BT-Drucksache 17/5905

zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet (Ratsdok. 14512/10; KOM(2010) 525) und zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte (Ratsdok. 14515/10; KOM(2010) 527) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes

Vom 25. Mai 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5905
17. Wahlperiode 25. 05. 2011

Antrag
der Abgeordneten Sahra Wagenknecht, Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll,
Dr. Diether Dehm, Dr. Axel Troost, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates
über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer
Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet (Ratsdok. 14512/10; KOM(2010) 525)

und

zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates
über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte
(Ratsdok. 14515/10; KOM(2010) 527)

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23
Absatz 3 des Grundgesetzes

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die makroökonomischen Ungleichgewichte der Eurozone offenbaren die feh-
lerhafte Architektur der Europäischen Währungsunion. Durch unterschiedliche
Lohn- und Produktivitätsentwicklungen läuft die Wettbewerbsfähigkeit zwi-
schen einigen Teilnehmerländern deutlich auseinander. Eine Korrektur durch
Auf- bzw. Abwertungen der nationalen Währungen ist in der Eurozone nicht
mehr möglich. Das führt in einigen Ländern zu Leistungsbilanzüberschüssen
und in anderen Ländern zum Anstieg der Auslandsverschuldung.

Deutschland hat in den letzten fünf Jahren knapp 600 Mrd. Euro an Leistungs-
bilanzüberschüssen gegenüber den anderen EU-Ländern erzielt. Durch die Leis-
tungsbilanzdefizite bei den Handelspartnern musste die dortige staatliche und
private Verschuldung zunehmen. Maßgeblich verantwortlich für diese Entwick-
lung war dafür das deutsche Lohn-, Steuer- und Sozialdumping durch die

Agenda 2010. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes und repressive Hartz-
Praktiken sorgten für Lohnabschlüsse unter den Preis- und Produktivitätssteige-
rungen. Die Löhne fielen nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation
(ILO) zwischen 2000 und 2009 um den Preisanstieg bereinigt um 4,5 Prozent
(Global Wage Report 2010/2011).

Drucksache 17/5905 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die unzureichende Lohnentwicklung in Deutschland ist nicht nur schlecht für
die anderen Länder der Eurozone, sondern schadet auch der deutschen Bevöl-
kerungsmehrheit und ist verantwortlich für die im europäischen Vergleich
schwache wirtschaftliche Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft seit Ein-
führung des Euro.

Die Bundesregierung leugnet den Beitrag der deutschen Wirtschaftspolitik zur
Eurokrise. Nun wird jedoch auf europäischer Ebene über einen Mechanismus
zur Korrektur und Vermeidung außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte verhan-
delt. Die Bundesregierung bevorzugt dabei einen asymmetrischen Ansatz, der
allein die Defizitländer zu Anpassungen zwingt. Die Agenda 2010, faktische
Rentenkürzungen sowie Schuldenbremsen nach dem deutschen Vorbild sollen
in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion verankert werden. Dieser
Ansatz nimmt die Bevölkerungsmehrheit in Haftung für die Wirtschafts- und
Finanzkrise. Außerdem ist er ökonomisch unsinnig, weil durch Kürzungspakete
der Aufschwung abgewürgt wird. Es können nicht alle EU-Mitgliedstaaten
gleichzeitig Exportüberschüsse erzielen, es sei denn zu Lasten anderer Wirt-
schaftsregionen außerhalb der EU. Dies würde die Problematik der außenwirt-
schaftlichen Ungleichgewichte nicht lösen, sondern in unverantwortlicher Art
und Weise auf die Weltwirtschaft verlagern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen,

1. dass makroökonomische Ungleichgewichte symmetrisch identifiziert, ver-
mieden und korrigiert werden – also nicht nur die Rolle der Defizite, sondern
auch die der entsprechenden Überschüsse beleuchtet wird;

2. dass die entsprechenden Korrekturmaßnahmen beim Auftreten makroökono-
mischer Ungleichgewichte verbindlich ausgelöst werden;

3. dass entsprechende Korrekturmaßnahmen ab einem Überschuss oder Defizit
in der Leistungsbilanz eines Landes in Höhe von 3 Prozent des jeweiligen
Bruttoinlandsprodukts greifen;

