BT-Drucksache 17/659

Weg mit Hartz IV - Für gute Arbeit und eine sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsicherung

Vom 10. Februar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/659
17. Wahlperiode 10. 02. 2010

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun
Dittrich, Diana Golze, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Ingrid Remmers, Jörn
Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Wegmit Hartz IV – Für gute Arbeit und eine sanktionsfreie, bedarfsdeckende
Mindestsicherung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Regelleistungen bei
Hartz IV ist endgültig klar: Hartz IV ist ein Angriff auf den Sozialstaat und Ar-
mut per Gesetz. Die Regelleistungen für Erwachsene und Kinder bei Hartz IV
sind verfassungswidrig und nicht existenzsichernd. Damit ist neben der Organi-
sation auch der wesentliche Inhalt des Gesetzes für verfassungswidrig erklärt
worden. Hartz IV ist endgültig gescheitert und muss grundlegend überwunden
werden.

Die Einführung von Hartz IV war eine historische Fehlentscheidung. Ihr lag die
Philosophie zugrunde, nicht das Fehlen von Millionen Arbeitsplätzen sei das
Problem, sondern die mangelnde Motivation auf Seiten der Erwerbslosen und
die unzureichenden Betreuungsstrukturen auf Seiten der Arbeitsbehörden. Un-
ter dem Motto „Fördern und Fordern“ wurden die Opfer des Arbeitsmarktes zu
Schuldigen umgedeutet. Statt mehr Arbeitsplätze zu schaffen, wurde der Druck
auf Erwerbslose erhöht.

Die vorgeblichen Ziele der Reform,

● eine ausreichende materielle Sicherung bei Erwerbslosigkeit sowie

● eine schnelle und passgenaue Vermittlung der Betroffenen in Erwerbsarbeit,

● eine effiziente und bürgerfreundliche Verwaltung,

wurden allesamt nicht erreicht. Fünf Jahre nach der Einführung von Hartz IV
ist offensichtlich: Die Reform ist grundlegend gescheitert.

Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die „Aussteuerung“ der Erwerbslosen
in das neue repressive Fürsorgesystem des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB II) mit unzureichendem Leistungsniveau bedeutet Armut und Ausgren-
zung per Gesetz. Die Regelsätze sind viel zu niedrig. Weder eine gesunde
Ernährung noch eine Teilhabe an der Gesellschaft sind damit möglich. Die Ab-
schaffung der Arbeitslosenhilfe und die Verkürzung der Bezugsdauer des
Arbeitslosengelds haben dazu geführt, dass immer mehr Erwerbslose nur noch
Fürsorgeleistungen beziehen. Ihr Anteil liegt heute bei 70 Prozent. Hartz IV
steht damit exemplarisch für den Weg in einen Bedürftigkeitsstaat.

Das Hartz-IV-Regelwerk verstößt mit seinem Sanktionsregime, der Entrech-
tung der Betroffenen, den schikanösen Kontrollen durch sogenannte Sozial-

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detektive und Zwangsumzüge gegen den Verfassungsauftrag an die Politik, die
Würde des Menschen zu schützen (Artikel 1 des Grundgesetzes). Die zu gerin-
gen Leistungen begünstigen Fehl- und Unterernährung, insbesondere bei Kin-
dern und Jugendlichen, gefährden die Gesundheit der Betroffenen und benach-
teiligen sie bei der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Teilhabe. Von
der in Aussicht gestellten besseren arbeitsmarktpolitischen Förderung und Ver-
mittlung in existenzsichernde Arbeit ist nichts zu spüren. Pflichtarbeiten wie
Ein-Euro-Jobs dominieren die Arbeitsmarktpolitik.

Hartz IV hat die Furcht vor Armut und sozialem Ausschluss bis weit in die
Mitte der Gesellschaft hineingetragen. Die Drohung mit dem sozialen Absturz
wirkt disziplinierend auf die Beschäftigten, schwächt die Durchsetzungsfähig-
keit der Gewerkschaften, begünstigt Untertanenmentalität und unterhöhlt so die
gesellschaftlichen Voraussetzungen der Demokratie. Hartz IV stärkt die Arbeit-
geber im gesellschaftlichen Verteilungskampf, befördert die Ausweitung des
Niedriglohnsektors und die zunehmende soziale Polarisierung bei Einkommen
und Vermögen.

