BT-Drucksache 17/6092

Atomausstieg bis 2014 - Für eine erneuerbare und demokratische Energieversorgung

Vom 8. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6092
17. Wahlperiode 08. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dorothee Menzner, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,
Harald Koch, Ralph Lenkert, Ulla Lötzer, Richard Pitterle, Michael Schlecht,
Sabine Stüber, Dr. Axel Troost, Johanna Voß und der Fraktion DIE LINKE.

Atomausstieg bis 2014 – Für eine erneuerbare und demokratische
Energieversorgung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Katastrophe von Tschernobyl und in den japanischen Atomkraftwerken in
Fukushima haben auf dramatische Weise die unbeherrschbaren Gefahren der
Atomkraft sichtbar gemacht. Die schrecklichen Ereignisse in Japan verdeut-
lichen: Der Betrieb von Atomkraftwerken ist unverantwortbar, in Japan, in
Deutschland, weltweit. Jetzt müssen Konsequenzen gezogen werden. Nur ein
zurückgebautes Atomkraftwerk ist ein sicheres Atomkraftwerk.

Ein unverzüglicher Atomausstieg bis zum Ende des Jahres 2014 ist technisch
möglich. Der Kraftwerkspark in Deutschland ist derart überdimensioniert, dass
elf der 17 Atomkraftwerke sofort stillgelegt werden können. Eine rasche Ab-
kehr von der Atomkraft bietet die Chance, eine demokratische, ökologische
und soziale Energiewende in Deutschland einzuleiten und zügig voranzutrei-
ben. Dazu bedarf es konkreter Schritte und Anstrengungen für eine zügige Ab-
schaltung des Atomkraftwerkparks, für ein neues Verwahrungskonzept des an-
gefallenen, Jahrtausende strahlenden Atommülls und für die endgültige Abkehr
von der Atomenergie – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

Der Atomausstieg muss unumkehrbar sein. Dazu soll ein Verbot der Nutzung
von Atomenergie und Atomwaffen im Grundgesetz verankert werden, wie es
der Gesetzentwurf zur grundgesetzlichen Verankerung des Ausstiegs aus der
Atomenergie (Bundestagsdrucksache 17/5474) der Fraktion DIE LINKE. vor-
sieht.

Begleitend müssen die Energiewende hin zu erneuerbaren Energien und einem
sparsameren und effizienteren Umgang mit Energie beschleunigt sowie bezahl-
bare Energiepreise sichergestellt werden. Wir brauchen eine soziale Beschäfti-
gungspolitik – nicht nur im Energiesektor – und eine generelle Demokratisie-
rung der Energieerzeugung und der Energieinfrastruktur.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, in dem festgelegt wird,

– die sieben ältesten Atomkraftwerke – Biblis A, Neckarwestheim 1, Biblis B,
Brunsbüttel, Isar 1, Unterweser und Philippsburg 1 – und das Atomkraft-
werk Krümmel sofort und auf Dauer stillzulegen;

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– darüber hinaus das wegen seiner Lage in einem Erdbebengebiet gefähr-
dete Atomkraftwerk Neckarwestheim 2 sowie die Atomkraftwerke Gund-
remmingen B und C sofort und auf Dauer stillzulegen;

2. in diesem Gesetzentwurf darüber hinaus einen konkreten Ausstiegsplan für
die Stilllegung der übrigen Atomkraftwerke bis zum Ende des Jahres 2014
festzuschreiben, der vorsieht, dass

– die Atomkraftwerke Brokdorf und Philippsburg 2 im Jahr 2012,

– die Atomkraftwerke Grohnde und Grafenrheinfeld im Jahr 2013 und

– die Atomkraftwerke Isar 2 und Emsland im Jahr 2014

stillgelegt werden. Darüber hinaus soll die Erarbeitung eines neuen Konzep-
tes für die sichere und dauerhafte Verwahrung des angefallenen Atommülls
in Deutschland festgeschrieben werden, das sich an den Kriterien des Ar-
beitskreises Auswahlverfahren Endlagerstandorte (AkEnd) orientiert und
von Schacht Konrad und Gorleben als ungeeigneten Standorten absieht;

3. den Atomausstieg in Deutschland unumkehrbar zu gestalten und gleichzeitig
das internationale Engagement für die Abkehr von Atomenergie zu verstär-
ken, indem sie

