BT-Drucksache 17/541

Mehr Jugendlichen bessere Ausbildungschancen geben - DualPlus unverzüglich umsetzen

Vom 27. Januar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/541
17. Wahlperiode 27. 01. 2010

Antrag
der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Brigitte Pothmer, Kai Gehring,
Sylvia Kotting-Uhl, Krista Sager, Ekin Deligöz, Katja Dörner, Agnes Krumwiede,
Monika Lazar, Tabea Rößner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehr Jugendlichen bessere Ausbildungschancen geben – DualPlus unverzüglich
umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Auch im Jahr 2009 haben viele Jugendliche und junge Erwachsene trotz inten-
siver Suche keinen Ausbildungsplatz gefunden. Rund 300 000 junge Menschen
werden ein weiteres Jahr in Warteschleifen verbringen. Ein vergeudetes Jahr, in
dem sie eher Qualifikationen verlieren als neue hinzu gewinnen. Die Zahl der
abgeschlossenen Ausbildungsverträge hat sich im Jahr 2009 deutlich verrin-
gert: Bundesweit wurden bis zum 30. September 2009 566 004 Ausbildungs-
verträge abgeschlossen; das sind 8,2 Prozent weniger als im Vorjahr.

Besonders alarmierend ist die Lage im Osten. Während es im Westen ein Minus
von 7,1 Prozent gab, wurden im Osten 13 Prozent weniger Ausbildungsver-
träge abgeschlossen. Gerade hier, wo es insbesondere um die Zukunftsfähigkeit
der Wirtschaft und um die Attraktivität des Lebensumfeldes für junge Men-
schen gehen muss, gibt es noch nicht einmal so viele Ausbildungsplätze wie
Bewerber. Die Abwanderung junger Menschen aus ganzen Regionen ist damit
programmiert.

Der Grund für den Rückgang lässt sich leicht finden: Dass Betriebe in Zeiten
der Wirtschaftskrise weniger Auszubildende einstellen, macht erneut deutlich,
dass unser Ausbildungssystem zu sehr konjunkturabhängig ist, was zu Lasten
der Jugendlichen geht. Auch die Vorhersagen für 2010 lassen ebenfalls keine
Hoffnung aufkommen: Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) rechnet
mit einem weiteren Rückgang der Ausbildungsverträge um 50 000.

Die Bundesregierung hat es versäumt, das Ausbildungssystem an die veränder-
ten Anforderungen anzupassen und grundlegend zu reformieren. Stattdessen
hat sie sich auf der guten Konjunkturentwicklung der letzten Jahre ausgeruht.
Das rächt sich nun bitter.

Denn selbst wenn die Zahl der Schulabgänger/-innen zurückgeht, werden die
demographischen Veränderungen das Problem fehlender Ausbildungsplätze

auch in Zukunft nicht lösen. Gerade weil wir es mit einer immer älter werden-
den Gesellschaft und einem Rückgang von Schulabgängern/-abgängerinnen zu
tun haben, müssen alle Jugendlichen nach der Schule in einem anerkannten
Ausbildungsberuf ausgebildet werden; und das auf einem qualitativ hohen
Niveau. Der Fachkräftemangel wird sich sonst weiter verschärfen. Hier muss
vor allem die Ausbildungssituation für Jugendliche mit Migrationshintergrund
noch deutlich verbessert werden. Nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stif-

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tung aus dem Jahr 2009 haben ein Jahr nach einem mittleren Schulabschluss
74 Prozent der Jugendlichen ohne, aber nur 55 Prozent der Jugendlichen mit
Migrationshintergrund eine vollqualifizierende Ausbildung begonnen. Drei
Jahre nach einem mittleren Schulabschluss ist der Unterschied mit 91 Prozent
gegenüber 79 Prozent noch immer gravierend.

Da laut Datenbericht zum Berufsbildungsbericht 2009 des BIBB viele junge
Menschen nach dem ersten Schulabschluss mangels Aussicht auf einen Ausbil-
dungsplatz weiter zur Schule gehen und in den nächsten Jahren zusammen mit
den doppelten Abiturjahrgängen auf den Arbeits- und Ausbildungsmarkt stoßen
werden, werden sich die Probleme verschärfen. Auch hier wurde von Seiten der
Bundesregierung bisher keine Vorsorge getroffen.

Der im Rahmen der Qualifizierungsinitiative im Sommer 2008 von der Bun-
desregierung eingeführte Ausbildungsbonus für Altbewerber/-innen hat eben-
falls nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Mit 29 663 bewilligten Anträgen
bis Dezember 2009 sind nur knapp die Hälfte der anvisierten zusätzlichen Aus-
bildungsstellen von den Betrieben geschaffen worden. Damit ist es illusorisch,
wenn die Bundesregierung weiter daran festhält, bis 2010 100 000 zusätzliche
Ausbildungsplätze durch dieses System zu erreichen. Der Ausbildungsbonus ist
viel zu teuer und verursacht hohe Mitnahmeeffekte.