Statt diese Fehlentwicklungen grundlegend zu korrigieren und Hartz IV einer
Generalrevision zu unterziehen, setzt die neue Bundesregierung aus CDU, CSU
und FDP auf die noch stärkere Drangsalierung von Erwerbslosen durch erneut
verschärfte Sanktionen und die weitere Ausdehnung des ohnehin schon riesi-
gen Niedriglohnsektors.

Um die Würde des Menschen im Grundsicherungsbezug endlich herzustellen
und die Erpressbarkeit von Erwerbslosen und Beschäftigten zu beenden, muss
Hartz IV jedoch überwunden und durch eine repressionsfreie und bedarfsde-
ckende Mindestsicherung ersetzt werden. Diese Maßnahme muss begleitet wer-
den durch eine umfassende Strategie der Schaffung von guter Arbeit für alle
Menschen, die eine Erwerbsarbeit suchen, sowie der gesellschaftlichen Umver-
teilung. Um Armut zu vermeiden und soziale Teilhabe zu ermöglichen, sind an-
ständige Löhne und leistungsfähige Sozialversicherungssysteme wesentlich.
Insbesondere kommt hier einem armutsfesten gesetzlichen Mindestlohn und
der Weiterentwicklung der Sozialversicherungssysteme zu sozialen Bürger-
bzw. Erwerbstätigenversicherungen eine wichtige Bedeutung zu.

Das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung ist der geeignete
Zeitpunkt, einen grundlegenden Kurswechsel zur Überwindung von Hartz IV
einzuleiten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,

innerhalb der Legislaturperiode gesetzliche Änderungen vorzubereiten und
vorzulegen, die sich von folgenden Grundsätzen leiten lassen:

1. Mit einer umfassenden politischen Strategie ist Erwerbslosigkeit, Dumping-
und Niedriglöhnen und der Ausweitung von prekärer Beschäftigung ent-
gegenzutreten und stattdessen existenzsichernde und sozial abgesicherte gute
Arbeit zu fördern. Durch ein öffentliches Zukunftsprogramm können zwei
Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden (Bundestagsdruck-
sache 17/470). Zusätzlich sind in einem ersten Schritt in der Arbeitsmarkt-
politik folgende Maßnahmen umzusetzen:

● Es wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 10 Euro ein-
geführt; höhere tarifliche Mindestlöhne werden in den betreffenden Bran-
chen für allgemeinverbindlich erklärt.

● Der Schutz durch die Arbeitslosenversicherung wird nachhaltig verbes-
sert; insbesondere werden das Kurzarbeitergeld und der Anspruch auf
Arbeitslosengeld verlängert.

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● Die Vermittlung in Erwerbsarbeit ist Aufgabe der öffentlichen Arbeitsver-
waltung, die durch fachlich gut qualifiziertes und festangestelltes Personal
erfolgt. Eine Vermittlung erfolgt nur in Beschäftigung, die den Standards
guter Arbeit genügt.

● Für alle Erwerbslosen ist der Zugang zu arbeitsmarktpolitischen Integra-
tionsleistungen herzustellen, deren Teilnahme auf Freiwilligkeit beruht.
Qualifikations- und Weiterbildungsmaßnahmen sind als Instrumente wie-
der stärker zu nutzen. Ein-Euro-Jobs werden abgeschafft und in sozial-
versicherungspflichtige, tariflich bezahlte Arbeitsverhältnisse in einem
öffentlich geförderten Beschäftigungssektor umgewandelt.

2. Mit einer bedarfsdeckenden und sanktionsfreien Mindestsicherung müssen
die Verarmung und Entwürdigung von allen Erwerbslosen und Menschen mit
geringem Einkommen, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, beendet
werden. Nachfolgende Leistungen müssen als maßgebliche Schritte zu einer
bedarfsdeckenden und sanktionsfreien Mindestsicherung gewährleistet wer-
den:

● Einen Rechtsanspruch auf die Mindestsicherung haben alle Menschen, die
über kein ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügen, um ihren
soziokulturellen Mindestbedarf zu decken, und die rechtmäßig in der Bun-
desrepublik Deutschland leben, einschließlich der Asylsuchenden und
Flüchtlinge. Diskriminierende Sondersysteme wie das Asylbewerberleis-
tungsgesetz sind abzuschaffen.

