer nichtindivi-
dualisierten Funkzellenabfrage nach § 100g Absatz 2
Satz 2 der Strafprozessordnung ermittelten Daten sind un-
verzüglich zu löschen. Sie dürfen nicht verwertet werden.
Die bereits erfolgten aber noch nicht vollzogenen Anord-
nungen von nichtindividualisierten Funkzellenabfragen
sind unwirksam.“

Artikel 3
Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung in
Kraft.
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Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung (Abschaffung
der nichtindividualisierten Funkzellenabfrage – § 100g Absatz 2 Satz 2 StPO)

Vom …

Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:

Verkehrsdaten. Es soll vor der Gefahr schützen, dass Men- teil vom 16. Juli 1969, 1 BvL 19/63, Rn. 20; BVerfG, Urteil

schen aufgrund der Möglichkeit seitens des Staates Kenntnis
von Kommunikationsbeziehungen zu erlangen, in ihrer
freien selbstbestimmten Kommunikation beeinflusst wer-

vom 15. Dezember 1983, 1 BvR 209/83 u. a., Rn. 146;
Simon/Taeger in JZ 1982, Grenzen kriminalpolitischer Ras-
terfahndung, S. 140, 143). Die Sammlung von Verkehrs-
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Begründung

A. Allgemeines

Die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage, welche ein
Mittel der Strafverfolgung zur heimlichen nachträglichen
Erhebung von Telekommunikationsspuren in einem räum-
lich und zeitlich eingegrenzten Gebiet darstellt, ist erst seit
2008 in § 100g Absatz 2 Satz 2 StPO geregelt (vgl. Bun-
destagsdrucksache 16/5846). Allerdings hat sie schon eine
ein wenig länger zurückgehende Historie. Unter der Fas-
sung des § 12 des Gesetzes über Fernmeldeanlagen (FAG)
von 1989 war aber in der juristischen Fachwelt noch strit-
tig, ob auch die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage
von der Vorschrift gedeckt ist, da der auf einen Beschuldig-
ten Bezug nehmende Wortlaut eine solche Auslegung nicht
nahe legte. Dieses Gesetz war befristet bis zum 31. Dezem-
ber 2001. Erst unter der Regierungskoalition von SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wurde mit Gesetz vom
20. Dezember 2001 die nichtindividualisierte Funkzellen-
abfrage, auf Anregung durch den Bundesrat, explizit in
§ 100h Absatz 1 Satz 2 StPO eingeführt (Bundestagsdruck-
sachen 14/7008, 14/7679). Die Bundestagsfraktion PDS hat
damals bereits auf die mögliche Ausuferung und der rechts-
staatlichen Prinzipien nicht gerecht werdende Ausgestal-
tung der Norm hingewiesen (Plenarprotokoll 14/206,
14. Wahlperiode, 206. Sitzung, zweite Lesung, S. 20422)
und gegen sie gestimmt.

Dem Gesetzgeber war damals immerhin schon bewusst, dass
es sich bei der FZA um eine tiefgreifende und grundrechts-
intensive Eingriffsmaßnahme handelt. Deshalb hat er, wie bei
der Rasterfahndung (§ 98a StPO), der Telefonüberwachung
(§ 100a StPO) und der Wohnraumüberwachung (§ 100c
StPO), eine Subsidiaritätsklausel vorgesehen, nach der die
Maßnahme nur gestattet ist, „wenn andernfalls die Erfor-
schung des Sachverhalts aussichtslos oder wesentlich er-
schwert wäre“. Aber diese Sicherung kann ebenso wenig wie
der Ausbau des Richtervorbehalts – der im Dresdner Fall sei-
ner begrenzenden Funktion auch nicht gerecht werden
konnte – und der Begründungspflicht oder die Begrenzung
der materiellen Anordnungsvoraussetzungen u. Ä. eine Ver-
hältnismäßigkeit der FZA im Einzelfall gewährleisten. Die
FZA stellt vielmehr einen massiven Eingriff in Grundrechte
dar und ist insbesondere durch die regelmäßig hohe Anzahl
an unbeteiligten Betroffenen von vornherein unverhältnismä-
ßig. Sie ist daher abzuschaffen.

