BT-Drucksache 17/6339

Überweisung des Goldstone-Berichtes an den Internationalen Strafgerichtshof durch den UN-Sicherheitsrat

Vom 29. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6339
17. Wahlperiode 29. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Annette Groth, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken,
Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Heike Hänsel, Inge Höger,
Andrej Hunko, Harald Koch, Niema Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln),
Alexander Ulrich, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Überweisung des Goldstone-Berichtes an den Internationalen Strafgerichtshof
durch den UN-Sicherheitsrat

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Bundesregierung betont in ihrem letzten Menschenrechtsbericht, dass ihr
die Verhinderung der Straflosigkeit für schwere Völkerrechtsverbrechen ein
wichtiges Anliegen sei.

Bei der israelischen Militäroffensive „Gegossenes Blei“ im Gaza-Streifen vom
27. Dezember 2008 bis 18. Januar 2009 kamen nach Angaben des Goldstone-
Berichtes etwa 1 400 Palästinenserinnen und Palästinenser ums Leben. 850 waren
danach Zivilisten, davon etwa 340 Kinder und 110 Frauen. Über 5 000 Men-
schen sollen verletzt worden sein. Auf israelischer Seite kamen danach 13 Men-
schen ums Leben, davon neun Soldaten, vier durch eigenes Feuer. 182 Zivilisten
und 148 Soldaten sollen verletzt worden sein. Aufgrund der massiven Angriffe
auf die zivilen Lebensgrundlagen der Bevölkerung in Gaza und der verheeren-
den Auswirkungen von Zerstörung und Gewalt wurde international der Ruf nach
unabhängigen Untersuchungen über mögliche Kriegsverbrechen und Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit laut. Am 3. April 2009 gründete der Vorsitzende
des Menschenrechtsrates die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen
zum Gaza-Konflikt mit dem Auftrag, mögliche Verletzungen des humanitären
Völkerrechts bzw. internationaler Menschenrechtsvorschriften im Zusammen-
hang mit den Kriegshandlungen zu untersuchen. Der Goldstone-Bericht über
mutmaßliche israelische und palästinensische Kriegsverbrechen im Kontext der
Kriegshandlungen wurde in Resolution A/64/10 der Generalversammlung der
Vereinten Nationen vom 5. November 2009 bestätigt. Deutschland hat gegen die
Resolution gestimmt. Bei der Abstimmung am 26. Februar 2010 von Resolution
A/64/L/48, die die Empfehlungen der Resolution 10/64 bekräftigte, hat
Deutschland sich enthalten.

Der Deutsche Bundestag stellt fest, dass die Goldstone-Untersuchungskom-

mission nicht beauftragt war, strafrechtliche Untersuchungen zu führen. Die
Goldstone-Kommission und ihr Bericht sind Teil eines Prozesses der Wahrheits-
suche, der zu wirksamen gerichtlichen Untersuchungen führen soll. Genau wie
alle Berichte von UN-Untersuchungskommissionen bietet der Goldstone-Be-
richt eine Grundlage für Ermittlungen zur Beweiserhebung und zur Einleitung
strafrechtlicher Verfolgung von Personen, die möglicherweise Völkerrechtsver-
brechen befohlen, geplant oder begangen haben. Nur angemessene strafrecht-

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liche Ermittlungen können die im Goldstone-Bericht erhobenen Vorwürfe bestä-
tigen oder auch entkräften.

Der Goldstone-Bericht erhebt schwere Vorwürfe gegen beide Seiten des Kon-
fliktes. In zahlreichen Fällen wird die israelische Armee der Kriegsverbrechen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie zahlreicher weiterer Verletzun-
gen des humanitären Völkerrechts beschuldigt. Auch gegen bewaffnete palästi-
nensische Gruppen wird der Vorwurf der Kriegsverbrechen und der Verbrechen
gegen die Menschlichkeit erhoben.

Die israelische Regierung und die palästinensische Vertretung wurden daher im
Goldstone-Bericht aufgefordert, binnen sechs Monaten unabhängige Untersu-
chungskommissionen einzurichten, die die Vorwürfe strafrechtlich untersuchen
sollten. Weder der israelische noch der palästinensische Bericht zum Stand der
jeweiligen Untersuchungen entsprachen nach Aussagen von Amnesty Interna-
tional, Human Rights Watch sowie israelischen und palästinensischen Menschen-
rechtsorganisationen den Forderungen des Goldstone-Berichtes nach unabhän-
gigen, unparteiischen, transparenten und effektiven Untersuchungen. Auch nach
wiederholter Fristverlängerung wurden weder in Israel noch in den palästinen-
sischen Gebieten angemessene, internationalen Standards entsprechende Unter-
suchungen durchgeführt. Dies bestätigt auch der im Mai 2011 erschienene Jah-
resbericht von Amnesty International.

