BT-Drucksache 17/6488

Befristung von Arbeitsverträgen in der Wissenschaft eindämmen - Gute Arbeit in Hochschulen und Instituten fördern

Vom 6. Juli 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6488
17. Wahlperiode 06. 07. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Diana Golze, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald,
Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Katja Kipping,
Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Jörn Wunderlich und der
Fraktion DIE LINKE.

Befristung von Arbeitsverträgen in der Wissenschaft eindämmen – Gute Arbeit in
Hochschulen und Instituten fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In der deutschen Wissenschaft hat sich die befristete Beschäftigung im An-
gestelltenbereich weitgehend durchgesetzt. 2009 waren 83 Prozent der ange-
stellten hauptberuflichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Hoch-
schulen in befristeten Verträgen beschäftigt. Seit der Verabschiedung des Wissen-
schaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) haben sich die Bedingungen an den
Hochschulen und Forschungseinrichtungen noch einmal verschärft. Insbeson-
dere die Laufzeiten der Verträge wurden seit 2007 zusätzlich verkürzt. Mehr als
die Hälfte der befristeten Arbeitsverträge von Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern läuft weniger als ein Jahr, ein weiteres Drittel kürzer als zwei
Jahre.

Die Durchschnittsvertragsdauer beträgt an Hochschulen lediglich 12,3 Monate.
Diese kurzen Vertragslaufzeiten stehen in keinem sächlichen Zusammenhang
mit der Dauer von Qualifikationsphasen oder Drittmittelprojekten. Die Befris-
tungspraxis in der deutschen Wissenschaft hat sich damit von den ursprüng-
lichen Notwendigkeiten für Zeitverträge in der Nachwuchsentwicklung entkop-
pelt.

Eine Ursache ist in den unsicheren Finanzierungsbedingungen in der Wissen-
schaft zu suchen. An Hochschulen und Forschungseinrichtungen setzt sich mit
zunehmender Haushaltsautonomie ein Trend durch, auf Kosten der beruflichen
Perspektiven von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Personalhaushalte
zu flexibilisieren. Dieser Prozess wird an den außeruniversitären Einrichtungen
mit den Regelungen der Wissenschaftsfreiheitsinitiative noch verstärkt, die den
Wettbewerb zwischen den einzelnen Einrichtungen und Struktureinheiten ver-
schärft. Auf Grund dieser kurzfristigen Wettbewerbsorientierung wird in den
Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen weitgehend auf eine kontinuier-

liche Personalentwicklung verzichtet.

Im Ergebnis verliert das Berufsfeld Wissenschaft an Attraktivität. Nur 27 Prozent
der befristet Beschäftigten an Hochschulen und 33 Prozent an außeruniversitären
Forschungseinrichtungen zeigen sich in Befragungen zufrieden mit Arbeitsplatz-
sicherheit. Noch negativer bewerten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
ler die Planbarkeit ihrer Berufswege. Nur 12 Prozent an Hochschulen und 20 Pro-

Drucksache 17/6488 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

zent an außeruniversitären Einrichtungen schätzen ihre Perspektiven als
verlässlich ein. Auch die Aufstiegsmöglichkeiten und die Familienfreundlichkeit
werden schlecht bewertet.

Etwa 80 Prozent der angestellten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter haben keine Kinder, knapp genau so viele geben jedoch einen Kinder-
wunsch an. Die familienpolitische Komponente des WissZeitVG läuft weitge-
hend ins Leere. Auf dieser Grundlage laufen lediglich 0,4 Prozent der Verträge
an Hochschulen bzw. 1,6 Prozent der Verträge an außeruniversitären Instituten.

Als Ausweg aus dieser prekären Situation sehen viele Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler die Industrie, die kein Sonderbefristungsrecht in Forschung und
Entwicklung kennt. Auch der Weg ins Ausland wird mit den dortigen besseren
Arbeitsbedingungen und Berufsperspektiven begründet.

Das WissZeitVG ist der derzeitige Endpunkt eines Prozesses zur Prekarisierung
der Beschäftigungsverhältnisse in der deutschen Wissenschaftslandschaft. Es
baut auf vorangegangene Schritte auf, so etwa die Einführung der sachgrundlo-
sen Befristung im Rahmen der 5. Novelle des Hochschulrahmengesetzes (HRG)
von 2002. Mittels einer Ausschlussklausel hat der Gesetzgeber abweichende
Vereinbarungen der Tarifpartner für unzulässig erklärt.

Die Evaluierung zeigt, dass das Gesetz die Ausweitung prekärer Beschäftigung
in Hochschulen und Forschungseinrichtungen unterstützt hat. Zur Attraktivität
und Leistungsfähigkeit der Wissenschaftslandschaft hat es nicht beigetragen und
sollte daher schnell grundlegend überarbeitet werden. Langfristig sollte das Be-
fristungsrecht in ein bundesweit geltendes Personalrecht in der Wissenschaft
eingegliedert werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus der Evaluierung zeitnah einen Ge-
setzentwurf für die Überarbeitung des WissZeitVG vorzulegen. Dabei sind fol-
gende Änderungen vorzunehmen:

● Die Klausel zum Ausschluss abweichender vertraglicher Regelungen („Tarif-
sperre“) ist zu streichen. Das Gesetz sollte Mindeststandards für gute Arbeit
in der Wissenschaft definieren, über die die Tarifpartner hinausgehen können.

