BT-Drucksache 17/6822

Entschädigungsverfahren von NS-Opfern gegen die Bundesrepublik Deutschland vor italienischen Gerichten

Vom 18. August 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6822
17. Wahlperiode 18. 08. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Annette Groth, Andrej Hunko,
Harald Koch, Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Katrin Werner
und der Fraktion DIE LINKE.

Entschädigungsverfahren von NS-Opfern gegen die Bundesrepublik Deutschland
vor italienischen Gerichten

Am Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag wird vom 12. September
bis 16. September 2011 die mündliche Verhandlung im Verfahren Deutschland
gegen Italien stattfinden. Mit ihrer Klage will die Bundesregierung Entschädi-
gungsforderungen von NS-Opfern abwehren. Italienische Gerichte hatten in der
Vergangenheit mehrere Urteile gefällt, die die Bundesrepublik Deutschland zu
Entschädigungszahlungen an Personen verpflichtete, die zur Zwangsarbeit ins
Dritte Reich verschleppt worden waren. Auch Überlebende bzw. Hinterblie-
bene von Wehrmachts- und SS-Massakern wurden Entschädigungen zugespro-
chen. Ebenso waren die Bemühungen griechischer Opfer (Distomo-Fall), ihre
Forderungen durch Pfändung deutschen Staatseigentums in Italien durchzuset-
zen, erfolgreich. Diese Zwangsvollstreckungen sind allerdings gegenwärtig
ausgesetzt.

Erst in den letzten Wochen sind in Italien wieder mehrere Urteile im Sinne der
Kläger ergangen. Ein Militärgericht in Verona hat Anfang Juli 2011 mehrere
frühere Wehrmachtsangehörige wegen Mordes verurteilt und dabei ebenfalls
den Opfern einen Entschädigungsanspruch zugebilligt. Nach Angaben des
Rechtsanwalts J. L. gegenüber den Fragestellern hat der Oberste Gerichtshof
(Kassationsgerichtshof) den Widerspruch der Bundesregierung gegen die bis-
herigen Entscheidungen im Distomo-Fall endgültig zurückgewiesen. Zwei sei-
ner Mandanten hätten vor Kurzem von verschiedenen Gerichten Entschädigun-
gen über jeweils 30 000 Euro zugesprochen bekommen, weil sie zur Zwangsar-
beit verschleppt worden waren. Weitere 50 bis 70 Fälle seien in den nächsten
Wochen und Monaten entscheidungsreif. Für 12 000 Mandanten habe er vori-
ges Jahr die Verjährungsfrist unterbrochen.

Die Fragesteller haben wiederholt kritisiert, dass die Bundesrepublik Deutsch-
land zahlreichen Opfern deutscher Nazi-Verbrechen keine Entschädigung ge-
währt. Die Bundesregierung verweist dazu lediglich auf ein Globalabkommen
aus den 60er-Jahren, als an Italien gerade einmal 40 Mio. DM gezahlt worden
waren – angesichts der Tausende Morde, die die deutschen Truppen an Zivilis-

ten begangen haben, ein aus Sicht der Fragesteller geradezu lächerlicher Be-
trag. Zudem war diese Summe nur für solche NS-Opfer bestimmt, die „aus
Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung von nationalsozia-
listischen Verfolgungsmaßnahmen“ betroffen waren. Die hier zur Debatte ste-
henden Verbrechen entsprechen nicht diesem engen Raster, waren aber gleich-
wohl nicht weniger brutal und menschenverachtend.

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Die Bundesregierung lehnt es bisher ab, sich mit den Klägern um eine gütliche
Einigung zu bemühen. Stattdessen ficht sie mit dem Argument der „Staaten-
immunität“, das sie auch auf das faschistische Deutschland angewendet wissen
will, die italienischen Urteile an. Selbst wenn der IGH die Klage abweisen
sollte, sind mit dem Verfahren mehrere Jahre verstrichen, in denen manche der
hochbetagten Kläger verstorben sind. Auf eine solch „biologische Lösung“ zu
setzen, ist aus Sicht der Fragesteller zutiefst unmoralisch. Entscheidet der IGH
im Sinne der Bundesregierung, bedeutet das, dass Zehntausende noch lebende
NS-Opfer niemals eine Entschädigung erhalten.

