BT-Drucksache 17/7029

Existenzsicherung von Stiefkindern im Leistungsbezug des SGB II und SGB XII garantieren

Vom 20. September 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7029
17. Wahlperiode 20. 09. 2011

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Existenzsicherung von Stiefkindern im Leistungsbezug des SGB II und
des SGB XII garantieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Hartz IV legt Menschen Unterhaltsverpflichtungen auf, die jeder zivilrecht-
lichen Grundlage entbehren. Dies ist ein unhaltbarer Zustand. Wenn Menschen
keine unterhaltsrechtlichen Verpflichtungen eingegangen sind, so darf durch
das Sozialrecht nicht das Gegenteil unterstellt und erzwungen werden. Gegen
dieses Prinzip verstößt die Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft im Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), die daher grundlegend auf den Prüfstand zu
stellen ist.

Kurzfristig ist als erster Schritt die bestehende Existenzgefährdung von Kindern
in sogenannten Patchworkfamilien im SGB II zu korrigieren. Durch das SGB-II-
Fortentwicklungsgesetz von 2006 wird festgeschrieben, dass Kinder in Patch-
workfamilien zur Bedarfsgemeinschaft gehören. Seitdem gilt sowohl für verhei-
ratete als auch für nichtverheiratete Paare: Die Anrechnung von Einkommen und
Vermögen findet grundsätzlich und immer statt. Insbesondere bleibt unberück-
sichtigt, ob und inwieweit eine finanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet.

Im Unterschied zum SGB II wird im SGB XII eine (anteilige) Bedarfsdeckung
des soziokulturellen Existenzminimums durch die Partnerin/den Partner des
leiblichen Elternteils unter Berücksichtigung von Freibeträgen widerlegbar unter-
stellt. Diese Unterstellung ist in der Praxis nur schwer zurückzuweisen.

Mit diesen rechtlichen Konstruktionen im SGB II und im SGB XII kann die
Existenzsicherung der Kinder in Patchworkfamilien nicht garantiert werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zu den Hartz-IV-
Regelsätzen ausdrücklich festgestellt: „Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf frei-
willige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung
nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist.“
(BVerfG 1 BvL 1/09 vom 9. Februar 2010, Absatznummer 136). Ein hilfe-
bedürftiges Kind in einer Patchworkfamilie hat keine einklagbaren Rechte ge-
genüber der neuen Partnerin oder dem neuen Partner des leiblichen Elternteils.
Insofern stellt die generelle Unterstellung einer Unterstützung einen verfas-
sungsrechtlich unzulässigen Verweis auf „freiwillige Leistungen“ Dritter dar.

Die öffentliche Hand verweigert im SGB II trotz der klaren Aussage des Bun-
desverfassungsgerichts einen Leistungsanspruch mit dem Verweis auf Einkom-
men und/oder Vermögen des Stiefelternteils bzw. des Partners/der Partnerin des
Elternteils. Das Kind geht leer aus, ohne sich aus eigener Kraft rechtlich

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wehren zu können. Auch die denkbare Alternative eines Auszugs steht dem un-
ter 25 Jahre alten Nachwuchs auf Grund der rechtlichen Einschränkungen nur
bedingt offen. Damit wird gegen das Grundrecht des Kindes auf ein menschen-
würdiges Existenzminimum verstoßen. Diese verfassungswidrige Gesetzeslage
ist schnellstmöglich zu korrigieren.

Auch jenseits der verfassungsrechtlichen Bewertung ist ein dringender Hand-
lungsbedarf insofern gegeben, als die derzeitigen sozialrechtlichen Regelungen
massive Hürden für neue Partnerschaften und Familiengründungen darstellen.
Neuerliche Partnerschaften und Familiengründungen werden für Leistungs-
berechtigte mit Kindern mit Leistungsentzug sanktioniert. Diese unhaltbare
Rechtslage ignoriert den sozialen Wandel hin zu vermehrten Patchworkfamilien.
Auch im Sinne einer menschlichen und solidarischen Gesellschaft sind die
Barrieren und Hürden für die Gründung neuer Partnerschaften und Familien ab-
zubauen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

kurzfristig ein Gesetz mit folgendem Inhalt vorzulegen:

Das Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums von Kindern in
Patchworkfamilien wird gesetzlich garantiert. Die Garantie gilt unabhängig von
der Frage, ob das neue Paar verheiratet ist. Zu diesem Zweck wird eine Regelung
im SGB II und im SGB XII eingeführt, nach der Einkommen und Vermögen der
neuen Partnerin oder des neuen Partners des Elternteils bei der Bedarfsermitt-
lung des Kindes nicht zu berücksichtigen sind.

