BT-Drucksache 17/6742

Bilanz der Bleiberechtsregelungen zum 30. Juni 2011 und politischer Handlungsbedarf

Vom 3. August 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6742
17. Wahlperiode 03. 08. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Wolfgang Neskovic,
Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma und der Fraktion DIE LINKE.

Bilanz der Bleiberechtsregelungen zum 30. Juni 2011 und politischer
Handlungsbedarf

Weder die gesetzliche Altfallregelung nach § 104a bzw. § 104b des Aufenthalts-
gesetzes (AufenthG) noch die Anschlussregelung der Innenministerkonferenz
(IMK) von Ende 2009 konnten das allseits beklagte Problem der massenhaften
Kettenduldungen wirksam beenden. Ende 2010 lebten immer noch über 87 000
lediglich geduldete Personen in Deutschland, über 53 000 von ihnen bereits seit
mehr als sechs Jahren (vgl. Bundestagsdrucksache 17/4631). Hinzu kommen
über 30 000 ausreisepflichtige Menschen, denen nicht einmal eine Duldung,
sondern z. B. lediglich eine „Grenzübertrittsbescheinigung“ erteilt wurde.
Knapp 19 000 von ihnen leben ebenfalls bereits seit über sechs Jahren in
Deutschland, genauso wie über 4 000 Asylsuchende. Mithin gab es Ende 2010
über 75 000 Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus, obwohl sie bereits
langjährig in Deutschland leben. Diese Unsicherheit ist für die Betroffenen un-
erträglich, aber auch gesellschaftlich ist es unverantwortlich, Menschen, die
langjährig in Deutschland leben, systematisch zu desintegrieren und ihnen einen
rechtmäßigen Aufenthaltsstatus und damit verbundene Rechte dauerhaft zu ver-
wehren.

Über 35 000 Menschen erhielten bundesweit ein (vorläufiges) Bleiberecht
infolge der gesetzlichen Altfall- bzw. der IMK-Anschlussregelung. Nur etwa
7 500 von ihnen konnten eine vollständige eigenständige Lebensunter-
haltssicherung nachweisen, die anderen lediglich eine überwiegende oder teil-
weise Lebensunterhaltssicherung oder ernsthafte Bemühungen um einen Job
bzw. galten für sie Sonderregelungen aufgrund von Ausbildung und Schul-
besuch.

Die Zahl der Personen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus wird sich zum Jah-
reswechsel 2011/2012 vermutlich noch einmal deutlich erhöhen, da dann die
im Rahmen der Altfall- bzw. Bleiberechtsregelung – häufig nur „auf Probe“ –
erteilten Aufenthaltserlaubnisse verlängert werden müssen. Insbesondere
wegen der Anforderungen zur nachzuweisenden eigenständigen Lebensunter-
haltssicherung werden Tausende nach Jahren des rechtmäßigen Aufenthalts
ihre Aufenthaltserlaubnis wieder verlieren und in die „Kettenduldung“ zurück-

fallen, obwohl sie häufig längst integriert sind (auch wenn sie zum Teil noch
auf staatliche Hilfsleistungen angewiesen sein sollten) und auch unklar ist, ob
Abschiebungen überhaupt durchgesetzt werden können. Es geht um Menschen,
die zum Stichtag 1. Juli 2007 seit mindestens sechs bzw. acht Jahren (Familien/
Einzelpersonen) in Deutschland leben mussten, d. h. dass sie Anfang 2012 seit
über zehneinhalb bzw. seit über zwölfeinhalb oder mehr Jahren in Deutschland
leben werden! Der Entzug der Aufenthaltserlaubnis oder gar die Aufenthalts-

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beendigung in diesen Fällen ist nach Auffassung der Fragestellerinnen und Fra-
gesteller völlig unzumutbar und auch ein Verstoß gegen den Verhältnismäßig-
keitsgrundsatz.