– sich für die Verankerung des Verbots der Nutzung von Atomenergie und
Atomwaffen im Grundgesetz einsetzt (vgl. hierzu schon den Gesetzent-
wurf zur grundgesetzlichen Verankerung des Ausstiegs aus der Atom-
energie auf Bundestagsdrucksache 17/5474);

– sich auf EU-Ebene für die Auflösung des Vertrags zur Gründung der Euro-
päischen Atomgemeinschaft (Euratom) und gleichzeitig für die Schaffung
eines Vertrags zur Einrichtung einer Europäischen Gemeinschaft zur För-
derung von erneuerbaren Energien und Energieeinsparung einsetzt;

– einen Gesetzentwurf vorlegt, der zum Ziel hat, jegliche finanzielle Förde-
rung und Bürgschaft für in- und ausländische Projekte, die der Nutzung
von Atomenergie oder Atomwaffen dienen, zu verbieten;

4. ein Sofortprogramm für die erneuerbare Energiewende aufzulegen und hier-
für erforderliche Gesetzentwürfe vorzulegen, um steigenden CO2-Emis-
sionen infolge des Atomausstiegs entgegenzuwirken und den Ausbau erneu-
erbarer Energien sowie den sparsamen und effizienten Umgang mit Energie
zu beschleunigen. Dieses Programm umfasst u. a.

– ambitionierte, verbindliche Verbrauchsgrenzwerte für Elektrogeräte und
strikte ordnungsrechtliche Vorgaben zur Steigerung der industriellen
Energieeffizienz;

– die Einrichtung eines Energiesparfonds, der ausgestattet mit jährlich min-
destens 2,5 Mrd. Euro u. a. spezielle Förderprogramme für einkommens-
schwache Haushalte zum Kauf energieeffizienter Haushaltsgeräte vor-
sieht;

– Anreize für die Schaffung regenerativer Kombikraftwerke;

– die Förderung der Entwicklung und Etablierung effizienter Speichertech-
nologien;

– die Erstellung eines Bundesfachplans Netzumbau, der die Anforderungen
einer möglichst dezentralen Energieerzeugung berücksichtigt und sich
auf die tatsächlich notwendigen neue Energienetze beschränkt;

– ein Impulsprogramm zur Förderung dezentraler Kraft-Wärme-Kopp-
lungsanlagen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6092

– die Vorlage eines Gesetzentwurfs, der einen Zeitplan für den Ausstieg aus
der Kohleverstromung festlegt und den Neubau von Kohlekraftwerken
verbietet;

5. die Strompreisentwicklung sozial zu gestalten, indem sie

– eine handlungsfähige Strompreiskontrolle und eine „Markttransparenz-
stelle“ für die Aufsicht über den Strommarkt einführt;

– die Börsenaufsicht für den Spothandel im deutschen Strommarkt bzw.
über alle Spotmärkte auf EU-Ebene wieder einführt und den Insiderhan-
del an Strombörsen schärfer ahndet (Straftatbestand);

– ein Entflechtungsgesetz zur Begrenzung der Erzeugungs- und Netzkapa-
zitäten eines Unternehmens erarbeitet;

– die Brennelementesteuer zur Abschöpfung der Extraprofite aus dem
Emissionshandel erhöht sowie die Rückstellungen der Betreiber von
Atomkraftwerken für Stilllegung, Rückbau und Entsorgung in einen
öffentlich-rechtlichen Fonds überführt;

– ein Verbot von Stromsperren einführt;

– Vorgaben für eine verbindliche Einführung von Stromsozialtarifen
macht;

6. den Atomausstieg und die erneuerbare Energiewende durch eine gezielte
soziale Beschäftigungspolitik zu begleiten, indem sie

– Leiharbeit in Atomkraftwerken unterbindet;

– Initiativen für die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen an den Atomkraft-
werksstandorten durch regionale Wirtschaftspolitik ergreift und fördert;

– Initiativen für eine Wende in der Beschäftigungspolitik der Erneuerbaren-
Energien-Branche hin zu tariflicher Entlohnung, Sicherstellung gewerk-
schaftlicher Rechte und guter Arbeit unterstützt;

– die Vergabe öffentlicher Gelder an die Einhaltung dieser Standards
knüpft;

7. sich bei der Energieversorgung als zentralem Bestandteil der öffentlichen
Daseinsvorsorge mehr Handlungsspielraum zu verschaffen und sich für eine
grundlegende Demokratisierung des Energiesektors einzusetzen, indem sie

– einen Plan zur Überführung der Energienetze in die öffentliche Hand er-
arbeitet und umsetzt;