Berlin, den 20. September 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Mit dem SGB-II-Fortentwicklungsgesetz werden auch Kinder in Patchwork-
familien in die Rechtskonstruktion Bedarfsgemeinschaft einbezogen. Einkom-
men und Vermögen der Partner wird grundsätzlich auf den Bedarf des Kindes
angerechnet. Praktisch bedeutet dies: Wenn ein Mensch mit einer SGB-II-leis-
tungsberechtigten Person mit Kindern zusammenzieht, so wird seine oder ihre
Bereitschaft zur Finanzierung des nicht leiblichen Kindes von Gesetzes wegen
unterstellt – und zwar unwiderlegbar. Das Kind gilt – bei entsprechendem Ein-
kommen oder Vermögen des faktischen oder vermeintlichen Stiefelternteils –
als nicht bedürftig und damit nicht als leistungsberechtigt. Tatsächliche Verhält-
nisse spielen dabei keine Rolle. Eine Garantie des Existenzminimums des Kin-
des oder der Kinder ist mit dieser gesetzlichen Lage nicht möglich. Die Norm
verstößt daher gegen das Grundrecht auf die Sicherstellung des menschenwür-
digen Existenzminimums des Kindes oder der Kinder.

Udo Geiger, Richter am Sozialgericht Berlin, benennt vier Aspekte der aktuel-
len Regelung, die in der gültigen Fassung als verfassungswidrig einzustufen
sind:

„Der Gesetzgeber überschreitet seinen Gestaltungsspielraum, wenn er auch für
junge Volljährige in der Bedarfsgemeinschaft eine unbeschränkte Einstands-
pflicht des (faktischen) Stiefelternteils unterstellt;

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eine unwiderlegbare Einstandsvermutung verletzt das Existenzminimum des
(faktischen) Stiefkindes, wenn die Unterstützung tatsächlich ausbleibt;

eine unwiderlegbare Einstandsvermutung führt zu einer unverhältnismäßigen
finanziellen Belastung des (faktischen) Stiefelternteils;

die Nichtberücksichtigung von Zahlungen zur Unterstützung eigener, nicht in
der BG lebender Kinder außerhalb der Unterhaltspflicht verletzt das Erzie-
hungsrecht des (faktischen) Stiefelternteils.“ (Udo Geiger: Leitfaden zum
Arbeitslosengeld II. Der Rechtsratgeber zum SGB II, Frankfurt am Main 2010,
S. 79).

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in einer Entscheidung vom 13. November
2008 (B 14 AS 2/08) die Regelung zwar als verfassungskonform eingeschätzt.
Der Gesetzgeber dürfe typisierend unterstellen, dass der neue Partner auch die
Verantwortung für die Kinder mit übernehme. Die Frage, ob auf Seiten des
neuen Partners eine solche Bereitschaft und Fähigkeit besteht, hat das BSG
ebenso wenig als verfassungsrechtlich problematisch angesehen wie die Frage,
ob eine finanzielle Unterstützung tatsächlich stattfindet. Diese Argumentation
ist jedoch nicht überzeugend (vgl. Udo Geiger/Johannes Münder: Die generelle
Einstandspflicht für Partnerkinder in der Bedarfsgemeinschaft nach § 9 Abs. 2
Satz 2 SGB II, in: NZS 2009, 593 ff.; Uwe Berlit: Die besondere Rechtsstellung
der unter 25-Jährigen im SGB II (Teil 1), in: info also 2/2011, S. 59 ff., insbe-
sondere S. 63). Die entscheidende Frage, wie die Existenzsicherung des Kindes
garantiert werden kann, wird durch das Bundessozialgericht nicht befriedigend
beantwortet.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zu den Hartz-IV-
Regelsätzen festgestellt: „Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leis-
tungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht
durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist.“ (BVerfG 1
BvL 1/09 vom 9. Februar 2010, Absatznummer 136). Ein hilfebedürftiges Kind
in einer Patchworkfamilie hat keine einklagbaren Rechte gegenüber der neuen
Partnerin oder dem neuen Partner der leiblichen Mutter oder des leiblichen
Vaters. Insofern stellt die generelle Unterstellung einer Unterstützung einen
verfassungsrechtlich unzulässigen Verweis auf „freiwillige Leistungen“ Dritter
dar.

Aktuell liegt die Verfassungsbeschwerde eines betroffenen Kindes beim Bun-
desverfassungsgericht zur Entscheidung vor (1 BvR 1083/09). Der Gesetzgeber
sollte sich nicht seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Gewährleistung des
Existenzminimums entziehen und auf das Urteil warten. Es liegt in der Hand
des Bundesgesetzgebers, die Sicherungslücken zu schließen und verfassungs-
konforme Regelungen zu schaffen. Dies hat umgehend zu geschehen.

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