BT-Drucksache 17/6011

Rückführung der Gebeine von Opfern deutscher Kolonialverbrechen nach Namibia

Vom 30. Mai 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6011
17. Wahlperiode 30. 05. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Niema Movassat, Sevim Dag˘delen, Annette Groth, Heike
Hänsel, Andrej Hunko, Kathrin Vogler, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Rückführung der Gebeine von Opfern deutscher Kolonialverbrechen
nach Namibia

Zwischen 1904 und 1908 betrieben die Kolonialtruppen des deutschen Kaiser-
reichs in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Nami-
bia, einen „Vernichtungsfeldzug“ gegen die Völker der Herero und Nama/
Damara. Nach der nahezu einhelligen Meinung von Fachhistorikern handelte es
sich dabei um den ersten in deutschem Namen verübten Genozid. Seither ist die
Geschichte der Herero und Nama/Damara ein konstitutiver Teil der Geschichte
Namibias und Deutschlands. Unter unvorstellbaren Bedingungen wurden aus
deutschen „Konzentrationslagern“ in Namibia zahlreiche Schädel nach
Deutschland verbracht. So wurden Herero-Frauen dazu gezwungen, die abge-
trennten Köpfe ihrer ermordeten Männer vor der Verschiffung auszuwaschen
und die Haut mit Glasscherben abzukratzen (Ursula Trüper: „Gewalt ist meine
Politik“, Berliner Zeitung vom 21. Mai 2011).

2008 riefen Berichte über menschliche Schädel aus Namibia in deutschen
Sammlungen ein breites Medienecho in der Bundesrepublik Deutschland und
Namibia hervor. Bis zum heutigen Tag lagert in deutschen Hochschulen und
Museen eine unbestimmte größere Anzahl menschlicher Überreste aus den ehe-
maligen deutschen Kolonien. Diese wurden zu menschenverachtenden „rasse-
kundlichen“ Forschungszwecken häufig direkt von deutschen anthropologi-
schen Forschungseinrichtungen und Museen angefordert und auch nach 1945
noch zu Forschungszwecken missbraucht. Geraubt und geliefert wurden sie von
deutschen Kolonialbehörden. Damit warten sie bis heute auf eine würdevolle
Bestattung in ihren Herkunftsländern nach den Riten ihrer Angehörigen. Die
namibischen Opfergruppen drängen derzeit ihre Regierung, einen Dialogpro-
zess mit der deutschen Bundesregierung einzuleiten und im Rahmen der Re-
patriierung der menschlichen Überreste ihrer Vorfahren auf einer Verknüpfung
dieses Prozesses mit der Forderung nach materieller und moralischer Wieder-
gutmachung („restorative justice“) zu bestehen.

Die deutschen Bundesregierungen haben sich zwar seit 2004 zu einer „politi-
schen (bzw. ‚historischen‘) und moralischen Verantwortung Deutschlands für
die Vergangenheit und koloniale Schuld“ bekannt, diesem Bekenntnis jedoch

keinerlei substantielle Schritte folgen lassen. Bisher lehnen die Bundesrepublik
Deutschland als Rechtsnachfolgerin des deutschen Reichs sowie die Unter-
nehmen, die vom Vernichtungskrieg profitierten, wie die Deutsche Afrika-
Linien GmbH & Co. (DAL – Nachfolger der Woermann-Linie) und die Deut-
sche Bank AG, jede Form der Entschädigung ab.