Die Bundesregierung hat auch den Bildungsgipfel im Dezember 2009 unge-
nutzt verstreichen lassen. In ihrem ureigensten Kompetenzfeld, der beruflichen
Bildung, kündigt Bundesministerin Dr. Annette Schavan nun seit mehr als vier
Jahren Reformen an. Ihren Worten sind bisher allerdings kaum Taten gefolgt.
Es reicht nicht aus, auf Ausbildungsbausteine in bestimmten Bereichen zu ver-
weisen oder den Nationalen Ausbildungspakt als Lösung aller Probleme zu fei-
ern. Die Bundesregierung muss endlich das Ausbildungssystem konsequent re-
formieren, damit dieses unabhängiger von der jeweiligen Konjunkturlage wird.
Mit DualPlus hat die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon in der letz-
ten Legislatur ein solches Konzept vorgelegt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. dass neue überbetriebliche Ausbildungsstätten (ÜBS) als Träger der Ausbil-
dung aufgebaut und die bereits bestehenden ÜBS neu ausgerichtet werden. Im
System DualPlus bieten die ÜBS zusätzliche Ausbildungsplätze nach dem
dualen Prinzip an. Darin sind hohe betriebliche Anteile einbezogen. ÜBS
werden gemeinsam von Berufsschulen und Kammern organisiert und von den
Kammern, den Ländern, der Bundesagentur für Arbeit und dem Bund finan-
ziert. Die ÜBS wird damit neben Berufsschule und Betrieb zu einem dritten
regelmäßigen Lernort. Die Funktion einer ÜBS kann auch von gut ausgestat-
teten Berufsschulen oder anderen geeigneten Trägern übernommen werden;

2. dass die Kammern bei Betrieben im nötigen Umfang betriebliche Module ein-
werben und den ÜBS zur Verfügung stellen müssen. Derzeit bildet nur etwa
ein Viertel aller Betriebe aus. Dies kann durch die Lernortkombination bei
DualPlus verbessert werden, da Unternehmen ohne Ausbildungstradition,
kleinere Betriebe oder sehr spezialisierte Betriebe nicht die Verantwortung für
eine komplette Ausbildung übernehmen müssen. Sie können vielmehr auch
einzelne betriebliche Module anbieten;

3. dass auch die Berufsschulen flächendeckend besser ausgestattet werden. Ein
Ausbildungsreport des Deutschen Gewerkschaftsbundes hat 2009 gezeigt,
dass gerade im industriellen Bereich viele Berufsschulen nicht mehr mit der
technologischen Entwicklung in den Betrieben mithalten können. Dazu
kommt, dass ihnen die Lehrerinnen und Lehrer ausgehen. Hier muss der Bil-

dungsgipfel konkrete Verbesserungen durch Vereinbarungen zwischen Bund
und Ländern bringen;

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4. dass die gesamte Berufsausbildung neu strukturiert und in bundesweit aner-
kannten Modulen organisiert wird. Damit werden eine Anerkennung und An-
rechnung von Ausbildungsteilschritten sichergestellt, das Bildungssystem
wird durchlässiger. Die Ausbildungsdauer muss zukünftig flexibler gestaltet
werden. Prüfungen am Ende der Ausbildungsmodule werden gemeinsam von
Berufsschule, ÜBS und Betrieb durchgeführt. Um weiterhin den ganzheit-
lichen Ansatz der Berufsausbildung (Berufsprinzip) zu verfolgen, steht am
Ende der Ausbildung eine zentrale Abschlussprüfung, die wie bisher von den
Kammern bzw. zuständigen Stellen durchgeführt wird;

5. dass bestehende Maßnahmen des Übergangssystems in DualPlus eingeglie-
dert werden. Die bisherigen berufsvorbereitenden Maßnahmen von den Län-
dern und der Bundesanstalt für Arbeit im Übergangssystem werden in Dual-
Plus integriert und als eigenständige Maßnahmen abgeschafft. Somit bleibt
kein Qualifizierungsschritt mehr ohne Abschluss, Anerkennung und Anrech-
nung;

6. dass die Reform des Berufsbildungsgesetzes zur Anerkennung voll-
schulischer Ausbildungen durch Kammerabschluss entfristet wird. Diese
Möglichkeit der Aufwertung von vollzeitschulischen Ausbildungsgängen
muss über August 2011 hinaus gelten;