● Die Regelleistung für Erwachsene im Mindestsicherungsbezug ist auf
500 Euro pro Monat festzulegen. Die Regelleistung ist jährlich zumindest
in dem Maße anzuheben, wie die Lebenshaltungskosten steigen.

● Die Regelleistungen für Kinder und Jugendliche sind bedarfsorientiert und
altersspezifisch zu ermitteln.

● Anzustreben ist die Einführung einer bedarfsdeckenden Kindermindest-
sicherung, bei der das Einkommen berücksichtigt wird. Erste Schritte
dahin bestehen im Ausbau von Vorrangleistungen zur Sicherung des Kin-
desbedarfs, wie dem Kindergeld, dem Kinderzuschlag und dem Wohngeld.

● Die Beiträge zu den Sozialversicherungssystemen für Leistungsbezie-
hende der Mindestsicherung sind deutlich anzuheben. Der Beitrag zur ge-
setzlichen Rentenversicherung muss spürbar angehoben werden, damit
mit dem Bezug der Mindestsicherung nicht bereits Altersarmut vorpro-
grammiert ist. Die Beiträge zu den gesetzlichen Krankenkassen müssen für
das Gesundheitssystem kostendeckend sein.

● Nachweisbare Sonderbedarfe werden zusätzlich übernommen. Die bishe-
rigen Anteilssätze für Mehrbedarfszuschläge gelten bis auf Weiteres fort.

● Die allgemeinen Vermögensfreigrenzen sind auf 20 000 Euro pro Person
anzuheben.

● Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten sind grundsätz-
lich anrechnungsfrei.

● Das Rückgriffsrecht des Staates gegenüber den Erben der Mindestsiche-
rungsbezieherinnen und -bezieher ist abzuschaffen.

● Die Mindestsicherung ist repressions- und sanktionsfrei auszugestalten.
Die Sicherstellung der Mindestsicherung ist grundrechtlich geschützt.
Dem Charakter als Mindestsicherung entspricht, dass eine Unterschrei-
tung des Leistungsniveaus grundsätzlich auszuschließen ist. Daher sind
Sanktionen in der Mindestsicherung abzuschaffen. Die Sanktionsparagra-
fen im SGB II sind sofort ersatzlos zu streichen.

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3. Das Grundrecht auf angemessenes Wohnen ist durch die Mindestsicherung zu
wahren. Es sind bundesweit einheitliche Methoden und Verfahren für die Be-
messung der Leistungen für Wohnung und deren Betriebskosten zu vereinba-
ren mit dem Ziel, Zwangsumzüge und Ungleichbehandlungen zu verhindern.
Es sind Mindeststandards festzulegen. Segregationsprozessen in den Städten
ist auf diese Weise entgegenzuwirken.

● Angemessene Wohnkosten sind in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen
zu ersetzen (Maßstab Wohnfläche: Kriterien sozialer Wohnungsbau; Maß-
stab Mietkosten: Mittelwert der ortsüblichen Vergleichsmiete, Brutto-
warmmiete).

● Ein Umzug ist unzumutbar, wenn er eine soziale Härte darstellt oder die
zuständige Stelle keine angemessene Ersatzwohnung nachweisen kann.
Grundsätzlich gilt eine Übergangsfrist von einem Jahr, damit die Hilfe-
berechtigten im ersten Jahr des Leistungsbezugs ihre Bemühungen voll-
ständig auf die Überwindung der Hilfebedürftigkeit konzentrieren können.

● Die Entstehung von Wohnungslosigkeit ist grundsätzlich zu verhindern.

4. Die rechtliche Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft ist zu überwinden, um
die ökonomische Abhängigkeit und Entwürdigung von Erwerbslosen und
Menschen mit geringem Einkommen sowie deren Familienmitgliedern zu
beenden.

● Die Mindestsicherung orientiert sich am Individualprinzip, d. h. jeder be-
dürftige Mensch hat einen eigenen Anspruch unter Berücksichtigung der
Unterhaltsverpflichtung nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Die
unterhaltsrechtlichen Bestimmungen des BGB dürfen nicht über das So-
zialrecht erweitert werden.