Drucksache 17/6011 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung auf Anfrage der namibischen Re-
gierung „das Anliegen der Rückführung der Schädel in die Republik Namibia“
unterstützt und „bereit (ist), die Repatriierung der menschlichen Überreste nach
Namibia und eine würdige Übergabezeremonie (auch finanziell) zu unterstüt-
zen.“ (Bundestagsdrucksache 17/4350 vom 27. Dezember 2010 und Plenarpro-
tokoll 17/110 vom 25. Mai 2011). 20 Schädel sind seitens der Charité – Univer-
sitätsmedizin Berlin bereits hinsichtlich ihrer namibischen Herkunft eindeutig
identifiziert worden. Die Rückführung dieser Schädel war ursprünglich bis Ende
Mai 2011 geplant, ist aber nun von namibischer Seite verschoben worden. In
einem Artikel der „Namibian Sun“ vom 9. Mai 2011 zitiert diese einen nicht na-
mentlich genannten Mitarbeiter des Auswärtigen Amts mit den Worten: „Sollte
diese Repatriierung allerdings im Kontext von ‚Gräueltaten‘ (‚atrocities‘) gese-
hen werden, so würde es das Auswärtige Amt schwierig finden, den Prozess zu
finanzieren.“ In einer direkten Replik auf diese mutmaßliche Äußerung in Form
einer Pressemitteilung brachte der „Rat der Ovaherero/Ovambanderu für den
Dialog über den Genozid von 1904“ (OCD-1904) am 11. Mai 2011 zum Aus-
druck, dass ein solches einschränkendes Diktat der deutschen Bundesregierung
im Hinblick auf Äußerungen und Verhalten der namibischen Regierung und der
namibischen Delegation im Rahmen des Übergabeprozesses nicht toleriert
werden würde. Der Vorsitzende des „Ovaherero Genocide Committee“ (OGC)
Festus Muundjua wertete in einem Artikel der „Namibian Sun“ vom 13. Mai
2011 diese Äußerung dann auch als „absurde und unnötige Erpressung“.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit teilt die derzeitige Bundesregierung die Meinung der meisten
Fachhistoriker und der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung a. D., Heidemarie Wieczorek-Zeul, (SPIEGEL ONLINE:
„Deutschland entschuldigt sich für Kolonialverbrechen“, 15. August 2004),
dass das Vorgehen der deutschen Seite gegen die Herero und Nama/Damara
im damaligen Deutsch-Südwestafrika der völkerrechtlichen Definition von
Genozid durch die Völkerrechtskonvention entspricht?

2. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es ein problemati-
scher Euphemismus ist, wenn statt von Völkermord im ehemaligen Deutsch-
Südwestafrika lediglich von der „besonderen historischen Verantwortung“
gegenüber Namibia gesprochen wird, wie es in den Resolutionen des Deut-
schen Bundestages 1989 und 2004 sowie den offiziellen Bekundungen der
letzten Bundesregierungen getan wurde?

3. Inwieweit haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung seit ihrer Antwort
auf die Kleine Anfrage vom 26. März 2009 (Bundestagsdrucksache 16/12521)
Mitglieder der namibischen Regierung zustimmend zum Beschluss des nami-
bischen Parlaments zur Unterstützung von Reparationsforderungen der
Herero gegenüber der Bundesregierung geäußert bzw. inwieweit hat sich die
namibische Regierung inzwischen diesen Parlamentsbeschluss zu Eigen
gemacht und entsprechende Forderungen an die Bundesrepublik Deutsch-
land herangetragen?

4. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Einrichtung ei-
nes Fonds, in den seitens der Bundesregierung und deutscher Unternehmen,
die von den Kolonialverbrechen in Namibia profitierten, bedingungs- und ge-
genleistungsfrei eingezahlt würde und aus dem Infrastrukturmaßnahmen in
den Gebieten der zur Kolonialzeit am meisten betroffenen Bevölkerungs-
gruppen finanziert würden, eine sinnvolle Art der Kompensationsleistungen
wäre, um so die durch die Kolonialisierung geschaffenen und seither gesell-
schaftlich verankerten Benachteiligungen, die im postkolonialen Namibia

weiter bestehen, zugunsten der Nachkommen der damals Betroffenen zu
mindern?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6011

5. Inwiefern teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die von ihr geleis-
teten Zahlungen von Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit kein Ersatz
für Kompensationsleistungen für das an den Herero und Nama/Damara ver-
übte Unrecht sein können, da sie im Gegensatz zu diesen nicht ohne Bedin-
gungen, Gegenleistungen und ohne Anspruch auf die Beteiligung an der
Verfügung geleistet wird?

6. Wie wurde die 2007 zwischen der namibischen und deutschen Regierung
geschlossene Versöhnungsinitiative (Memorandum of Understanding on
the Special Namibian-German Initiative for Community-driven Develop-
ment Projects in Specific Regions) bisher umgesetzt, und wie wird die
Umsetzung derzeit fortgeführt (bitte genau aufschlüsseln nach Strategie
und Zielen, bisherigen und geplanten Programmen und Projekten, Kondi-
tionalisierungen, den bisher verausgabten und noch vorhandenen Finanz-
volumina, jeweiligem und insgesamtem zeitlichen Umfang und zeitlicher
Befristungen, den Zielgruppen und Evaluierungsergebnissen, bzw. der Hal-
tung der Zielgruppen zu der Versöhnungsinitiative, ihrer Umsetzung und
ihren Ergebnissen)?

7. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung ihrer Vorgängerregie-
rung dahingehend, dass auch ihr keine Fälle von ursprünglich aus ehemali-
gen Kolonialstaaten stammenden Kulturgütern in deutschen Museen
bekannt sind, deren Besitztitel fragwürdig wäre (s. Antwort der Bundes-
regierung auf die Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache 16/12521, zu
Frage 14)?

8. In welcher Höhe unterstützt die Bundesregierung die Rückführung der bis
zu diesem Tag hinsichtlich ihrer Herkunft eindeutig identifizierten Schädel
nach Namibia und die Gewährleistung einer würdigen Übergabezeremonie
(bitte in Euro angegeben) bzw. in welcher Höhe ist die Bundesregierung be-
reit, finanzielle Unterstützung bei der Rückführung zu leisten, nachdem sie
finanzielle Unterstützung in Aussicht gestellt hat (Antwort des Staatssekre-
tärs des Auswärtigen Amts Dr. Wolf-Ruthart Born vom 22. Dezember 2010
auf die Schriftliche Frage 9 des Abgeordneten Uwe Kekeritz – Bundestags-
drucksache 17/4350 – und des Staatsministers im Auswärtigen Amt
Dr. Werner Hoyer vom 25. Mai 2011 auf die Mündliche Frage 43 des Ab-
geordneten Niema Movassat – Plenarprotokoll 17/110 –)?

9. Inwieweit wird die Bundesregierung dem historisch gewichtigen Übergabe-
verfahren der Schädel nach Namibia im Sinne des in beiden Entschließun-
gen des Deutschen Bundestags von 1989 und 2004 sowie dem von den
letzten Bundesregierungen beschworenen Bekenntnis zur besonderen histo-
rischen und moralischen Verantwortung für Namibia auch dahingehend ge-
recht, dass die Bundeskanzlerin, der Bundespräsident und/oder der Bundes-
minister des Auswärtigen Amts der Übergabezeremonie beiwohnen und das
Wort ergreifen?

10. Ist vorgesehen, dass an der Übergabezeremonie auch die deutsche Zivil-
gesellschaft und diasporische Organisationen und/oder Individuen aus der
namibischen und/oder afrikanischen Diaspora teilnehmen können?

Wenn ja, werden diese der Zeremonie nur als Zuschauer oder auch als Red-
ner beteiligt?

Wenn nein, warum nicht?

11. Wird sich die Bundesregierung im Rahmen der Rückführungszeremonie zu
dem durch die deutsche „Schutztruppe“ verübten Völkermord in Namibia be-
kennen, wie es 2004 schon die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung a. D., Heidemarie Wieczorek- Zeul, tat?
Wenn nein, warum nicht?

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12. Wird sich die Bundesregierung für die Gründung einer Stiftung und/oder
eines Fonds aus Bundesmitteln und Mitteln der Rechtsnachfolgerinnen der
Unternehmen, die von der deutschen Kolonialisierung in besonderer Weise
profitiert haben, einsetzen, deren Zweck es ist, in Deutschland das histori-
sche Bewusstsein über die deutsche Kolonialvergangenheit zu stärken und
diesen bisher sehr wenig beleuchteten Teil der deutschen Geschichte aufzu-
arbeiten?

13. Treffen die Aussagen der Namibian Sun vom 9. Mai 2011 zu („Sollte diese
Repatriierung allerdings im Kontext von ‚Gräueltaten‘ – ‚atrocities‘ – gese-
hen werden, so würde es das Auswärtige Amt schwierig finden, den Prozess
zu finanzieren.“)?

a) Haben sich die Bundesregierung oder ihre Vertretung, wie von der
„Namibian Sun“ zitiert, geäußert?

b) Wurde auf die namibische Regierung in irgendeiner Weise Druck ausge-
übt, sich im Rahmen der Rückführung der Gebeine in irgendeiner be-
stimmten Art zu verhalten?