4. dass der „Blaue Brief“ gegenüber einem Land mit chronischen Leistungs-
bilanzüberschüssen die Aufforderung enthält, Vorschläge zu entwickeln, die
geeignet sind, die Binnennachfrage durch höhere Löhne – insbesondere einen
gesetzlichen Mindestlohn –, höhere öffentliche Investitionen und eine Aus-
weitung des Sozialstaats zu steigern;

5. dass im Rahmen einer europäischen Ausgleichsunion Strafzinsen auf akku-
mulierte Leistungsbilanzüberschüsse erhoben werden, um einen Struktur-
und Kohäsionsfonds zur Förderung eines produktivitätserhöhenden Struk-
turwandels in den Defizitländern zu finanzieren;

6. dass die Zahlungsfähigkeit aller Eurozonenteilnehmer sowohl durch die Um-
stellung der nationalen Kreditaufnahme auf Euroanleihen als auch durch die
Gewährung niedrig verzinster Kredite einer von den Eurostaaten zu gründen-
den Europäischen Bank für öffentliche Anleihen sichergestellt wird.
Die Banken und andere Gläubiger überschuldeter Staaten (z. B. Griechen-
land) – mit Ausnahme der Gläubiger für europäische Rettungspakete – müs-
sen durch eine Reduzierung ihrer Forderungen am Abbau der Staatsschulden
beteiligt und die durch die Entschuldung entstehenden Belastungen der
öffentlichen Haushalte, zum Beispiel aufgrund notwendiger Rekapitalisie-
rungen von Banken und Versicherungen, durch eine Heranziehung hoher
Vermögen in dem jeweiligen Land ausgeglichen werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5905

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

den oben genannten Verordnungen zur Korrektur makroökonomischer Ungleich-
gewichte im Ministerrat und Europäischen Rat nicht abschließend zuzustimmen,
wenn die in Abschnitt II genannten Forderungen nicht erfüllt werden können.

Berlin, den 25. Mai 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Ein Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte bzw. der Auslandsverschul-
dung von Volkswirtschaften des Euroraums kann nur ohne Beeinträchtigung der
wirtschaftlichen Entwicklung erfolgen, wenn Länder mit Leistungsbilanz-
überschüssen die Binnenwirtschaft stärken und mehr importieren. Das „Gesetz
zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ von 1967 wird
seit Jahrzehnten in Deutschland missachtet. Ein automatischer und sanktionsbe-
währter Mechanismus unter Wahrung der nationalstaatlichen Souveränität ist
daher geboten, um weitere Verwerfungen der Eurozone zu vermeiden und die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler vor umfangreichen Rettungspaketen zu be-
wahren.

Die „Europäische Bank für öffentliche Anleihen“ tritt, wie die Geschäftsbanken,
gegenüber der Europäischen Zentralbank (EZB) als direkter Geschäftspartner
auf, indem sie dort gegen Hinterlegung von Staatsanleihen frisches EZB-Geld
bekommt. Sie reicht das günstig verzinste EZB-Geld direkt, d. h. unter Umge-
hung des Geschäftsbankensektors, an die öffentliche Hand weiter. Die öffent-
liche Hand erhält damit die Möglichkeit der Geldaufnahme zu den gleichen
Konditionen, wie sie Geschäftsbanken haben. Die Europäische Bank für öffent-
liche Anleihen ist damit ein wichtiger Schritt, um die Abhängigkeit der Staats-
finanzen vom Wohlwollen privater Finanzmarktakteure zu reduzieren. Die
Spekulation mit Staatstiteln wird zugleich wirksam eingeschränkt.

Ein großer Vorteil einer solchen zwischengeschalteten Bank ist, dass sie kon-
form mit dem EU-Recht ist, d. h. es bedarf keiner langwierigen Verhandlungen
zwischen den Mitgliedstaaten zu dessen Änderung.

Inflationsgefahren sind bei dieser Lösung nicht gegeben. Obwohl eine demokra-
tische Kontrolle der EZB wünschenswert ist, bleibt die Unabhängigkeit der EZB
durch diese Art der Direktfinanzierung unberührt. Es obliegt damit weiterhin in
ihrem Ermessungsspielraum, eine restriktive Geldpolitik (Zinserhöhungen,
quantitative und qualitative Beschränkungen etc.) einzuschlagen. Diese betrifft
dann Geschäftsbanken und die Europäische Bank für öffentliche Anleihen glei-
chermaßen.

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