7. dass für Schulabbrecher Produktionsschulen eingerichtet werden, an denen
sie einen Schulabschluss nachholen können und der Einstieg in eine Berufs-
ausbildung ermöglicht wird;

8. dass durch die Stärkung der ÜBS die individuelle Förderung von Auszubil-
denden erleichtert wird. Für Leistungsschwächere soll eine zusätzliche Förde-
rung erfolgen. Sie sollen von den ÜBS beraten und begleitet werden und nicht
weniger, sondern mehr Lernzeit bekommen. Dadurch haben sie bei Bedarf
mehr Zeit, um die Module abzulegen, oder können zwischen zwei Modulen
einen passgenauen Förderkurs absolvieren. Für leistungsstarke Auszubil-
dende sollen zusätzlich allgemeinbildende Module angeboten werden, die
auch zur Fachhochschulreife führen können. Damit wird der Übergang von
der beruflichen zur akademischen Bildung verbessert;

9. dass die Finanzierung für die Ausbildung nach dem System DualPlus sicher-
gestellt ist. Dafür können die Mittel, die derzeit ins Übergangssystem fließen,
verwendet werden. Zusätzlich sollten die für den Ausbildungsbonus vorgese-
hen Gelder eingesetzt werden.

Berlin, den 27. Januar 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Das Ausbildungsangebot der Betriebe geht zurück, insgesamt bildet in Deutsch-
land nur noch ein Viertel der Unternehmen aus. Die aktuelle Wirtschaftskrise
verschärft dieses Problem noch weiter. Inzwischen erhalten 40 Prozent der Be-
werberinnen und Bewerber nach der Schule keinen Ausbildungsplatz, sie be-
kommen nur mehr oder minder gute Angebote zur Berufsvorbereitung. Die
Gruppe der Altbewerberinnen und -bewerber umfasst immer noch ca. 250 000
Jugendliche und die Übergangsangebote entpuppen sich häufig als nutzlose
Warteschleifen, weil die dort erworbenen Kompetenzen von Betrieben nicht an-

erkannt werden bzw. nicht auf eine Ausbildung anrechenbar sind. Viele Jugend-

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liche durchlaufen mehrere Übergangsmaßnahmen hintereinander. Dieses ineffi-
ziente System kostet jährlich 3 bis 4 Mrd. Euro. Die Gesellschaft verliert so ein
enormes Potenzial, das in Zukunft am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft fehlen
wird. Wer den Einstieg in die Ausbildung nicht schafft, wird später mit hoher
Wahrscheinlichkeit von Sozialtransfers abhängig. Wird der Übergang von der
Schule in das Berufsleben nicht deutlich besser, werden Generationen von
Schulabgängerinnen und -abgängern die Chancen auf Bildung und Eigenverant-
wortung vorenthalten, die jeder Einzelne und die Gesellschaft als Ganzes für
eine gute Zukunft brauchen.

Um in Zukunft das Recht auf Ausbildung für jeden Jugendlichen, der dies
wünscht, auch tatsächlich umzusetzen, muss die duale Berufsausbildung neben
einer gleichwertigen vollschulischen Ausbildung durch das System DualPlus
ergänzt werden. Bei DualPlus lernen Auszubildende in Berufsschule, ÜBS und
Betrieb nach dem dualen Prinzip. Der Vorteil ist, dass spezialisierte Betriebe
und kleine Unternehmen ohne Ausbildungstradition einbezogen werden kön-
nen. Denn sie müssen nicht die Verantwortung für eine komplette Ausbildung
übernehmen, sondern können auch einzelne Module anbieten.

Grundsätzlich sinnvoll ist eine Neustrukturierung der gesamten Berufsausbil-
dung über bundesweit anerkannte Bausteine. Die Wahrung des Berufsprinzips
bleibt durch die Inhalte der Module und die Kammerabschlussprüfung erhalten.
Durch Modularisierung werden Teilschritte der Ausbildung besser anerkannt
und angerechnet. Das Bildungssystem wird durchlässiger. Wichtig ist, dass
kein Ausbildungs- und Qualifizierungsschritt ohne Anrechnung bleibt. Den
vielen Schulabbrechern soll zukünftig über Produktionsschulen ermöglicht
werden, einen Schulabschluss nachzuholen und den Einstieg in die Berufsaus-
bildung zu schaffen. Darüber hinaus soll es zusätzliche Module für leistungs-
starke Jugendliche geben, die beispielsweise zum Erwerb der Hochschulreife
mit Ausbildungsabschluss führen. Als ergänzende Maßnahme soll eine früh-
zeitige Berufswahlorientierung eingeführt werden.

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