BT-Drucksache 17/7190

Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung auf den Weg bringen

Vom 28. September 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7190
17. Wahlperiode 28. 09. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,
Elisabeth Scharfenberg, Katrin Göring-Eckardt, Sven-Christian Kindler,
Fritz Kuhn, Markus Kurth, Brigitte Pothmer und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung
auf den Weg bringen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das deutsche Gesundheitswesen steht vor immensen Herausforderungen. Der
demographische Wandel, die damit einhergehenden Veränderungen von Krank-
heitsbildern und auch die veränderten Ansprüche von Patientinnen und Patien-
ten erfordern eine anders strukturierte Versorgung. Nötig sind etwa nach Auf-
fassung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im
Gesundheitswesen (SVR) insbesondere eine Aufwertung der Primärversorgung,
eine geänderte Arbeitsteilung zwischen den ärztlichen und nichtärztlichen Ge-
sundheitsberufen, die Überwindung der Trennung zwischen den Sektoren des
Gesundheitswesens sowie mehr Anreize für neue Versorgungsformen. Auch
wirksame Schritte zur Vermeidung von Über- und Fehlversorgung hat der SVR
wiederholt eingefordert.

Dem wird der Gesetzentwurf der Bundesregierung (GKV-Versorgungsstruktur-
gesetz, Bundestagsdrucksache 17/6906) nicht gerecht. Nicht die Bedürfnisse
der Patientinnen und Patienten stehen im Vordergrund, sondern die finanziellen
Interessen einzelner Leistungserbringer. Neue Versorgungslösungen werden
behindert, bestehende Instrumente zum Abbau von Über- und Fehlversorgung
werden wieder abgeschafft, wirksame Anreize für mehr Qualität werden nicht
geschaffen und die Potentiale nichtärztlicher Gesundheitsberufe werden
schlicht ausgeblendet.

Die Rechnung für dieses Reformversagen werden allein die Versicherten über
Zusatzbeiträge zahlen müssen. Schlimmer noch: Die Versicherten werden
gleich doppelt zur Kasse gebeten, denn die Bundesregierung bricht durch den
Gesetzentwurf ihr Versprechen eines vollständig aus Steuermitteln finanzierten
Sozialausgleichs für die Menschen, die sich die steigenden Zusatzbeiträge nicht
mehr leisten können. Einen großen Teil der Mittel für diesen Ausgleich werden

künftig die Versicherten über ihre Beitragszahlungen aufbringen müssen.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert deshalb die Bundesregierung auf,

den bestehenden Gesetzentwurf zurückzuziehen und einen neuen Entwurf vor-
zulegen, durch den

1. die bisherige Bedarfsplanung reformiert wird hin zu einer Sektor übergrei-
fenden und auf gründlichen Analysen (u. a. unter Berücksichtigung der
Morbidität und Sozialstruktur) und Versorgungszielen fußenden Versor-
gungsplanung;

2. die Primärversorgung deutlich aufgewertet und in ihrer Rolle als Lotse der
Versorgung gestärkt wird;

3. die Aufgabenverteilung zwischen den Gesundheitsberufen neu gestaltet wird,
Anreize für mehr teamorientierte Zusammenarbeit entstehen und flexiblere,
familienfreundliche Arbeitszeiten ermöglicht werden;

4. mehr Spielräume für neue und vor allem vernetzte Versorgungsformen wie
regionale Versorgungsverbünde, Gesundheitszentren und mobile Lösungen
geschaffen werden;

5. wirksame Anreize zur Vermeidung von Über-, Unter- und Fehlversorgung
gesetzt werden.

Berlin, den 28. September 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Der wachsende Anteil chronischer und multimorbider Patientinnen und Patien-
ten erfordert eine andere Art der gesundheitlichen Versorgung. Dabei müssen
personenzentrierte Ansätze ebenso wie populationsbezogene Ansätze stärker
als bisher zur Grundlage der Versorgungsgestaltung gemacht werden. Eine
nutzerorientierte Versorgungsgestaltung kann einen wesentlichen Beitrag zur
Vermeidung gesundheitlicher Ungleichheit wie auch zur Reduzierung von
Über-, Unter- und Fehlversorgung leisten.