§ 100g Absatz 2 Satz 2 StPO greift in das von Artikel 10 GG
geschützte Fernmeldegeheimnis ein. Dieses umfasst neben
dem Schutz von Kommunikationsinhalten auch die näheren
Umstände der Telekommunikation. „Dazu gehört, ob, wann
und wie oft zwischen welchen Personen oder Endeinrichtun-
gen Telekommunikationsverkehr stattgefunden hat oder ver-
sucht worden ist“ (BVerfG, Urteil vom 2. März 2010,
1 BvR 256/08 u. a., Rn. 189), also die von der FZA erfassten

dass der Meinungs- und Informationsaustausch mittels Tele-
kommunikationsanlagen deswegen unterbleibt oder nach
Form und Inhalt verändert verläuft, weil die Beteiligten da-
mit rechnen müssen, dass staatliche Stellen sich in die Kom-
munikation einschalten und Kenntnisse über die Kommuni-
kationsbeziehungen oder Kommunikationsinhalte gewinnen“
(BVerfG, Urteil vom 12. März 2003, 1 BvR 330/96 u. a.,
Absatz 46). Die von der fortschreitenden Technisierung der
Gesellschaft und dem durch Verbreitung moderner Kom-
munikationsmittel erheblichen Anstieg an überwachbaren
Verbindungsdaten ausgehende Gefahr für den Datenschutz
erkennt das BVerfG: „Immer mehr Lebensbereiche werden
von modernen Kommunikationsmitteln gestaltet. Damit er-
höht sich nicht nur die Menge der anfallenden Verbindungs-
daten, sondern auch deren Aussagegehalt. Sie lassen in
zunehmendem Maße Rückschlüsse auf Art und Intensität
von Beziehungen, Interessen, Gewohnheiten, Neigungen
und nicht zuletzt auch auf den jeweiligen Kommunikations-
inhalt zu und vermitteln – je nach Art und Umfang der all-
gemeinen Daten – die Kenntnisse, die an die Qualität eines
Persönlichkeitsprofils heranreichen können“ (BVerfG,
Urteil vom 2. März 2006, 2 BvR 2099/04, NJW 2006, 976,
980). Die technische Entwicklung führt gleichzeitig zu
immer effektiveren Überwachungsmethoden und damit zu
immer gravierenderen Eingriffen in Grundrechte. Die Über-
wachung der Telekommunikation stellt inzwischen eines der
meistangewendeten Instrumente der strafprozessualen Be-
weisgewinnung dar. Dabei nimmt die Überwachung des
Mobilfunks eine zentrale Position ein, da hier neben den
Inhalten über die Verbindungsdaten auch die weiteren
Umstände der Kommunikation kontrolliert werden können
(LG Stade, StV 2005, S. 434 f.). Während im Jahr 2008 noch
13 426 Verkehrsdatenabfragen angeordnet wurden, waren es
2009 hingegen schon 15 707 (Statistiken vom 24. August
2009 und 28. Oktober 2010 auf www.bundesjustizamt.de,
abgerufen am 30. September 2011).

Über die automatisierte Verarbeitung und Verknüpfung von
computerlesbaren Verkehrsdaten anhand von Kommunika-
tionspartnerinnen und Kommunikationspartnern werden die
Abbildung von Freundschaftsbeziehungen und Netzwerke,
die Identifizierung von Interessen und politischen Einstellun-
gen und die Erstellung von Bewegungsprofilen für eine staat-
liche Kontrolle zugänglich (so auch der Sächsische Daten-
schutzbeauftragte in seinem Bericht nach § 30 Absatz 2 des
Sächsischen Datenschutzgesetzes vom 9. September 2011).
Kriminalitätsbekämpfung ist aber lediglich ein Mittel, um
Menschenwürde und Freiheit herzustellen und darf nicht
zum Selbstzweck werden (Simon/Taeger in JZ 1982, Gren-
zen kriminalpolitischer Rasterfahndung, S. 140, 143). Des-
halb widerspricht es der Menschenwürde, Bürgerinnen und
Bürger in ihrer ganzen Persönlichkeit zu erfassen oder ihn
durch Datensammlungen teilabzubilden (vgl. BVerfG, Ur-
den. „Mit der grundrechtlichen Verbürgung der Unverletz-
lichkeit des Fernmeldegeheimnisses soll vermieden werden,

daten, die über den möglichen Abgleich mit weiteren Daten,
einen tiefen Einblick in Persönlichkeiten ermöglichen kann,