– die Entflechtung des Oligopols im Energiesektor anstrebt;

– Kommunen bei der Rekommunalisierung der Energieversorgung durch
bessere ordnungsrechtliche Rahmenbedingungen unterstützt;

– Energiegenossenschaften fördert;

– einen Gesetzentwurf zur Änderung des Aktiengesetzes vorlegt, um Auf-
sichtsratsmitgliedern Entscheidungen nach Gemeinwohl- statt Unterneh-
mensinteressen zu ermöglichen, ihre Rechenschaftspflicht auszuweiten
und ihre Verschwiegenheitspflicht gegenüber dem entsendenden Gre-
mium aufzuheben;

– energieerzeugende Unternehmen verpflichtet, in den Geschäftsberichten
über die Maßnahmen für den sozial-ökologischen Umbau zu berichten;

– für die Vergabe öffentlicher Mittel für die Erzeugung von Energie und
den Netzausbau einen Energiewendefonds einrichtet;

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– bei größeren öffentlichen Investitionen in erneuerbare Energien und in
den Netzausbau prüft, ob sie als öffentliche und/oder Belegschaftsbeteili-
gungen mit Einfluss auf die Geschäftspolitik zu gewähren sind und sie
mit weitgehenden Mitbestimmungsrechten von Betriebsräten und Ge-
werkschaften verbindet;

– sich für die Schaffung von Beiräten aus Umwelt- und Verbraucherverbän-
den, Gewerkschaften und Mandatsträgerinnen und -träger einsetzt, die mit
verbindlichen Mitbestimmungsrechten den Energiewendeprozess auf al-
len Ebenen (Bund, Länder, Kommunen) begleiten und

– die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bevölkerung bei großen Infra-
strukturprojekten ausweitet und sie bereits vor Beginn der Planungsver-
fahren informiert und einbezieht.

Berlin, den 8. Juni 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

1. Deutschland exportiert seit Jahren Strom ins Ausland. Der Kraftwerkspark in
Deutschland ist so konzipiert, dass elf der 17 Atomkraftwerke (AKW) in
Deutschland sofort stillgelegt werden können, ohne die Versorgungssicher-
heit zu gefährden. Diese elf Atomkraftwerke umfassen u. a. die sieben von
der Bundesregierung während des „Atom“-Moratoriums vorübergehend
vom Netz genommenen AKWs sowie den Pannenmeiler Krümmel. Die elf
Atomkraftwerke trugen in den letzten Jahren knapp neun Gigawatt zur ge-
sicherten Nettoleistung der Stromerzeugung in Deutschland bei. Diese kön-
nen durch überschüssige Erzeugungskapazitäten im deutschen Kraftwerks-
park problemlos ersetzt werden. Dass damit keinerlei Einschnitte bei der Ver-
sorgungssicherheit verbunden sind, zeigt die aktuelle Situation. Ende Mai
2011 waren aufgrund des „Atom“-Moratoriums und wegen laufender Revi-
sionen für eine Woche 13 Atomkraftwerke nicht am Netz.

2. Die verbleibenden sechs Atomkraftwerke mit einer gesicherten Erzeugungs-
leistung von etwa 7 Gigawatt werden spätestens im Laufe des Jahres 2014
überflüssig. Die Deckung der Jahreshöchstlast bleibt aus zwei Gründen
sicher: Zahlreiche Gas- und Kohlekraftwerke mit einer Leistung von min-
destens 11 Gigawatt sind bereits heute in Bau und gehen in den kommenden
drei Jahren ans Netz. Bleiben einige fossile Kraftwerke wenige Jahre länger
als geplant am Netz, bedeutet dies einen erheblichen Netto-Zuwachs an
Kraftwerkskapazitäten. Schon die gesicherte Erzeugungsleistung dieser
Kraftwerksneubauten übersteigt die der sechs verbleibenden Atomkraft-
werke. Entscheidend für die Versorgungssicherheit ist die Deckung des
Strombedarfs in den Stunden des Jahreshöchstverbrauchs, üblicherweise an
Winterabenden im Dezember oder Januar. Durch ein aktives Lastenmanage-
ment kann diese Jahreshöchstlast auch kurzfristig deutlich verringert wer-
den. Entsprechend müssen weniger gesicherte Kraftwerkskapazitäten vorge-
halten werden.