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung wird diesem Anspruch in
keiner Weise gerecht. Statt Anreize für eine bessere Zusammenarbeit aller Ge-
sundheitsberufe und die Überwindung der Sektorengrenzen zu schaffen, wird
vorrangig an Einzelsymptomen herumgedoktert und die ärztliche Klientel
bedient. Statt mehr Möglichkeiten für kreative Versorgungsansätze zu schaffen,
werden Versorgungsformen wie die Medizinischen Versorgungszentren be-
hindert.

Ziel ist ein bedarfsgerechtes Versorgungssystem, das mehr Möglichkeiten für
gute Versorgung bietet und weitgehend dezentral ausgestaltet ist. Kern muss
aus unserer Sicht die Primärversorgung sein, in der verschiedene Gesundheits-
berufe etwa in Primärversorgungspraxen teamorientiert zusammenarbeiten.

Zu Nummer 1

Ziel von Planung und Steuerung sind die Gewährleistung eines möglichst glei-
chen Zugangs zum Gesundheitswesen sowie die Vermeidung von Über-, Unter-
und Fehlversorgung. Die bestehende Bedarfsplanung ist vor diesem Hinter-

grund unverzichtbar aber auch stark reformbedürftig. Sie muss schrittweise zu
einer Sektor übergreifenden Versorgungsplanung weiterentwickelt werden, die

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auf gründlichen Versorgungsanalysen und darauf fußenden Versorgungszielen
basiert. Dabei sollen auch mehr Spielräume für dezentrale Lösungen geschaf-
fen werden. Kommunen sowie Patientinnen und Patienten sollen mehr Mög-
lichkeiten erhalten, die Versorgung vor Ort selbst zu gestalten. Auch die Länder
sollen stärker einbezogen werden. Im Einzelnen wird vorgeschlagen:

● Die Planung soll den ambulanten und stationären Sektor umfassen und nach
den Versorgungsstufen Primärversorgung, allgemeine fachärztliche Ver-
sorgung und spezielle fachärztliche Versorgung differenziert werden. Die
Primärversorgung wird generell kleinräumiger als bislang geplant. Für
bestimmte spezialärztliche Bereiche (z. B. Transplantation, Behandlung
seltener Erkrankungen, Einsatz von Großgeräten) ist eine großräumigere
Planung bzw. Zulassung nötig. Je nach Spezialisierungsgrad kann dabei der
Bezugspunkt der Landkreis, das Bundesland oder die Bundesrepublik
Deutschland sein.

● Auf der Grundlage der im Gesundheitssystem bereits vielfach vorhandenen
Versorgungsdaten (u. a. nach den §§ 303a bis 303f SGB V) werden durch ein
vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beauftragtes unabhängiges
Institut regelmäßig Sektor übergreifende Versorgungsanalysen unter Ein-
bezug von demographischen und epidemiologischen Daten zur physischen
und psychischen Gesundheit in den verschiedenen Regionen vorgenommen.

● Der G-BA beschließt unter Beteiligung der Länder Vorgaben für eine Sektor
übergreifende Versorgungsplanung auf Landesebene. Dieser Beschluss ent-
hält Mindestvorgaben zur Erreichbarkeit, zur Qualität sowie zum Umfang
des vorzuhaltenden Leistungsangebots.

● Die Versorgungsplanung auf Landesebene erfolgt durch einen Sektor über-
greifenden Versorgungsausschuss, der neben Vertretern der Leistungserbrin-
ger auch Land, Kommunen und Patientenverbände einbezieht. Unterstützt
wird der Versorgungsausschuss durch eine unabhängige Stelle, die die auf
der Bundesebene vorgenommenen Versorgungsanalysen aufbereitet.

● Der Versorgungsausschuss definiert auf der Basis der regionalen Versor-
gungsanalyse prioritäre Versorgungsziele und vereinbart den Landesversor-
gungsplan, der Art, Umfang, regionale Verteilung und Anforderungen an die
Strukturqualität der vorzuhaltenden Versorgungsleistungen bestimmt. Diese
Planung ist innovationsoffen und lässt notwendige regionale Freiräume für
die Entwicklung neuer Versorgungsformen und eine geänderte Arbeitstei-
lung zwischen den Gesundheitsberufen.