In dem Verfahren geht es auch um die Frage, ob Staaten für Kriegsverbrechen
zivilrechtlich haftbar gemacht werden können. Dies könnte eine hohe präven-
tive Wirkung entfalten, um von der Entfesselung eines Krieges abzusehen.
Daher hat die in Den Haag verhandelte Frage auch Bedeutung für gegenwärtige
und künftige Kriege. Auf diesen Aspekt verweist auch der Arbeitskreis Dis-
tomo in einer Erklärung vom 4. August 2011, die den Fragestellern vorliegt:
„Wenn selbst schwerste Kriegsverbrechen keine Haftung des Täterstaates zur
Folge haben, ist das ein Freibrief, auch zukünftig Kriegsverbrechen zu bege-
hen. Es darf angenommen werden, dass sich Deutschland mit seiner Klage auch
für Auslandseinsätze der Bundeswehr wie in Afghanistan den Rücken frei hal-
ten will.“

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Entwicklungen hat es seit Einreichung der Klage beim IGH hin-
sichtlich der Entschädigungsforderungen italienischer und griechischer NS-
Opfer in Italien generell gegeben?

2. Wie viele Klagen von NS-Opfern bzw. deren Rechtsnachfolgern mit dem
Ziel, Entschädigungszahlungen von Deutschland zu erlangen, sind von ita-
lienischen Gerichten bereits rechtskräftig im Sinne der Kläger entschieden?

a) Welche Hauptgründe nannten die Kläger dabei für ihre Forderung (bitte
für jeden Fall angeben, um welches konkrete NS-Verbrechen es ging und
wann das rechtskräftige Urteil ergangen ist)?

b) Auf welche Summe belaufen sich die zugesprochenen Entschädigungs-
summen (bitte die Gesamtsumme angeben), und in wie vielen Fällen ist
die Festlegung der Entschädigungssumme noch Gegenstand gesonderter
Verfahren?

c) Welche dieser Urteile hat die Bundesrepublik Deutschland anerkannt,
und inwiefern hat sie tatsächlich eine Entschädigung gezahlt?

3. Wie viele Klagen sind gegenwärtig noch anhängig?

a) Welche Hauptgründe nennen die Kläger dabei (bitte für jeden Fall ange-
ben, um welches konkrete NS-Verbrechen es ging)?

b) Soweit konkrete Entschädigungsforderungen konkret beziffert sind, auf
welche Summe belaufen sich diese Forderungen, und in wie vielen dieser
Verfahren soll das jeweilige Gericht die Entschädigungshöhe festsetzen?

c) In welchen dieser Verfahren ist die Bundesrepublik Deutschland durch
Prozessbevollmächtigte vertreten, und in welchen lehnt sie die Zahlung
einer Entschädigung nicht rundheraus ab?

4. Welche Entwicklungen hat es im Feststellungsverfahren gegeben, das klären
sollte, inwieweit die italienischen Bahnen (Dritt- )Schuldner von (pfänd-
baren) Forderungen der Bundesrepublik Deutschland sind (vgl. Vorbemer-
kung der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/709)?

