BT-Drucksache 17/59

UN-Kinderrechtskonvention umfassend umsetzen

Vom 25. November 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/59
17. Wahlperiode 25. 11. 2009

Antrag
der Abgeordneten Diana Golze, Ulla Jelpke, Jörn Wunderlich, Klaus Ernst,
Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Katja Kipping, Jutta Krellmann,
Cornelia Möhring, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

UN-Kinderrechtskonvention umfassend umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Wirksamkeit und Auswirkungen des ausländerrechtlichen Interpreta-
tionsvorbehalts der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen über
die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) sind rechtlich und poli-
tisch umstritten. In der Rechtsliteratur wird mehrheitlich bereits die Zulässig-
keit der Vorbehaltserklärung angezweifelt. Unterschiede zwischen Inländern
und Ausländern bei der Gewährung von Kinderrechten machen zu wollen,
verstößt gegen Kerninhalte der Konvention.

2. Die Konvention verlangt eine vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls
bei allen staatlichen Maßnahmen, unabhängig von Herkunft und Status des
Kindes. Das deutsche Aufenthalts-, Asylbewerberleistungs- und Asylverfah-
rensrecht entspricht dem, insbesondere beim Umgang mit Flüchtlingskin-
dern, nicht.

3. Um die Lage insbesondere von Flüchtlingskindern in Deutschland konkret
und schnellstmöglich zu verbessern, muss das nationale Recht durch einfach-
gesetzliche Änderungen den Anforderungen der UN-Kinderrechtskonvention
angepasst werden – unabhängig von der seit Jahren umstrittenen Frage einer
Rücknahme der Vorbehaltserklärung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich gegenüber den Bundesländern weiterhin für eine Zustimmung zur Rück-
nahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention einzusetzen;

2. davon unabhängig auf eine Anpassung der Landesgesetze an die Erforder-
nisse der Konvention zu drängen und mit den Bundesländern ein gemein-
sames Vorgehen hinsichtlich der überwiegend in Landeskompetenz liegenden
Themenbereiche anzustreben, unter anderem, um den Schulbesuch aller in
Deutschland lebenden Kinder unabhängig vom Aufenthaltsstatus zu ermög-
lichen und um eine einheitliche und kindgerechte Umsetzung des § 42 des

Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) zu erreichen (Vorrang jugend-
hilferechtlicher vor aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen, Clearing-Verfahren
usw.);

3. sofort alle notwendigen gesetzgeberischen Initiativen zur Anpassung der
asyl-, asylbewerberleistungs- und aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen an

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die Erfordernisse der UN-Kinderrechtskonvention zu ergreifen, zum Bei-
spiel:

– ausdrückliche Verankerung der vorrangigen Berücksichtigung des Kindes-
wohls im Asylverfahrens-, Asylbewerberleistungs- und Aufenthaltsge-
setz;

– Abschaffung der asyl- und aufenthaltsrechtlichen so genannten Verfah-
rensmündigkeit bereits ab 16 Jahren, sorgfältige und kindgerechte Alters-
feststellungen unter Verzicht auf zweifelhafte Röntgenuntersuchungen;

– effektive Berücksichtigung kinderspezifischer Verfolgungsgründe im
Asylverfahren und Anhörung von Flüchtlingskindern bis 18 Jahre nur
durch besonders geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundes-
amtes für Migration und Flüchtlinge und in Anwesenheit der Vormünder;

– Verbot der Inhaftierung minderjähriger Flüchtlinge im Abschiebungs- und
Zurückweisungsverfahren, Verzicht auf Flughafenverfahren und direkte
Grenzabweisungen, damit Clearingverfahren bei unbegleiteten minderjäh-
rigen Asylsuchenden durchgeführt werden können; Verbot der Abschie-
bung minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge;

– keine Zuweisung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und
Familien mit Kindern in Massenunterkünfte; Sicherstellung einer kindge-
rechten Unterbringung und optimalen sozialen und medizinischen Versor-
gung von Flüchtlingskindern, d. h. nicht nach den diskriminierenden Be-
stimmungen des Asylbewerberleistungsgesetzes.

4. sich in den Gremien der Europäischen Union für eine dem Sinn und Zweck
der UN-Kinderrechtskonvention dienende Politik einzusetzen; insbesondere
durchzusetzen, dass Minderjährige nicht an den Außengrenzen der EU oder
auf Hoher See abgewiesen oder inhaftiert werden, wie es z. B. bei Einsätzen
der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX geschieht.

Berlin, den 25. November 2009

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Den staatlichen Umgang mit Flüchtlingskindern in Deutschland bestimmt nach
wie vor nicht die Sorge um die bestmöglichen Entwicklungschancen der Kinder,
sondern ein von Misstrauen geprägtes nationalstaatliches Abwehrdenken mit
dem Ziel, unerwünschte Einwanderung und Zuflucht möglichst effektiv zu ver-
hindern. Die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls ist in keinem der
asyl- oder aufenthaltsrechtlich relevanten Gesetze ausdrücklich verankert, so
dass Flüchtlingskinder – auch unbegleitete – häufig denselben restriktiven Be-
stimmungen unterliegen wie erwachsene Flüchtlinge.