Gesetzliche Maßnahmen bis zum Ende des Jahres sind deshalb dringend erfor-
derlich. Die seit dem 1. Juli 2011 geltende Regelung nach § 25a AufenthG „bei
gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden“ stellt nur für eine ab-
gegrenzte Teilgruppe eine Lösung dar, nämlich für diejenigen, deren Verbleib
aus Sicht der Regierung im nationalen Eigeninteresse als nützlich erachtet wird:
erfolgreich ausgebildete junge Menschen. Zwar beinhaltet § 25a AufenthG erst-
mals – wie von Verbänden, Kirchen und der Opposition seit Jahren gefordert –
eine rollierende und keine einmalige Stichtagsregelung. Die Bedingungen im
Übrigen sind jedoch zu restriktiv, insbesondere hinsichtlich der von den Eltern
der begünstigten Jugendlichen geforderten vollständigen Lebensunterhalts-
sicherung zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts. Der Bundesrat
hatte noch eine „überwiegende“ Lebensunterhaltssicherung für ausreichend er-
achtet, die Koalition (CDU, CSU und FDP) nahm hier jedoch eine Verschärfung
vor. Die Regelung nimmt damit sehenden Auges in Kauf, Eltern von ihren
Kindern nach einem langjährigen gemeinsamen Aufenthalt in Deutschland zu
trennen.

Soweit noch nicht alle Bundesländer die angefragten Informationen übermittelt
haben sollten, erklären sich die Fragestellerinnen und Fragesteller zur mög-
lichst vollständigen Beantwortung der Anfrage für diesen Fall vorsorglich mit
einer Fristverlängerung einverstanden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Personen haben bis zum 30. Juni 2011 nach Angaben der Bundes-
länder eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis auf Probe im Rahmen
des IMK-Beschlusses vom 4. Dezember 2009 bzw. nach der „Altfallrege-
lung“ des § 104a AufenthG beantragt (bitte nach Bundesländern differenzie-
ren)?

2. Wie viele dieser Anträge waren nach Angaben der Bundesländer zum Stand
30. Juni 2011 noch nicht entschieden, wie viele hatten sich erledigt, und wie
viele waren zu diesem Datum abgelehnt (bitte nach Bundesländern differen-
zieren), und welche genaueren Erkenntnisse gibt es zu den Gründen der Ab-
lehnung in welchem Umfang)?

3. Wie viele Personen hatten nach Angaben der Bundesländer zum 30. Juni
2011

a) eine Aufenthaltserlaubnis infolge des IMK-Beschlusses von Ende 2009
nach § 23 Absatz 1 AufenthG wegen nachgewiesener oder glaubhaft ge-
machter Halbtagsbeschäftigung,

b) eine Aufenthaltserlaubnis infolge des IMK-Beschlusses von Ende 2009
nach § 23 Absatz 1 AufenthG wegen (voraussichtlich) erfolgreicher
Schul- oder Berufsausbildung,

c) eine Aufenthaltserlaubnis infolge des IMK-Beschlusses von Ende 2009
„auf Probe“ nach § 23 Absatz 1 AufenthG wegen nachgewiesener Bemü-
hungen um eine eigenständige Lebensunterhaltssicherung,

d) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Absatz 5 AufenthG aufgrund
überwiegender eigenständiger Lebensunterhaltssicherung,

e) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Absatz 6 AufenthG im Rahmen
einer Härtefallregelung für Auszubildende, Familien bzw. Alleinerzie-

hende mit Kindern u. a. (bitte – soweit möglich – differenzieren),

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6742

f) eine Aufenthaltserlaubnis aus sonstigem Grunde/auf sonstiger Rechts-
grundlage

erhalten (bitte jeweils nach Bundesländern differenzieren, bezüglich Nord-
rhein-Westfalens bitte differenzierte Angaben entsprechend der dortigen
Ausführungsregelung machen)?

4. Wie viele in Deutschland lebende Personen verfügten nach Angaben des
Ausländerzentralregisters (AZR) zum Stand 30. Juni 2011 über eine Aufent-
haltserlaubnis nach § 104a oder § 104b AufenthG, z. T. i. V. m. § 23 Absatz 1
AufenthG (bitte – auch im Folgenden – nach Bundesländern differenzieren)?

a) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 1
i. V. m. § 104a AufenthG erhalten, weil der Lebensunterhalt vollständig
durch Erwerbstätigkeit gesichert war?

b) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 1
AufenthG „auf Probe“ erhalten, und wie bewertet die Bundesregierung
diese Daten, die entsprechend ihrer Antwort auf Bundestagsdrucksache
17/1539 zu Frage 7 eigentlich die nach § 104a Absatz 5 bzw. 6 AufenthG
erteilten Aufenthaltserlaubnisse wiederspiegeln müssten, was aber unrea-
listisch erscheint?

c) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 1
i. V. m. § 104a Absatz 2 Satz 1 AufenthG als bei der Einreise noch min-
derjährige Kinder, inzwischen aber Volljährige erhalten?

d) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 1
i. V. m. § 104a Absatz 2 Satz 2 AufenthG als unbegleitete Minderjährige
erhalten?

e) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104b i. V. m.
§ 23 Absatz 1 AufenthG als Minderjährige unter der Bedingung der Zu-
sage einer Ausreise der Eltern erhalten?