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5. War die Bundesregierung wenigstens zeitweise in das Verfahren vor dem
Militärgericht Verona, das Anfang Juli 2011 sieben ehemalige Soldaten der
Fallschirm-Panzer-Division „Hermann Göring“ wegen Mordes an insgesamt
mehreren Hundert italienischer Zivilisten im Frühjahr/Sommer 1944 zu le-
benslänglicher Haft verurteilte, involviert, und wenn ja, in welcher Form?

a) Ist der Entschädigungsanspruch der Überlebenden und Hinterbliebenen
bereits beziffert worden, und wenn ja, auf welche Höhe, oder wird dies
Gegenstand weiterer Verfahren sein?

b) Welche Position vertritt die Bundesregierung in diesem Fall, in dem es
unter anderem um die Ermordung von Kindern im Alter von drei, vier
und sieben Jahren geht?

c) Hält sie auch hier an ihrer Position fest, keinesfalls eine Entschädigung
zu gewähren, weil die Ermordung von Kindern durch deutsche Soldaten
als „allgemeines Kriegsschicksal“ zu betrachten sei und keinen Ent-
schädigungsanspruch begründe?

d) Was hat die Bundesregierung unternommen, um das Militärgericht bei
der Aufklärung der Straftaten zu unterstützen?

e) Hat die Bundesregierung vor, die italienischen Behörden bei der Straf-
vollstreckung zu unterstützen, und wenn ja, inwiefern?

f) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über von den italienischen
Behörden in Zusammenhang mit diesem Fall geäußerte Unterstützungs-
ersuchen an deutsche Justizbehörden und wie mit diesen Ersuchen ver-
fahren wurde?

6. Warum beharrt die Bundesregierung darauf, dass auch schwerste Menschen-
rechtsverletzungen deutscher Truppen unter dem Kommando der Nazis vom
Grundsatz der Staatenimmunität geschützt sein sollen, während sie zugleich
tatsächliche oder behauptete Menschenrechtsverletzungen anderer Staaten
bzw. deren Sicherheitskräfte, die weit weniger umfassend als die Massen-
morde im „Dritten Reich“ sind, zum Anlass für Militärinterventionen und
Sanktionen nimmt?

a) Inwiefern hätte eine Zurückweisung der Klage und damit eine Klar-
stellung, dass schwerste Menschenrechtsverbrechen nicht von der Staa-
tenimmunität geschützt sind, möglicherweise Auswirkungen für Afgha-
ninnen und Afghanen, die Entschädigung für unrechtmäßige Bundes-
wehreinsätze fordern?

b) Falls es keine solchen Befürchtungen seitens der Bundesregierung gibt,
womit erklärt sie dann ihre beharrliche Ablehnung, den NS-Opfern in Ita-
lien und Griechenland von den dortigen Gerichten zugesprochene Ent-
schädigungen zu zahlen?

c) Wie beurteilt die Bundesregierung die mögliche präventive Wirkung
einer zivilrechtlichen Haftbarkeit von Staaten für Kriegsverbrechen?

7. Welche Gespräche bzw. Kommunikation hat es seit der Entscheidung des
Obersten Gerichtshofs (Kassationsgerichtshof) im Jahr 2008 mit der italie-
nischen Regierung über die Entschädigungsproblematik gegeben (die Frage-
steller weisen darauf hin, dass sie hiermit nicht nur „gesonderte Kontakte“
meinen, wie sie in der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage
zu Frage 2 auf Bundestagsdrucksache 17/2340 verneint wurden, sondern
jegliche Kontakte, in deren Rahmen die Entschädigungsproblematik bespro-
chen wurde)?

a) Was genau war Inhalt dieser Gespräche bzw. der Kommunikation?
b) Wann haben diese stattgefunden?

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c) Welche Regierungsvertreter (bitte ggf. Referate/Abteilungen/Dienststel-
len angeben) waren daran beteiligt?

d) Welche, auch informellen, Übereinkünfte wurden dabei verabredet bzw.
bestätigt?

8. Auf welche Summe belaufen sich die Kosten, die auf deutscher Seite seit
1995 durch die Verfahren vor italienischen Gerichtshöfen hinsichtlich
Distomo, Zwangsarbeitern und Opfern von Wehrmachts-/SS-Verbrechen
angefallen sind (sollte die Bundesregierung eine differenzierte Antwort un-
ter Hinweis auf die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Dritter ablehnen,
wird um die Angabe einer Gesamtsumme für alle derartigen Verfahren ge-
beten)?

Berlin, den 18. August 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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