● Die Sonderregeln für die Gruppe der jungen Erwachsenen bis 25 Jahre
(insbesondere Vorbehalt der Auszugsgenehmigung, reduzierte Regelleis-
tung) sind abzuschaffen; der Status als erwachsene Person mit eigenständi-
gen sozialen Rechten ist ab der Volljährigkeit anzuerkennen.

5. Die mit der Einführung von Hartz IV betriebene Entrechtung der Erwerbs-
losen ist zu stoppen und rückgängig zu machen.

● Widersprüche der Leistungsbeziehenden gegen belastende Verwaltungs-
akte der Sozialbehörden müssen stets aufschiebende Wirkung haben. Ins-
gesamt sind die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen rechtswidriges Behör-
denhandeln zu sichern und zu verbessern. Zudem ist ein transparentes Ver-
waltungsverfahren zu gewährleisten. Die Prozessführung muss kostenfrei
bleiben.

● Die entwürdigende Praxis von Hausbesuchen mit ihrer expliziten Miss-
brauchsunterstellung ist einzustellen; die Vorgabe, dass die Träger der
Mindestsicherung einen Außendienst mit dieser Funktion einzurichten ha-
ben, ist abzuschaffen.

● Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist zu beachten.

Berlin, den 10. Februar 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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Begründung

1. Hartz IV war eine historische Fehlentscheidung. Die zur Rechtfertigung der
Reform angeführten Ziele sind allesamt verfehlt worden.

Von einer ausreichenden materiellen Sicherung bei Erwerbslosigkeit kann
keine Rede sein. Unverändert ist zutreffend: Hartz IV ist Armut und Ausgren-
zung per Gesetz. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe hat die Armut unter
den Erwerbslosen spürbar erhöht (u. a. DIW-Wochenberichte 50/2007,
38/2008, S. 565; Becker/Hauser: Verteilungseffekte der Hartz-IV-Reform.
Baden-Baden 2006). Etwa 200 000 vormals leistungsberechtigte Personen
– insbesondere Frauen mit einem erwerbstätigen Partner – haben jeglichen
Anspruch auf Unterstützung verloren, obwohl sie weiterhin erwerbslos waren
(Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung – IAB-Discussion paper,
24/2007). Die drastische Verschärfung der Sanktionsbestimmungen (§ 31
SGB II) führt zu einer Vielzahl von Kürzungen bis hin zu komplettem Leis-
tungsausschluss – insbesondere bei jungen Erwachsenen bis 25 Jahre (Bun-
destagsdrucksache 16/13577). Die Leistungssätze für Kinder und Jugendliche
im SGB II orientieren sich nicht an deren spezifischen Bedarfen und erhöhen
damit die dauerhafte Gefahr von sozialer Ausgrenzung (Hessisches Landes-
sozialgericht L 6 AS 336/07 vom 29. Oktober 2008). Die marginalen Beiträge
zur Rentenversicherung führen dazu, dass pro Jahr Hartz-IV-Bezug lediglich
etwas mehr als 2 Euro Rentenanspruch entsteht. Altersarmut unter den
Hartz-IV-Beziehenden ist damit vorprogrammiert (vgl. Bundesministerium
für Arbeit und Soziales: Nationaler Strategiebericht. Sozialschutz und soziale
Eingliederung 2008 – 2010, S. 72).

Eine schnelle und passgenaue Vermittlung in Erwerbsarbeit ist nicht erreicht
worden. Daten des IAB sprechen hier eine deutliche Sprache: Fast die Hälfte
der Leistungsberechtigten war seit 2005 drei Jahre lang ununterbrochen auf
Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Drei Viertel der Betroffenen beziehen das
Arbeitslosengeld II mindestens zwölf Monate durchgängig (IAB-Kurzbe-
richt, 5/2009). Bei denjenigen, die aus dem Bezug ausscheiden, findet nicht
einmal die Hälfte einen neuen Job (IAB-Kurzbericht, 28/2009). Vermittlung
findet – wenn überhaupt – in den Niedriglohnsektor statt.

Von einer effizienten und bürgerfreundlichen Verwaltung zu sprechen, verbie-
tet sich angesichts der skizzierten Ergebnisse. Nicht einmal der Aufbau einer
zumindest verfassungsgemäßen Verwaltung zur Umsetzung des SGB II ist
gelungen. Das Bundesverfassungsgericht hat am 20. Dezember 2007 ent-
schieden, dass die sogenannten ARGEn eine verfassungsrechtlich unzuläs-
sige Verwaltungsorganisation darstellen.