Da die Zeiten der höchsten Stromnachfrage immer nur stundenweise auftre-
ten, würde schon eine zeitlich geringfügige Verschiebung eines gewissen
Teils des Stromverbrauchs ein deutliches Absenken der Jahreshöchstlast be-

deuten.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/6092

Durch die Kombination von neuer Kraftwerksleistung und dem Absenken
der Jahreshöchstlast ist ein schneller Atomausstieg bis zum Ende des Jahres
2014 technisch möglich. Es stünde jederzeit genügend gesicherte Erzeu-
gungsleistung zur Verfügung, um auch auf den umstrittenen Kohlekraft-
werksneubau in Datteln und die noch im Genehmigungsprozess befind-
lichen Kohlekraftwerke verzichten zu können. Die regionale Verteilung der
Erzeugungsanlagen sowie das bestehende Stromnetz sichert dabei auch die
Versorgung Süddeutschlands, das bislang einen besonders hohen Atom-
stromanteil aufweist. Sollte während der wenigen Stunden der Jahreshöchst-
last aufgrund einer unerwarteten Steigerung der Stromnachfrage die ge-
sicherte Kraftwerksleistung nicht ausreichen, bliebe als weitere Möglichkeit
des Rückgriffs auf einen Teil der sog. Langfristreserve von über 6 Gigawatt.

Mit der endgültigen Abwicklung des Atomkraftwerksparks werden zwangs-
läufig über mehrere Jahrzehnte immense Mengen an mittel- und hochradio-
aktivem Müll anfallen, zusätzlich zu den bereits angefallenen und an den
AKW-Standorten befindlichen, weiter wachsenden Bergen hochradioakti-
ven Mülls. Für all diese Hinterlassenschaften sind enorme Kapazitäten für
die Lagerung abseits der bisherigen AKW-Standorte nötig. Sie müssen als-
bald in eine sichere Verwahrung überführt werden. Deshalb muss als Teil
des Atomausstiegs auch die Frage der Atommüllverwahrung geklärt wer-
den. Da Schacht Konrad und Gorleben wegen geologischer Nichteignung
als Endlager nicht in Frage kommen, muss ein neues Suchverfahren gestar-
tet werden. Damit muss auch das bisherige Endlagerkonzept generell auf
den Prüfstand gestellt werden, da die unterirdische Lagerung in Salzforma-
tionen in Morsleben und in der Asse zu desaströsen Problemen geführt hat.

3. Damit der Atomausstieg unumkehrbar wird, muss er im Grundgesetz ver-
ankert werden. Auf europäischer Ebene muss sich entschieden für die Auf-
lösung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft
(euratom) eingesetzt und die damit einhergehende Förderung der Atom-
energie beendet werden. Stattdessen soll ein europäischer Vertrag zur Ein-
richtung einer Europäischen Gemeinschaft zur Förderung von erneuerbaren
Energien und Energieeinsparung eingerichtet werden.

4. Ein frühzeitiger Atomausstieg führt in diesem Jahrzehnt zu einer vorüberge-
henden Erhöhung der jährlichen CO2-Emissionen im Stromsektor. Denn
einige fossile Kraftwerke blieben wenige Jahre länger am Netz. Durch einen
beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien kann dieser Anstieg aber in
den Jahren nach 2020 mehr als kompensiert werden.

Der Atomausstieg muss daher durch ein Sofortprogramm für die erneuer-
bare Energiewende begleitet werden. Der Einspeisevorrang für Strom aus
erneuerbaren Energien und eine wirkungsvolle Einspeisevergütung müssen
dauerhaft garantiert bleiben. Notwendig sind Anreize für die Schaffung
regenerativer Kombikraftwerke. Damit die Infrastruktur des Stromsektors
nicht zum Nadelöhr für den Ausbau erneuerbarer Energien wird, müssen die
Entwicklung und die Etablierung effizienter Speichertechnologien gefördert
werden.

Der Umbau des Kraftwerksparks darf nicht allein dem Preissignal der CO2-
Märkte überlassen werden. Es muss sichergestellt werden, dass der Atom-
ausstieg nicht zum Bau neuer Kohlekraftwerke führt. Der Betrieb großer
Grundlastkraftwerke, insbesondere von Kohlekraftwerken, ist und bleibt ein
Auslaufmodell auf dem Weg zur erneuerbaren Vollversorgung. Die Brücke
in das Zeitalter der erneuerbaren Vollversorgung bilden neue flexible Gas-
kraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) sowie dezentrale KWK-An-
lagen, die es zu fördern gilt. Ein Import von zusätzlichem Erdgas ist dafür

nicht notwendig, wenn die Förderung der energetischen Gebäudesanierung

Drucksache 17/6092 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

deutlich erhöht und die einschlägigen Vorschriften mietergerecht verbessert
werden.