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ist daher allenfalls in eng begrenzten Ausnahmefällen hin-
nehmbar. Ob dies bei der Abfrage von Verkehrsdaten einer
konkret bezeichneten Beschuldigten oder eines Beschuldig-
ten der Fall sein kann, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls
bei einer nichtindividualisierten Funkzellenabfrage, die eine
Vielzahl von Unbeteiligten betrifft, die den Eingriff durch
ihr Verhalten nicht veranlasst haben, ist sie nicht hinnehm-
bar. „Denn wird die Kommunikation Unverdächtiger er-
fasst, so schafft die Erhebung der Verbindungsdaten für sie
das Risiko, Gegenstand staatlicher Ermittlungen zu sein, das
zu dem allgemeinen Risiko hinzutritt, einem unberechtigten
Verdacht ausgesetzt zu werden. Die Auskunft wird – wie
dies bei Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis typischer-
weise der Fall ist – ohne Anhörung des Betroffenen ange-
ordnet und damit ohne Kenntnisnahme heimlich vollzogen;
sie trifft den Betroffenen folglich in einer Situation ver-
meintlicher Vertraulichkeit. Eingriffe dieser Art bergen spe-
zifische Risiken für die Rechte der Betroffenen, die sich ge-
gen den Eingriff frühestens dann mit rechtlichen Mitteln
wehren können, wenn er bereits vollzogen ist, und auch das
nur, wenn sie über die Maßnahme informiert werden oder
auf andere Weise Kenntnis erlangen“ (BVerfG, Urteil vom
12. März 2003, 1 BvR 330/96 u. a., Absatz 73/74). Zwar
darf sich die FZA nur gegen Beschuldigte und Nachrichten-
mittler richten, tatsächlich trifft sie aber alle Personen, die
sich in der Funkzelle mit einem Mobiltelefon aufhalten oder
darüber kommunizieren sowie diejenigen die aus diesem
Bereich kontaktiert werden oder selber in das betroffene
Gebiet Kontakt aufnehmen. Die Bundesregierung selbst
räumt ein, dass durch eine FZA „technisch bedingt in regel-
mäßig unvermeidbarer Weise auch Verkehrsdaten Unbe-
teiligter erhoben [werden], namentlich solcher Personen, die
– ohne Beschuldigte oder Nachrichtenmittler des Beschul-
digten zu sein – in der Funkzelle in einem bestimmten Zeit-
raum mittels eines Mobiltelefons kommuniziert oder sich
dort mit ihrem Mobiltelefon aufgehalten haben“ (Bundes-
tagsdrucksache17/6630, S. 2). Die bei einer FZA unver-
meidliche Erfassung von unberechenbar vielen Personen,
die in keinerlei Zusammenhang mit den polizeilichen Er-
mittlungen stehen – mag auch das Ausmaß des Dresdner
Datenskandals im Zusammenhang mit den Demonstratio-
nen vom 19. Februar 2011 nicht immer erreicht werden – ist
außer Verhältnis zum Ziel der Strafverfolgung einzelner
Verdächtiger innerhalb des großen Kreises Unverdächtiger.