● Die Mindestvertragslaufzeit für wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter soll zwölf Monate betragen.

● Vertragslaufzeiten sind an die Dauer der Qualifizierungsphase bzw. bei Be-
fristung auf Grund von Drittmittelfinanzierung an die Förderdauer der Pro-
jekte zu binden. Darüber hinaus ist eine einmonatige Beschäftigungszeit zur
Neuorientierung bzw. zum Abschluss des Forschungsprojektes zu gewähr-
leisten.

● Die Befristung auf Grund von Drittmittelfinanzierung ist prinzipiell erst nach
Ablauf der Befristungshöchstdauer von zwölf Jahren anzuwenden und gilt
ausschließlich für wissenschaftliches Personal.

● Der Anspruch auf Verlängerung der Befristungshöchstdauer über zwölf Jahre
hinaus bei der Betreuung von Kindern soll rechtsverbindlich ausgestaltet
werden und die Voraussetzungen für einen Verlängerungsanspruch müssen
präzise und eindeutig beschrieben werden.

● Der Begriff Drittmittel ist klar zu fassen und auf Geldgeber jenseits des
Hochschulträgers bzw. der Träger der Forschungsinstitute zu beschränken.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6488

● Studentische Beschäftigte sowie Lehrkräfte für besondere Aufgaben und an-
dere mit Daueraufgaben in der Lehre betraute Personenkreise sind aus dem
Geltungsbereich des WissZeitVG auszuschließen.

Berlin, den 6. Juli 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Vom Grundsatz „Dauerstellen für Daueraufgaben“ ist die deutsche Wissen-
schaftslandschaft weiter entfernt denn je. Nur noch 15 Prozent des wissenschaft-
lichen Mittelbaus (inklusive beamtete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) haben
eine unbefristete Stelle, im Drittmittelbereich nur 3 Prozent. In vielen Bundes-
ländern werden zusätzliche, auf Befristung angelegte Stellenkategorien mit
Lehraufgaben geschaffen. Selbst im professoralen Bereich nehmen Befristun-
gen immer weiter zu.

Der Adressatenkreis des WissZeitVG steigt kontinuierlich an. Waren im Jahr
1992 noch 80 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befristet beschäf-
tigt, stieg diese Zahl bis 2004 auf 106 400 an. Im Jahr 2009 hatten bereits 146 100
Forschende und Lehrende keinen unbefristeten Vertrag. Dies sind 83 Prozent
aller angestellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Der Anteil der überwiegend aus Drittmitteln finanzierten unter diesen befristet
Beschäftigten betrug im Jahr 2009 39 Prozent. Das Verhältnis von wissenschaft-
lichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern je Professorin bzw. Professor hat sich
von 3,3 zu einem (1992) auf 6,6 zu einem (2009) verändert. Die meisten Mit-
arbeiter je Lehrstuhl finden sich in den klassischen Drittmitteldisziplinen in der
Medizin sowie den Ingenieurwissenschaften.

Die Evaluierung des WissZeitVG hat insbesondere die extrem kurzen Laufzei-
ten vieler Arbeitsverträge an Hochschulen und Instituten empirisch belegt. An
den Hochschulen läuft mehr als die Hälfte der Fristverträge (53 Prozent) kürzer
als ein Jahr, weitere 36 Prozent bis zu zwei Jahre. Nur 11 Prozent der Verträge
haben eine Laufzeit von zwei Jahren und mehr. An außeruniversitären For-
schungseinrichtungen verschieben sich diese Werte nur geringfügig. Hier haben
18 Prozent Vertragslaufzeiten von mehr als zwei Jahren. Die Befristungshöchst-
dauer wird im Durchschnitt mit etwa zwölf Arbeitsverträgen erreicht.

Es kann kein sächlicher Zusammenhang zwischen Vertragsdauer und Befris-
tungsgründen belegt werden. Weder Qualifizierungsschritte noch Drittmittel-
projekte weisen derart kurze Laufzeiten auf. Die Gründe sind daher viel mehr in
den Steuerungsmechanismen des Wissenschaftssystems auf der Makro- und
Mikroebene zu suchen. Es werden grundständige Finanzierungsquellen zuguns-
ten flexibler und wettbewerblicher Instrumente abgeschmolzen. Dazu zählen
nicht nur die klassischen Drittmittel aus öffentlicher und privater Hand, sondern
auch wettbewerbliche Finanzierungsmodelle der eigentlichen Träger der Ein-
richtungen. Sowohl in Hochschulen als auch in außeruniversitären Einrichtungen
werden diese Steuerungsmechanismen bis auf Fachbereichs- oder Institutsebene
weiter gereicht und Strukturen, etwa Forschungscluster, flexibel an Projektlauf-
zeiten und Finanzierungsperioden angepasst. In den Haushalten von Hochschulen
und Forschungseinrichtungen sind die Personalkosten für befristet angestelltes
wissenschaftliches Personal häufig der einzige flexible Haushaltsposten. Das

Drucksache 17/6488 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wissenschaftsmanagement ist insofern an möglichst kurzen Vertragslaufzeiten
für dieses Personal interessiert. Entsprechend wirken sich Wettbewerbsorientie-
rung und nicht nachhaltige Finanzierungsmodalitäten eindeutig negativ auf die
Beschäftigungsbedingungen in der Wissenschaft aus.