● Bei der Aufstellung der Versorgungspläne sind die Empfehlungen der in den
Landkreisen und kreisfreien Städten zu bildenden Gesundheitskonferenzen
der Landkreise und kreisfreien Städte zu berücksichtigen. Die Gesundheits-
konferenzen, denen die Kommunen, lokale Leistungserbringer, Vertreter der
Gesundheitsberufe und sachkundige Bürgerinnen und Bürger angehören, er-
heben auf der Basis von Befragungen lokale Bedürfnisse und Erfahrungen,
entwickeln vor Ort umsetzbare Konzepte und beraten den Versorgungsaus-
schuss auf Landesebene bei der Erstellung und Fortschreibung des Versor-
gungsplans.

Zu Nummer 2

Internationale Untersuchungen zeigen deutlich, dass eine gute Primärversor-
gung zu einer qualitativ besseren und wirtschaftlicheren Versorgung führt. Die
Herausforderungen einer älter werdenden Gesellschaft sind nur dann zu meis-
tern, wenn die Primärversorgung einen deutlich größeren Stellenwert erhält. Auf
diese Weise ist auch eine Abkehr von einer rein krankheitsbezogenen Versor-

gung hin zu einem mehr patientenzentrierten Ansatz möglich. Gute Primärver-

Drucksache 17/7190 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

sorgung geht weit über die in Deutschland bislang praktizierten Hausarztmo-
delle hinaus. Sie verlangt neben der Weiterentwicklung des bestehenden Sys-
tems der Einzelpraxen hin zu teamorientierten und barrierefreien Primärversor-
gungszentren eine größere Patientenorientierung und die Einbindung weiterer
Gesundheitsberufe. Eine solche Primärversorgung übernimmt eine stärker koor-
dinierende und auch vorausschauend handelnde Funktion und wird so zum Kern
guter Versorgung. Dies bedeutet unter anderem auch, die Aus- und Weiterbil-
dung der ärztlichen und nichtärztlichen Gesundheitsberufe stärker auf die An-
forderungen der Primärversorgung auszurichten, eine Weiterentwicklung des
Honorarsystems, das die Funktionen der Primärversorgung wie Team-, Präven-
tions- und Steuerungsleistungen besonders berücksichtigt und mehr Anreize
schafft, sich vorausschauend und mit mehr Zeit den Belangen der Patientinnen
und Patienten zu widmen. Langfristig sollte für den Bereich der Primärversor-
gung ein weitgehend kontaktunabhängiges Vergütungssystem auf der Basis von
Versichertenpauschalen (Capitation) und zusätzlichen Qualitätsanreizen (Pay
for Performance) erprobt werden.

Zu Nummer 3

Chronisch und mehrfach sowie psychisch erkrankte Patientinnen und Patienten
benötigen weit mehr als nur eine medizinische bzw. therapeutische Versorgung.
Sie brauchen neben der Behandlung ihrer akuten Beschwerden auch Hilfen
zum Leben mit der Krankheit genauso wie Präventionsmaßnahmen, die die
Verschlimmerung ihrer Krankheit verhindern oder verzögern. Für die künftige
Versorgung heißt das: Ärztliche und nichtärztliche Gesundheitsberufe werden
weitaus stärker kooperieren müssen. Die nichtärztlichen Gesundheitsberufe,
insbesondere qualifizierte Pflegekräfte, werden eine erweiterte Rolle erhalten.
Sie werden Aufgaben eigenverantwortlich übernehmen, die bisher unzureichend
abgedeckt sind, und sie werden pflegerische Bedarfe eigenständig einschätzen
und medizinisch-pflegerische Interventionen selbst durchführen müssen. Die
Illusion der Allzuständigkeit der Ärztinnen und Ärzte ist auch in deren eigenem
Interesse aufzulösen.