Im Januar 2010 zahlte die israelische Regierung 10,5 Mio. US-Dollar Schadens-
ersatz an die UN für die Beschädigung von UN-Gebäuden während der isra-
elischen Offensive. Die Opfer der Angriffe und ihre Angehörigen erhielten
keinerlei Entschädigungszahlungen. Der Goldstone-Bericht fordert Entschädi-
gungszahlungen sowohl für die Menschen, die bei Angriffen auf UN-Gebäude
ums Leben kamen, als auch für die zivilen Opfer, die bei anderen während der
Operation verübten Angriffen getötet wurden.

Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, wurde in Resolu-
tion 13/9 des UN-Menschenrechtsrats am 14. Juni 2010 aufgefordert, ein Exper-
tenkomitee einzurichten, um die nationalen Untersuchungen zum Gaza-Krieg in
Israel und den palästinensischen Gebieten im Lichte der Resolution der Gene-
ralversammlung der Vereinten Nationen 64/254 zu überwachen und in Bezug
auf Unabhängigkeit, Effektivität und Glaubwürdigkeit dieser Untersuchungen
und deren Konformität mit internationalen Standards zu bewerten. In seiner Re-
solution 15/6 vom 27. September 2010 entschied der Menschenrechtsrat, das
Mandat des Expertenkomitees um ein halbes Jahr zu verlängern. Das Komitee
präsentierte seinen Bericht dem Menschenrechtsrat am 18. März 2011 (im Fol-
genden „zweiter Nachfolgebericht“).

Im zweiten Nachfolgebericht (www2.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/docs/
16session/A.HRC.16.24_AUV.pdf) ist festgestellt, dass Israel 400 armee-in-
terne Untersuchungen durchgeführt hat. In 52 Fällen wurde strafrechtlich ermit-
telt. Die Hamas-Regierung in Gaza hat bislang keinerlei Ermittlungsverfahren
in Bezug auf die Vorwürfe der Kriegsverbrechen gegen Mitglieder bewaffneter
palästinensischer Gruppen in Gaza, die Raketen in den Süden Israels geschossen
haben, aufgenommen.

Ein Hauptkritikpunkt des zweiten Nachfolgeberichts an den israelischen Unter-
suchungen, der auch von internationalen Menschenrechtsorganisationen seit Be-
ginn der Ermittlungen artikuliert wurde, betrifft die mangelnde Unparteiischkeit
der armee-internen Untersuchungen. Die Doppelfunktion des militärischen Ge-
neralanwaltes und seiner Behörde führt dazu, dass zwar einzelne Zwischenfälle
untersucht werden können, nicht aber, ob die politische und militärische Füh-
rung implizit an Rechtsverstößen beteiligt war. Daher gibt es bisher in Israel
keine Ermittlungen bezüglich der Handlungen von Personen, die die israelische

Offensive konzipiert, geplant, befohlen und überwacht haben. Somit wurde eine

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6339

der gravierendsten Anschuldigungen des Goldstone-Berichtes – nämlich die ge-
genüber der Führung der militärischen Operation – gar nicht berücksichtigt.
Auch einer Reihe anderer im Goldstone-Bericht erhobener Vorwürfe ist Israel
nicht angemessen nachgegangen. Etwa ein Drittel der im Goldstone-Bericht do-
kumentierten 36 Fälle mutmaßlicher Kriegsverbrechen sind nach wie vor nicht
aufgeklärt. Insbesondere sind ungeklärt der Einsatz von weißem Phosphor und
Mörsergranaten in dicht besiedeltem Gebiet; die vermeintliche Festlegung, dass
Regierungsgebäude legitime militärische Ziele seien; die Behinderung und Be-
schädigung von Rettungswagen. Der zweite Nachfolgebericht äußert ernste
Sorge über den späten Beginn und den langsamen Ablauf der Verfahren, ihre
unzureichende Transparenz und die mangelnde Anhörung von Opfern und Zeu-
ginnen und Zeugen. Daher sind auch die Kriterien der Unverzüglichkeit, Effek-
tivität und Transparenz bei den Ermittlungen nicht erfüllt. Entsprechend kom-
men auch die Mitglieder der Goldstone-Kommission in ihrer Stellungnahme zu
dem Schluss, dass die bislang von der israelischen Regierung eingesetzten Me-
chanismen nicht ausreichen, um die Tatsachen und die sich daraus ergebende
rechtliche Verantwortung zu klären.