Wenn ja, welches Verhalten wurde angemahnt?

c) Inwieweit hätte es auf finanzielle Unterstützungsleistungen seitens des
Auswärtigen Amts Auswirkungen, wenn die Rückführung der Schädel
nach Namibia in den Kontext mit den an diesen Menschen begangenen
Gräueltaten seitens der damaligen deutschen „Schutztruppe“ gestellt
würde?

14. Gab es seitens der Bundesregierung und/oder deutschen Botschaft Äuße-
rungen, Bedenken bzw. Nachfragen bei der namibischen Regierung hin-
sichtlich Einflussnahme

a) auf die Terminierung der Rückführung und

b) auf die Zusammensetzung der Delegation, ihre Größe und damit gekop-
pelt auf ihre Finanzierung?

15. Welche Gründe waren für die Bundesregierung ausschlaggebend, dass der
Rückgabetermin für die Gebeine zur gleichen Zeit wie die bilateralen
Regierungsverhandlungen zur Entwicklungspolitik (23. und 24. Mai 2011)
stattfinden sollte?

16. Welches sind die Ergebnisse der Regierungsverhandlungen zur Entwick-
lungspolitik, die am 23. und 24. Mai 2011 in Bonn stattfanden (bitte auf-
schlüsseln nach Strategie, Sektorschwerpunkten, Schwerpunktregionen,
Zielgruppen, zugesagten Finanzvolumina und einer etwaigen Bezugnahme
auf die besondere historische und moralische Schuld Deutschlands gegen-
über Namibia)?

17. Wie gedenkt die Bundesregierung sicherzustellen, dass möglichst alle nach
Deutschland gebrachten menschlichen Überreste aus Namibia repatriiert
werden?

18. Hat die Bundesregierung finanzielle Unterstützung für den Identifizie-
rungsprozess der geraubten menschlichen Überreste, die in der Charité –
Universitätsmedizin Berlin und anderer deutscher Institutionen (z. B. das
Universitätsarchiv der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) lagern geleis-
tet, und wird sie die Rückführung weiterer menschlicher Überreste finan-
ziell unterstützen?

19. Welche Initiativen und Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um
herauszufinden, wo bzw. in welchen Museen in Deutschland aus dem dama-

ligen Deutsch-Südwestafrika und aus anderen ehemaligen deutschen Kolo-
nien nach Deutschland verbrachten menschlichen Überreste lagern?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/6011

20. Wie verläuft der Identifizierungsprozess der in deutschen Archiven lagern-
den Gebeine, und wie wird mit den daraus gewonnen Daten umgegangen?

a) Mit welchem Verfahren wird genau die Herkunft der Gebeine festge-
stellt?

b) Wie gedenkt die Bundesregierung sicherzustellen, dass die bei der Iden-
tifizierung von Gebeinen gewonnenen Daten nicht zweckentfremdet
verwendet werden (beispielsweise für weitere fragwürdige „wissen-
schaftliche“ Forschungsprojekte)?

c) Was geschieht mit den gewonnenen Daten?

Wie wird der Datenschutz gewährleistet?

d) Werden die gewonnenen Daten nach Abschluss des Identifizierungspro-
zesses vernichtet oder gemeinsam mit den Gebeinen ausgehändigt?

21. Wird die Bundesregierung, sollten Gebeine aus anderen Ländern als Nami-
bia identifiziert werden, Kontakt zu diesen Staaten aufnehmen und deren
Rückgabe anbieten?

22. Setzt sich die Bundesregierung für einen international, bzw. europäisch ab-
gestimmten Rückführungsprozess von geraubten menschlichen Überresten
aus ehemaligen Kolonien ein?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, wie hat die Bundesregierung vor, das Verfahren zu organisieren?

23. Wird sich die Bundesregierung für eine beschleunigte Ratifizierung der
UNIDROIT-Konvention der UNESCO von 1995 (Convention on Stolen or
Illegally Exported Cultural Objects), welche die Rückgabeverfahren genau
regelt, einsetzen und die deutschen Museen zu einer strengeren Einhaltung
des 2004 durch das International Council of Museums überarbeiteten
„Codes of Ethics for Museums“ anhalten?

Berlin, den 30. Mai 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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