5. Wie viele Menschen befanden sich nach Angaben des AZR zum Stichtag
30. Juni 2011 in Deutschland, deren Aufenthalt lediglich geduldet oder ge-
stattet wurde (bitte differenzieren), und wie viele von ihnen lebten länger als
sechs Jahre in Deutschland (bitte nach Bundesländern differenzieren und je-
weils die Zahl bzw. den Anteil der länger als sechs Jahre hier Lebenden an
der Gesamtzahl in Prozent angeben)?

6. Welche genaueren Angaben lassen sich zum Alter der Geduldeten bzw. der
Geduldeten mit über sechsjährigem Aufenthalt in Deutschland (bitte differen-
zieren) zum Stand 30. Juni 2011 machen (bitte mindestens die Altersgrenzen
sechs, zwölf, 16, 18, 21, 26, 30, 40, 50, 60 und 65 Jahre berücksichtigen), und
über welche Staatsangehörigkeiten verfügten diese Personen (bitte nach Bun-
desländern und den zehn wichtigsten Staatsangehörigkeiten differenzieren)?

7. Wie viele ausreisepflichtige Personen befanden sich nach Angaben des AZR
zum Stichtag 30. Juni 2011 ohne Duldung in Deutschland, und wie viele von
ihnen lebten länger als sechs Jahre in Deutschland (bitte nach Bundeslän-
dern differenzieren und jeweils die Zahl bzw. den Anteil der länger als sechs
Jahre hier Lebenden an der Gesamtzahl in Prozent angeben)?

8. Welche genaueren Angaben lassen sich zum Alter dieser ausreisepflichtigen
Personen ohne Duldung bzw. dieser Personen mit über sechsjährigem Auf-
enthalt in Deutschland (bitte differenzieren) zum Stand 30. Juni 2011 machen
(bitte mindestens die Altersgrenzen sechs, zwölf, 16, 18, 21, 26, 30, 40, 50,
60 und 65 Jahre berücksichtigen), und über welche Staatsangehörigkeiten
verfügten diese Personen (bitte nach Bundesländern und den zehn wichtigs-
ten Staatsangehörigkeiten differenzieren)?

Drucksache 17/6742 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
9. Wie bewertet und erklärt sich die Bundesregierung die hohe Zahl von etwa
30 000 ausreisepflichtigen Personen ohne Duldung, überwiegend mit lang-
jährigem Aufenthalt, nachdem die diesbezüglichen Angaben im AZR
infolge der Anfragen der Fragestellerin bereinigt wurden, insbesondere vor
dem Hintergrund, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs-
gerichts eine Duldung erteilt werden muss, wenn die Ausreisepflicht nicht
ohne Verzögerung durchgesetzt werden kann, wovon angesichts von etwa
7 500 Abschiebungen im Gesamtjahr 2010 bei 30 000 Personen zu einem
konkreten Stichtag nicht ausgegangen werden kann (vgl. bereits Frage 11 auf
Bundestagsdrucksache 17/2269), und welchen Handlungs- oder Gesetzes-
änderungsbedarf sieht sie entsprechend?

10. Wie viele Personen lebten nach Angaben des AZR zum 30. Juni 2011 mit
einer Aufenthaltserlaubnis nach Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 AufenthG in
Deutschland (bitte nach Bundesländern und den zehn wichtigsten Staats-
angehörigkeiten differenzieren)?

11. Wie viele Personen haben nach Angaben des AZR zum 31. Juli 2011 (bei
späterer Beantwortung zu einem späteren Datum) eine Aufenthaltserlaubnis
nach § 25a Absatz 1, 2 Satz 1, Absatz 2 Satz 2 bzw. nach § 60a Absatz 2b
AufenthG (bitte differenziert angeben) erhalten (bitte nach Bundesländern
und den zehn wichtigsten Staatsangehörigkeiten differenzieren)?

12. Mit wie vielen Personen rechnet die Bundesregierung, die zum Jahres-
wechsel 2011/2012 ihre Aufenthaltserlaubnis auf Probe bzw. ihre Aufent-
haltserlaubnis im Rahmen der Altfall- bzw. IMK-Anschlussregelung wie-
der verlieren werden, und inwieweit sieht sie einen entsprechenden Hand-
lungsbedarf (bitte begründen)?

Berlin, den 3. August 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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