Dies gilt umso mehr im Hinblick auf den geringen zu erwar-
tende Ermittlungserfolg bzw. Ermittlungsfortschritt. Der mit
einer Funkzelle verbundene Aufwand der Ermittlungsbe-
hörden zur Identifizierung der unbekannten Verdächtigen ist
sehr hoch. Es müssen Auskünfte bei allen vier inländischen
Mobilfunkbetreibern zur jeweils nächstliegenden Funkzelle
eingeholt werden. Die Ermittlung der gesuchten Rufnum-
mer ist meist nur erfolgsversprechend, wenn Vergleichsda-
ten verschiedener Tatorte vorliegen. Die weitere Auswer-
tung wie das Filtern anhand zu bestimmender Kriterien be-
darf kriminalistischer Feinarbeit mit hohem personellem
Aufwand (vgl. Wolfgang Bär, Kommentar zur TK-Überwa-
chung, § 100g StPO, Rn. 25). Und selbst wenn es im Ein-
zelfall möglich wäre letztlich eine überschaubare Anzahl an
Daten herauszufiltern, stellen diese immer noch bloß ein
schwaches Indiz dafür dar, dass die Anschlussinhaberin

Gegenüber dem ebenfalls einschlägigen, durch das Volks-
zählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts entwickelten,
Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Artikel 2
Absatz 1 i. V. m. Artikel 1 Absatz 1 GG ist das durch die FZA
verletzte Fernmeldegeheimnis aus Artikel 10 GG spezieller
(Maunz-Düring, GG-Kommentar, Artikel 10 Rn. 209).

Beim Einsatz auf Versammlungen wie in Dresden kommt
außerdem noch die Verletzung der durch Artikel 5 GG
und 8 GG gewährleisteten Meinungs- und Versammlungs-
freiheit zum Tragen. Staatliche Datenerhebungsmaßnahmen
bei oder in Bezug auf Versammlungen sind wegen des damit
verbundenen Einschüchterungseffekts besonders kritisch.
„Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Ver-
sammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert
wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird
möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden
Grundrechte (Artikel 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht
nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen be-
einträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbst-
bestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf
Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bür-
ger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwe-
sens ist“ (Volkszählungsurteil des BVerfG vom 15. Dezem-
ber 1983, 1 BvR 209/83 u. a., Rn. 146). Wenn sich außer-
dem beispielsweise Journalistinnen und Journalisten und
Abgeordnete in der Funkzelle befinden oder mit ihnen aus
der Funkzelle heraus kommuniziert wird, sind zusätzlich die
Pressefreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 GG und das
durch Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 GG geschützte freie Man-
dat beeinträchtigt.

Im Hinblick auf die der nichtindividualisierten Funkzellen-
abfrage innewohnende Streubreite und Möglichkeit des Zu-
griffs auf massenhafte Daten von unverdächtigen Personen
stellt sie regelmäßig einen massiven und unverhältnismäßi-
gen Eingriff in Grundrechte, so dass kein Raum für eine
Einzelfallprüfung bleibt.

Der Gewährleistung der Grundrechte ist durch Reparaturar-
beiten am § 100g Absatz 2 Satz 2 nicht beizukommen, er-
forderlich ist daher die Streichung der Norm.

B. Einzelbegründung

Zu Artikel 1 (Änderung des Strafprozessordnung)

Da die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage grundsätz-
lich als Ermittlungsmaßnahme unverhältnismäßig ist, war
deren Ermächtigungsgrundlage § 100g Absatz 2 Satz 2 auf-
zuheben.

Zu Artikel 2 (Änderung des Einführungsgesetzes
zur Strafprozessordnung)

Zu Nummer 1

Die Inhaltsübersicht wurde aufgrund des neuen § 14 er-
gänzt.

Zu Nummer 2

Der neue § 14 stellt eine Übergangsregelung dar. Die Vor-

oder der Anschlussinhaber eines erfassten Mobiltelefons am
Tatort war, aber noch längst keinen Beweis.

schrift sichert, dass alle mittels einer nichtindividualisierten
Funkzellenabfrage ermittelten Daten unverzüglich gelöscht

Deutscher Bundestag – 17. rucksache 17/7335
Wahlperiode – 7 – D

und nicht verwertet werden sowie die Unwirksamkeit von
bereits erfolgten aber noch nicht vollzogenen Anordnun-
gen.

Zu Artikel 3 (Inkrafttreten)

Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten des Gesetzes.

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