In einem Beitrag in der „Washington Post“ vom 1. April 2011 äußerte Richard
Goldstone vor allem unter Bezugnahme darauf, dass die Hamas noch keine
Untersuchungen als Folge des Berichts eingeleitet habe und durch die israeli-
schen Untersuchungen wenigstens einige Untersuchungsergebnisse vorgelegt
wurden, dass der Bericht, würde er heute verfasst, an einigen Stellen andere
Einschätzungen enthalten würde. In einem Interview am 6. April 2011 in der
„Washington Post“ bestätigt er jedoch, dass der Bericht grundsätzlich nicht in
Frage zu stellen ist (www.washingtonpost.com/politics/goldstone-says- he-wont-
seek-gaza- report-nullification-denies-discussing-it-with-israeli/2011/04/06/AF
TCTYmC_story.html und www.huffingtonpost.com/huff-wires/20110406/ml-
israel-un-report/). Letzteres bestätigten auch die drei anderen Mitglieder der
Goldstone- Untersuchungskommission. Am 14. April 2011 erklärten sie im
„Guardian“, dass keine Fakten und Beweise aufgetaucht seien, die den Kontext,
die Ergebnisse oder die Schlussfolgerungen des Goldstone-Berichtes hinsicht-
lich einer der Parteien des Gaza-Konflikts in irgendeiner Weise ändern würden
(www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/apr/14/goldstone-report-statement-
un-gaza). Auch Prof. Dr. Dr. h. c. Christian Tomuschat, der die erste Experten-
kommission leitete, äußerte am 6. April 2011 gegenüber dem „DER TAGES-
SPIEGEL“, dass in dem zweiten Nachfolgebericht keine neuen Beweise oder
Fakten zu Tage kamen, die eine Änderung des Berichts begründeten (www.
tagesspiegel.de/politik/irritationen-ueber-rueckzieher-goldstones/
4028016.html).

Da kaum in Israel und gar nicht in den palästinensischen Gebieten, angemes-
sene, unverzügliche, transparente, unparteiische, internationalen Standards ent-
sprechende Untersuchungen durchgeführt wurden, ist es nach Ablauf der Fristen
Aufgabe des UN-Sicherheitsrates, die Angelegenheit an den Internationalen
Strafgerichtshof zu überweisen. Die Resolution 16/32 des Menschenrechtsrats
vom 13. April 2011 spricht ebenfalls diese Empfehlung aus. Auch Amnesty In-
ternational fordert in seinem am 13. Mai 2011 erschienenen Jahresbericht, die
internationale Gerichtsbarkeit einzuschalten. Wenn gravierende Verstöße gegen
das Völkerrecht nicht angeklagt werden, führt dies zu einer Legitimierung von
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einem allge-
meinen Klima der Straflosigkeit. Die Einhaltung des humanitären Völkerrechts
und internationaler Menschenrechtsnormen durch alle Seiten und unter allen
Umständen ist wesentliche Voraussetzung für einen gerechten und nachhaltigen
Frieden in der Region.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Empfehlungen des Goldstone-Berichtes bezüglich der völkerrechtlichen
Verantwortung der betroffenen Parteien, unverzügliche, gründliche, wirk-
same und unabhängige Ermittlungen zu den Vorwürfen der Kriegsverbrechen
und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu führen, in allen relevanten
Gremien der UN zu unterstützen;

2. sich als neues nichtständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat für die Bekämp-
fung von Straflosigkeit für schwere Völkerrechtsverbrechen weltweit und für
das Recht der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung
einzusetzen, auch der Opfer im Gaza-Krieg, sowohl auf palästinensischer als
auch auf israelischer Seite;

3. als Mitglied im Weltsicherheitsrat die Verweisungen der Resolutionen A/64/
10 und A/64/L/48 der Generalversammlung der Vereinten Nationen an den
Weltsicherheitsrat und die Implementierung der Forderungen des Goldstone-
Berichtes durch den Weltsicherheitsrat zu unterstützen;

4. insbesondere die Empfehlung des Goldstone-Berichts an den Weltsicher-
heitsrat, die Angelegenheit gemäß Artikel 13 Buchstabe b des Römischen
Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs dem Ankläger des Internationa-
len Strafgerichtshofs vorzulegen, zu unterstützen.

Berlin, den 29. Juni 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

In seinem Jahresbericht 2010 beklagte Amnesty International, dass die USA und
die Europäische Union ihre Positionen im Weltsicherheitsrat der Vereinten
Nationen ausgenutzt haben, um sich internationaler Gerechtigkeit entgegen-
zustellen und Israel von der Rechenschaftspflicht und Verantwortung für
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit freizusprechen.
Internationale, israelische und palästinensische Menschenrechtsorganisationen
appellieren nach wie vor eindringlich an die internationale Gemeinschaft, sich
für eine adäquate Untersuchung der Vorwürfe von Kriegsverbrechen und Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit im Gaza-Krieg einzusetzen. Adäquate Unter-
suchungen seien den Opfern geschuldet, aber auch notwendig, um weiteren
Aggressionen vorzubeugen und einem Klima der Straflosigkeit in der Region
entgegenzuwirken. Die Armee feiere die Operation „Gegossenes Blei“ als gro-
ßen Sieg, so Yehuda Shaul, Direktor der israelischen Menschenrechtsorgani-
sation „Breaking the Silence“ im Gespräch mit den Mitgliedern des Ausschusses
für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Deutschen Bundestag. Er befürch-
tet, dass künftige Kriege wieder mit den gleichen Mitteln oder sogar noch
schlimmer geführt werden, wenn die Armee sich keinen unabhängigen Unter-
suchungen stellen muss. Israelische Menschenrechtsorganisationen betonen
darüber hinaus das Recht und die Pflicht der israelischen Gesellschaft, zu er-
fahren, welche Kriege zu welchen Regeln in ihrem Namen geführt werden.

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