Nur zwischen 5 und 10 Prozent der befristeten Verträge werden auf der Basis der
Regelungen zur Drittmittelbefristung im WissZeitVG abgeschlossen. Diese Ver-
träge beziehen sich an außeruniversitären Instituten in der Regel auf Beschäf-
tigte, die bereits die Befristungshöchstdauer von zwölf Jahren überschritten ha-
ben und daher nur auf der Basis einer Drittmittelanstellung weiter befristet
beschäftigt werden können. An Hochschulen hingegen bilden Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler unter 32 Jahren die größte Gruppe im Rahmen der
Drittmittelbefristung. Dies weist auf eine eindeutige Schlechterstellung dieser
Gruppe gegenüber den sich Qualifizierenden derselben Altersgruppe hin. Zur
Lösung dieses Problems sollte eine klare Regelung zum Anwendungsbereich
der Drittmittelbefristung getroffen werden.

Die Evaluierung hat gezeigt, dass die familienpolitische Komponente des neuen
Befristungsrechts ins Leere läuft und kaum messbare Wirkung entfaltet. Sie hat
nicht zur erhöhten Erfüllung des Kinderwunsches geführt. Immer noch haben
72 Prozent der angestellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler keine
Kinder. Andere Befragungen im Rahmen des Bundesberichtes zur Förderung
des Wissenschaftlichen Nachwuchses ergaben noch höhere Zahlen von über
80 Prozent. Etwa genauso viele, mehr als 75 Prozent, wollen jedoch Kinder. Als
Hauptgründe gegen Kinder werden die berufliche Unsicherheit und die hohe Be-
anspruchung durch die wissenschaftliche Tätigkeit angegeben. Hier zeigt sich,
dass ein direkter Zusammenhang zwischen den Beschäftigungsbedingungen in
der Wissenschaft und der Umsetzbarkeit persönlicher Lebensplanungen belegt
werden kann.

Ein weiterer Grund für die mangelnde Wirksamkeit der familienpolitischen Ele-
mente des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes liegt in ihrer rechtlichen Unver-
bindlichkeit. Ihre Anwendung liegt im Ermessensspielraum der Arbeitgeber. Ein
Rechtsanspruch auf Verlängerung der Befristungshöchstdauer existiert nicht.
Wenn die Verlängerung der Befristungshöchstdauer in größerem Maßstab zur
Anwendung kommen soll, müssen dieses Instrument als Rechtsanspruch ausge-
staltet und die Anspruchsvoraussetzung klar definiert werden.

In der Anwendung des Gesetzes traten zudem weitere Rechtsunsicherheiten zu
Tage. Dies betrifft etwa die Definition der Drittmittel, die klassisch als Mittel
von dritten Finanzgebern neben den Ländern gesehen werden. Im Zuge wett-
bewerblicher Finanzierungsinstrumente vergeben jedoch auch die Länder bzw.
der Bund als ein Träger der außeruniversitären Forschungsinstitute Projekt-
finanzierungen. Um das Ausufern der Befristungspraxis zu vermeiden, sollte der
Begriff klar definiert werden.

Bisher werden sowohl studentische Beschäftigte nach einem ersten berufsquali-
fizierenden Abschluss sowie Kräfte mit überwiegenden Lehraufgaben in der
Regel in den Geltungsbereich des WissZeitVG einbezogen, wobei die Rechts-
lage keineswegs eindeutig ist. Lehrkräfte für besondere Aufgaben und andere
mit Lehraufgaben betraute Personen sind in der Regel nicht zu Qualifizierungs-
zwecken beschäftigt, sondern übernehmen Daueraufgaben in der Lehre, etwa an
Sprachenzentren. Auch der Abschluss eines Masterstudiums kann nicht als
Schritt einer wissenschaftlichen Karriere gesehen werden. Die studentische Be-
schäftigung neben dem Studium ist daher auch nicht auf die Befristungsdauer

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/6488

nach dem WissZeitVG anzurechnen. Beide Personalgruppen sollten aus dem
Geltungsbereich des Gesetzes herausgenommen werden. Eine weitere Rechts-
unsicherheit betrifft den Nachweis der Kinderbetreuung, der für eine Verlänge-
rung der Befristungshöchstdauer vorausgesetzt wird. Hier hat die Umsetzung
vor Ort zu deutlichen Unterschieden geführt, die die Mobilität der Betroffenen
vor große Hürden stellen.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.