5. Ein unverzüglicher Atomausstieg verändert die Kosten der Stromerzeugung.
Die langfristig anfallenden, von der Gesellschaft insgesamt zu tragenden
Kosten werden umso geringer, je schneller der Ausstieg erfolgt. Denn Atom-
strom ist – wenn man die enormen Aufwendungen für Sicherheit und Ent-
sorgung berücksichtigt – extrem teuer. Kurzfristig und mittelfristig sind
jedoch geringfügige Preissteigerungen zu erwarten, weil für die Preisbildung
auf den Strommärkten die reinen Betriebskosten und nicht die gesellschaft-
lichen Gesamtkosten entscheidend sind. Die zusätzlichen Kosten eines be-
schleunigten Atomausstieges bis Mitte des Jahrzehnts werden nach Experten-
schätzungen nicht mehr als 1 Cent pro Kilowattstunde betragen. Angesichts
der Gefahren der Atomkraft ist diese Zusatzbelastung allerdings vertretbar,
zumal sie im Vergleich mit der durchschnittlichen Steigerung der Strompreise
gering ausfällt. Nur ein Fünftel der Strompreiserhöhungen in zehn Jahren
wurden durch Zusatzkosten des Ökostroms verursacht, ganze vier Fünftel
gingen auf das Konto der Energiekonzerne. Infolge der marktbeherrschenden
Stellung der Energieversorgungsunternehmen RWE Vertrieb AG, E.ON Ver-
trieb Deutschland GmbH, Vattenfall Europe AG und EnBW Energie Baden-
Württemberg AG, die zusammen etwa 80 Prozent des Primärmarktes beherr-
schen, stiegen deren Oligopolgewinne unverhältnismäßig an. Der schnelle
Atomausstieg ist ein Grund mehr, eine wirksame Strommarktaufsicht durch-
zusetzen und die Marktmacht einzudämmen.

Zudem müssen die Extraprofite der Versorger abgeschöpft werden, die sie
leistungslos aus den Preiswirkungen des Emissionshandels erzielen. Das
brächte Einnahmen in Milliardenhöhe zur Finanzierung der Energiewende.
Auch die Rückstellungen für Stilllegung, Rückbau und Entsorgung haben
den AKW-Betreiber im Laufe der Jahre milliardenschwere Vorteile erbracht.
Die Rückstellungen sollen auch deshalb in einen öffentlich-rechtlichen
Fonds überführt werden.

Steigende Strompreise setzen Anreize für Energieeffizienz und Energieein-
sparung. Aber nicht alle können diese Strompreise bezahlen. Jährlich gibt es
etwa 800 000 Sperren der Strom- und Gasversorgung. Neben einem Verbot
von Stromsperren müssen die Stromversorger daher zur Einführung von
Stromsozialtarifen verpflichtet werden. Darüber hinaus sollen einkommens-
schwache Haushalte eine kostenlose Energieberatung erhalten.

6. Die Energiewende und ein unverzüglicher Atomausstieg werden positive
Beschäftigungseffekte haben. Während bei den vier großen Energieversor-
gungsunternehmen in den letzten Jahren zigtausende Arbeitsplätze abgebaut
wurden, arbeiten heute rund 340 000 Menschen im Bereich der Erzeugung
von Strom, Wärme oder Treibstoffen aus erneuerbaren Quellen. Das ist
mehr als eine Verdopplung gegenüber dem Stand von 2004. Hinzu kommen
die Arbeitsplätze im Bauhandwerk, die Wärmedämmung und ähnlichen
Maßnahmen realisieren.

Dem gegenüber stehen ca. 8 000 Beschäftigte in den deutschen Atomkraft-
werken sowie etwa 2 000 bis 3 000 Arbeitskräfte, die von Kraftwerk zu
Kraftwerk reisen und die Revisionsarbeiten durchführen. Weitere 3 000 Ar-
beitsplätze entfallen auf den Export von kerntechnischen Anlagen. Von Auf-
trägen der Kraftwerksbetreiber profitieren weitere Auftragnehmer außerhalb
des nuklearen Sektors. Diese sind jedoch nicht unmittelbar vom Weiterbe-
trieb der Atomkraftwerke abhängig. Auch die Beschäftigten der nuklearen
„Entsorgungs-“Industrie werden nach einem Ausstieg ihre Arbeitsplätze be-
halten.