2. Die vorgeblichen Ziele der Einführung von Hartz IV verschleiern die eigent-
liche Funktion von Hartz IV: die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die
Disziplinierung der Beschäftigten. Die Funktion der Arbeitsmarktreformen
war unter den Überschriften „Fördern und Fordern“ und „Stärkung der Eigen-
verantwortung“ die massive Einschränkung der sozialen Absicherung, um die
Aufnahme jeglicher Beschäftigung zu erzwingen. In dieser Hinsicht war die
Reform leider erfolgreich.

Die Verantwortung für die Erwerbslosigkeit wurde weitgehend aus dem Ver-
sicherungssystem in das Fürsorgesystem SGB II übertragen. Nur noch etwa
ein Drittel der Erwerblosen ist durch das Versicherungssystem abgesichert.
Damit einher geht ein spürbarer Rückgang der Pro-Kopf-Ausgaben für
Erwerbslosigkeit (IAB-Kurzbericht, 14/2008). Die Arbeitskosten haben sich
für die Arbeitgeber verbilligt; Leiharbeit wurde dereguliert und ausgeweitet
und Stammbelegschaften wurden diszipliniert.

Erwerbslose im SGB-II-Bezug werden über drastisch verschärfte Zumutbar-
keitskriterien und Sanktionen („Fördern und Fordern“) dazu gezwungen,

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nahezu jeden Job anzunehmen. Die „Konzessionsbereitschaft“ der Betroffe-
nen in Bezug auf die Löhne und Arbeitsbedingungen steigt (IAB-Kurzbericht,
19/2009). Der eigentliche Zweck der Gesetzes – Ausweitung des Niedrig-
lohnsektors – wird somit erreicht (etwa: IAQ Report 2009-05). Fast jede und
jeder vierte Beschäftigte in Deutschland müssen heute zu einem Niedriglohn
arbeiten. Das sind ca. 6,5 Millionen Menschen. Sie sind arm trotz Arbeit.
Etwa 1,3 Millionen Menschen sind mittlerweile trotz Arbeit auf Hartz-IV-
Leistungen angewiesen – im September 2005 waren es noch 900 000.

3. Die politisch verantwortlichen Instanzen müssen der sozialen Polarisierung,
der zunehmenden Verarmung und Ausgrenzung in der Gesellschaft sowie der
Entrechtung und Drangsalierung der betroffenen Menschen entschlossen ent-
gegentreten. Hartz IV hat mit der fundamental falschen Ausrichtung den
Sozialstaat beschädigt und damit die Voraussetzungen für gesellschaftlichen
Zusammenhalt und für eine funktionierende Demokratie unterminiert. Die
Überwindung des repressiven Hartz-IV-Systems steht deshalb im Zentrum
eines notwendigen grundlegenden Politikwechsels. Mit dem skizzierten Pro-
gramm zur Überwindung von Hartz IV und zur Einführung einer bedarfs-
deckenden Mindestsicherung sind folgende Ziele zu erreichen:

● Schaffung von mehr Beschäftigung und guter Arbeit;

● Stärkung der Arbeitslosenversicherung und Ausbau eines öffentlich geför-
derten Beschäftigungssektors;

● soziale Integration und Teilhabe auf der Grundlage sozialer Rechte;

● Beendigung der Instrumentalisierung der Existenzsicherung als Mittel zur
Ausweitung prekärer Beschäftigung, insbesondere durch die Abschaffung
der jetzigen Zumutbarkeitsregelungen und des Sanktionsapparats;

● bedarfsdeckende Leistungen für soziale Teilhabe und Sicherung;

● Gewährleistung des Grundrechts auf angemessenes Wohnen;

● Überwindung der Bedarfsgemeinschaftskonstruktion bei Beibehaltung der
gesetzlichen Unterhaltsverpflichtungen;

● Stärkung der Rechtspositionen der Leistungsberechtigten.

Damit wird dem Sozialstaatsgebot wieder Geltung verschafft, Langzeiterwerbs-
losen ein Leben in Würde ermöglicht und die Lage der Beschäftigten verbes-
sert. Der soziale Zusammenhalt und die Demokratie werden dadurch gestärkt
und die sozial gerechte Ausgestaltung unserer Gesellschaft befördert.

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