Dabei streben wir statt einer bloßen Delegation ärztlicher Aufgaben eine grund-
sätzliche Neuformulierung heilkundlicher Aufgaben innerhalb der ärztlichen
und nichtärztlichen Gesundheitsberufe an. Dies umfasst konkret Rechtssicher-
heit für die Delegation und dauerhafte Übertragung ärztlicher Aufgaben an
nichtärztliche Gesundheitsberufe sowie die Aufhebung des Arztvorbehaltes für
bestimmte Tätigkeiten. Als erster Schritt soll hierzu in regionalen Modellpro-
jekten besonders qualifizierten Angehörigen nichtärztlicher Gesundheitsberufe
im Rahmen einer vernetzten multiprofessionellen Versorgungsstruktur eine
größere Eigenständigkeit, wie etwa die Verordnungskompetenz für bestimmte
Leistungen, ermöglicht werden.

Zu Nummer 4

Von großer Bedeutung ist der Ausbau der integrierten Versorgung hin zu regio-
nalen Vollversorgungsangeboten, die den ambulanten und stationären Sektor
umfassen. Diese sollen als eine Möglichkeit neben den herkömmlichen Versor-
gungsmodellen weiterentwickelt werden. Insgesamt sind mehr gesetzliche
Spielräume für innovative Versorgungsmodelle nötig. Dies gilt beispielsweise
für neue Vertragsformen oder die regionale Ausschreibung von Versorgungsver-
trägen. Zu erwägen sind wissenschaftlich begleitete und auf Darlehensbasis ge-
förderte Modellprojekte, in denen neue Versorgungslösungen erprobt werden.
Die Förderung könnte aus einem von GKV und PKV getragenen Innovations-
fonds erfolgen. Bestehende Gesundheitsverbünde, die einen bestimmten Anteil

von Versicherten einer Region versorgen, sollen den Status von Leistungserbrin-
gern erhalten und sich so auch direkt um Arztsitze bewerben können. Die Mög-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/7190

lichkeit, Medizinische Versorgungszentren (MVZ) zu gründen, soll auf Ärzte-
netze, Gesundheitsverbünde, Kommunen und Patientenorganisationen aus-
geweitet werden. Die Leitung soll auch nichtärztlichen Gesundheitsberufen wie
beispielsweise Psychotherapeutinnen und -therapeuten oder qualifizierten
Pflegekräften ermöglicht werden. Eine Zulassung sollen künftig auch primär-
versorgende Gesundheitszentren bzw. Arztstationen erhalten können. Kranken-
kassen sollten die Möglichkeit erhalten, für bestimmte Versichertengruppen wie
Unternehmensbelegschaften, Patientenorganisationen oder Behindertenverbände
Gruppentarife, die spezielle Versorgungsformen vorsehen, anbieten zu können.

Zu Nummer 5

Ohne Steuerung kann ein solidarisch finanziertes Gesundheitswesen nicht funk-
tionieren. Während in manchen vor allem ländlichen und sozial benachteiligten
Regionen zunehmend Defizite in der Versorgung sichtbar werden, sind andere
Regionen durch erhebliche Überversorgung gekennzeichnet. Durch eine stär-
kere Koordination und Vernetzung der Versorgung können Unter- und Fehlver-
sorgung erheblich reduziert werden. Darüber hinaus sind Vergütungsanreize in
unterversorgten Fachgruppen und Regionen sinnvoll. Diese werden aber nur
dann zu finanzieren sein, wenn gleichzeitig auch die erhebliche Überversorgung
in manchen Regionen und Versorgungsbereichen wirksam bekämpft wird. Die
2007 in das SGB V aufgenommene Zu- und Abschlagsregelung bei Unter- und
Überversorgung darf daher nicht gestrichen werden, sondern muss stattdessen
durch die Selbstverwaltung endlich umgesetzt werden. Die Wiederbesetzung
von Sitzen in überversorgten Regionen soll zur Ausnahme werden. Die kassen-
ärztlichen Vereinigungen sollen regelhaft überzählige Sitze aufkaufen und still-
legen. In der Bedarfsplanung der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten
besteht keine systematische Verbindung zwischen der Zahl von Psychothera-
peuten je 100 000 Einwohner und den Versorgungsgraden. Daher ist eine kurz-
fristige Neuberechnung notwendig um zu verhindern, dass in rechnerisch über-
versorgten Gebieten durch einen Abbau faktische Unterversorgung entsteht.

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