Problematisch ist insbesondere, dass Kinder im deutschen Asyl- und Aufent-
haltsrecht bereits ab 16 Jahren als „verfahrensmündig“ gelten und deshalb
formalrechtlich wie Erwachsene behandelt werden – was eine Überforderung der
Kinder darstellt und im deutschen Rechtssystem einmalig sein dürfte. Damit sind
Kinder einem Asylverfahrensrecht ausgesetzt, dem es tendenziell nicht um die
Suche nach einer möglichst sorgfältigen, sondern vor allem schnellen Entschei-
dung geht. Asylsuchende Kinder werden wie Erwachsene im Interesse einer

reibungslosen Durchsetzung einer möglichen späteren Abschiebung in ihrer

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/59

Freiheit eingeschränkt oder sogar ihrer Freiheit beraubt (Flughafenverfahren, In-
haftierungen zur Feststellung des zuständigen EU-Staates, Abschiebungshaft,
Residenzpflicht). Ihre Lebens- und Unterbringungsbedingungen sind von einer
Politik der Abschreckung geprägt, d. h. diese sind bewusst so ausgestaltet, dass
sie keinen „Anreiz“ zur Einreise bieten sollen (Zwangsunterbringung in Massen-
unterkünften, gekürzte Sozialhilfesätze, Sachleistungsprinzip, eingeschränkte
medizinische Versorgung usw.). In die körperliche Unversehrtheit von Kindern
wird zur Feststellung ihres Alters mittels umstrittener Röntgenuntersuchungen
eingegriffen, weil deren Altersangaben regelmäßig infrage gestellt werden.

Es ist offenkundig, dass diese Prinzipien der bundesdeutschen Asylpolitik nicht
mit dem Grundanliegen oder auch einzelnen Bestimmungen der UN-Kinder-
rechtskonvention vereinbar sind. Betroffen sind etwa die Artikel 2 (keine Dis-
kriminierung von Teilgruppen), 3 (Vorrang des Kindeswohls), 24 (Recht des
Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit) und 27 (Recht auf ange-
messenen Lebensstandard). Regelungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht, die die-
sen Regelungen widersprechen, müssen geändert werden. Dies gilt auch vor dem
Hintergrund entsprechender Bestimmungen zur vorrangigen Beachtung des Kin-
deswohls in den asylrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union. Ebenfalls
notwendig ist eine entsprechende Umsetzung der Regelung des § 42 SGB VIII,
um einen Vorrang jugendhilferechtlicher vor aufenthaltsrechtlichen Bestimmun-
gen zu erreichen. Bei minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen müssen sofort
die Jugendämter eingeschaltet werden, ländereinheitlich ist die Unterbringung in
Jugendhilfeeinrichtungen statt in Massenunterkünften sicherzustellen. Sorg-
fältige Clearingverfahren müssen am Anfang eines behördlichen Verfahrens
stehen, eine regelmäßige psychotherapeutische Erstbetreuung vorzusehen, Ein-
zel- und Vereinsvormundschaften sind gegenüber Amtsvormundschaften ein-
deutig zu fördern.

Der jahrelange, festgefahrene politische Streit um die Rücknahme der bundes-
deutschen Vorbehaltserklärung lenkt davon ab, dass – einen entsprechenden
politischen Willen vorausgesetzt – die notwendigen gesetzlichen Änderungen
hiervon unabhängig jederzeit vorgenommen werden könnten. Die aufenthalts-
rechtliche Vorbehaltserklärung IV von 1992 hat einen lediglich interpretato-
rischen Charakter. Sie steht zunächst auch nicht im Widerspruch zur UN-Kinder-
rechtskonvention, sofern darin lediglich auf das grundsätzliche Recht der Natio-
nalstaaten, über Einreise und Aufenthalt zu bestimmen, hingewiesen wird. Die
Erklärung steht jedoch im Widerspruch zu Grundprinzipien der UN-Kinder-
rechtskonvention, sofern sich die Bundesrepublik Deutschland damit vorbehal-
ten wollte, Unterschiede bei der Anwendung der in der UN-Kinderrechtskonven-
tion kodifizierten Rechte zwischen in- und ausländischen Kindern zu machen.
Ein solcher Vorbehalt, „der gegen das Herzstück des menschenrechtlichen
Schutzsystems“ und diametral gegen die Zielsetzung der UN-Kinderrechtskon-
vention gerichtet ist, fällt nach Ansicht von Prof. Dr. Christian Tomuschat unter
Artikel 19 Buchstabe c des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge
und ist damit unwirksam (vgl. dessen Stellungnahme vom 2. Januar 2004: „Die
Vorbehalte der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen über die
Rechte des Kindes“; vgl. auch Artikel 51 Absatz 2 der UN-Kinderrechtskonven-
tion).

Der Deutsche Bundestag, die Kinderkommission des Bundestages, der UN-Aus-
schuss für die Rechte des Kindes, zahlreiche Nichtregierungs- und Kinderrechts-
organisationen und auch die Bundesregierung haben sich mehrfach vergeblich
für eine Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung ausgesprochen. Unbe-
stritten wäre die positive symbolische Wirkung eines solchen Schrittes. Eine
Mehrheit der Bundesländer lehnt dies jedoch ab, weil dies zu „Fehlinterpretatio-
nen“, „falschen Erwartungen“ und „Rechtsunsicherheiten bei der Anwendung

des nationalen Aufenthalts- und Asylrechts nach einer Rücknahme der Vorbe-
haltserklärung“ führen würde (vgl. Bundestagsdrucksache 16/6076, Frage 4).

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Die Bundesregierung vertritt den Standpunkt, dass die Erklärung ohnehin nur ei-
nen deklaratorischen Charakter habe und „Änderungen von Bundes- oder Lan-
desrecht“ infolge einer Rücknahme „nicht zu veranlassen“ wären (vgl. ebd.,
Frage 8), weil „das deutsche Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht in vollem
Umfang den Vorgaben der VN-Kinderrechtskonvention“ entspreche (ebd., Frage
10).

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