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Die im letzten Herbst beschlossene Verlängerung der AKW-Laufzeiten war
in der Gesamtbilanz ein Jobvernichtungsprogramm. Die Energiewende da-
gegen hat eine deutlich positive Arbeitsplatzbilanz. Das zeigen alle einschlä-
gigen Studien. Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, wie den Beschäftigten
in den Atomkraftwerken nach einer Stilllegung geholfen werden kann. Die
Anzahl der Arbeitsplatzverluste ist von der Stilllegungsvariante abhängig.
Mit Hilfe regionaler Wirtschaftspolitik müssen über die durch den Abbau von
Atomkraftwerken benötigten Arbeitskräfte hinaus Ersatzarbeitsplätze an den
Atomkraftwerksstandorten geschaffen werden. Das Internationale Institut für
Management – Fachgebiet Energie- und Ressourcenwirtschaft – der Univer-
sität Flensburg hat bereits im Jahr 2000 exemplarisch für die Atomkraft-
werksstandorte Stade (Alternative: Windanlagenbau), Biblis (Alternativen:
Bau von Gas-und-Dampf (GuD)-Kraftwerk, Solarzellenfabrik, Ausbau der
Arbeitsplätze beim führenden GuD-Hersteller in Mannheim) und Isar (Alter-
native: Produktionsstätte von Biomasseanlagen) alternative Beschäftigungs-
möglichkeiten aufgezeigt.

Die Branche der erneuerbaren Energien muss die Energiewende mit einer
veränderten Beschäftigungspolitik unterstützen. Tarifliche Entlohnung, ge-
werkschaftliche Rechte und gute Arbeit müssen selbstverständlich sein.
Öffentliche Gelder sind an die Einhaltung dieser Standards zu binden.

7. Der Atomausstieg muss ein Einstieg in eine andere Energiepolitik sein, kon-
sequent orientiert am Ziel einer erneuerbaren, aber auch demokratisierten
Stromversorgung. Einen wichtigen Beitrag dazu kann ein schneller Ausstieg
aus der Atomenergie leisten. Dann sind Stadtwerke, neue Stromanbieter und
die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Investitionen die Akteure der Ener-
giewende.

Die Überführung der Energienetze in die öffentliche Hand, die Entflechtung
der Konzerne, die Rekommunalisierung der Energieversorgung sowie die
Förderung von Energiegenossenschaften sind die geeignete Instrumente, die
Basis für eine Energieversorgung zu legen, die die Menschen nicht ver-
strahlt, das Klima nicht zerstört und Landschaften nicht in riesige Tagebaue
verwandelt.

Die Energiepolitik muss grundlegend demokratisiert werden. Alle Formen
der Energieerzeugung erfordern Infrastrukturprojekte, die mit Eingriffen in
die Umwelt und Lebensqualität der Menschen verbunden sind. Die Aufgabe
einer demokratisierten Energiepolitik ist es, diese Eingriffe möglichst ein-
vernehmlich und schonend durchzuführen sowie vermeidbare Eingriffe zu
unterlassen. Die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bevölkerung müssen
ausgeweitet werden. Schon vor Beginn der Planungsverfahren sind die Bür-
gerinnen und Bürger zu informieren und einzubeziehen. Der Wille der Bür-
gerinnen und Bürger und nicht der „shareholder value“ der Aktienbesitzer
von E.ON und RWE muss bei der Entscheidung über die zukünftige Ener-
gieversorgung im Vordergrund stehen.

Die demokratische Kontrolle muss jedoch über die Betriebsebene hinaus-
gehen. Der Umbau der Energieversorgung muss auf allen Ebenen (Bund,
Land, Kommune) von Beiräten begleitet werden, die aus Vertreterinnen und
Vertretern von Gewerkschaften, Umweltverbänden, Unternehmen, Verbrau-
cherschutzverbänden und öffentlichen Einrichtungen bestehen. Sie müssen
den Umbauprozess begleiten, die Verwendung der öffentlichen Mittel über-
wachen und Vorschläge für weitere Maßnahmen der Energiewende und der
regionalen Beschäftigungspolitik machen. Sie müssen den zuständigen Par-
lamenten sowie Regierungen berichten und ihnen gegenüber mit einem Vor-
schlagsrecht ausgestattet sein.

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