BT-Drucksache 17/5222

Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei

Vom 22. März 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5222
17. Wahlperiode 22. 03. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katrin Werner, Sevim Dag˘delen, Jan van Aken, Dr. Diether
Dehm, Andrej Hunko, Stefan Liebich, Niema Movassat, Paul Schäfer (Köln),
Kathrin Vogler und der Fraktion DIE LINKE.

Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei

In der Türkei herrscht für alle Männer ab dem 20. Lebensjahr eine allgemeine
Wehrdienstpflicht. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird bislang nicht
anerkannt und eine zivile Alternative zum Militärdienst existiert nicht. Der
Wehrdienstpflicht unterliegen selbst im Ausland lebende oder dort geborene tür-
kische Staatsbürger, die sich allerdings gegen Ableistung eines erheblichen
Geldbetrages „freikaufen“ können. Zusätzlich zu diesem „Bedelli Askerlik“ ist
ein symbolischer dreiwöchiger Militärdienst in der Türkei abzuleisten (vgl.
Bundestagsdrucksache 16/13749).

Kriegsdienstverweigerer müssen in der Türkei regelmäßig mit Anklagen und
Verurteilung bis zu drei Jahren Haft rechnen, die üblicherweise in Militärgefäng-
nissen zu verbüßen sind. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty Interna-
tional kritisieren, dass sie dort häufig nach einem wiederkehrenden Muster miss-
handelt würden (vgl. Amnesty International, Länderreport Türkei 2010). Hinzu
kommt, dass nach Ablauf der Haftstrafen oft sofort neue Einberufungsbefehle
ausgestellt werden, sodass sich die Prozeduren mehrmals wiederholen können.

Exemplarisch dafür stehen die Fälle der beiden Kriegsdienstverweigerer Inan
Süver und Halil Savda. Inan Süver wurde seit 2001 mindestens dreimal der
„Fahnenflucht“ schuldig gesprochen und sitzt derzeit noch eine Haftstrafe ab.
Halil Savda verweigerte den Kriegsdienst aus Gewissensgründen. Obgleich er
zwischenzeitlich offiziell als „militäruntauglich“ befunden wurde, laufen gegen
ihn zwei Anklagen wegen öffentlicher Unterstützung für andere Kriegsdienst-
verweigerer. Die Anklagen beziehen sich auf Artikel 318 des türkischen Straf-
gesetzbuchs, der Aktivitäten zur „Entfremdung der Öffentlichkeit vom Militär-
dienst“ unter Strafe stellt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Fall des in Deutschland
geborenen Kriegsdienstverweigerers Osman Murat Ülke in seinem Urteil vom
24. Januar 2006 (Ülke vs. Turkey) festgestellt, dass die wiederholte Strafverfol-
gung eines Kriegsdienstverweigerers aus Gewissensgründen einen Verstoß ge-
gen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt. Osman
Murat Ülke wurde zuvor von der türkischen Justiz allein im Zeitraum zwischen
1997 und 1998 insgesamt achtmal wegen anhaltender Befehlsverweigerung ver-

urteilt, weil er keine militärische Uniform anziehen wollte. Das Ministerkomitee
des Europarates hat zuletzt in seinem Entschluss Nr. 5 vom 4. Juni 2010 (CM/
Del/Dec(2010)1086/5) die türkischen Behörden aufgefordert, die sich aus dem
o. g. Urteil ergebenden, gesetzgeberischen Konsequenzen zur Behebung der
festgestellten Menschenrechtsverletzungen des Klägers nunmehr ohne weitere
Verzögerungen umzusetzen.

Drucksache 17/5222 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Auch die UN-Menschenrechtskommission hat in ihrer Resolution 1998/77
bekräftigt, dass sich das Recht auf Militärdienstverweigerung aus Artikel 18
(Recht auf Religions-, Gewissens- und Gedankenfreiheit) des Internationalen
Pakts über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) ableitet. Demnach
soll insbesondere niemand wegen einer Verweigerung des Militärdienstes aus
Gewissensgründen einer Freiheitsentziehung und wiederholter Bestrafung un-
terworfen werden. Als Ratifizierungsstaat des UN-Zivilpakts ist die Türkei
entsprechende vertragsvölkerrechtliche Verpflichtungen eingegangen. In Mili-
tärhaft befindliche Wehrdienstverweigerer könnten demnach als gewaltlose
politische Gefangene betrachtet werden.

Im Zuge der aktuellen EU-Beitrittsverhandlungen wird von der Türkei die Er-
füllung der Kopenhagener Kriterien verlangt. Hierfür sind umfangreiche
Rechtsanpassungen an EU-Standards notwendig, die auch das Thema Kriegs-
dienstverweigerung betreffen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welchen Stellenwert räumt die Bundesregierung dem Thema Kriegsdienst-
verweigerung in den laufenden EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
ein, und wie hat sich nach Einschätzung der Bundesregierung die menschen-
rechtliche Situation von Kriegsdienstverweigerern in der Türkei seit Auf-
nahme der Beitrittsgespräche entwickelt?

2. Welche Kenntnisse besitzt die Bundesregierung über die Zahl und die huma-
nitären und menschenrechtlichen Haftbedingungen von Kriegsdienstverwei-
gerern in der Türkei, die aus politischen- und/oder Gewissensgründen zu
Haftstrafen verurteilt wurden?

3. Wie viele der aus politischen- und/oder Gewissensgründen in der Türkei in-
haftierten Kriegsdienstverweigerer verfügten hierbei nach Kenntnis der Bun-
desregierung bis zu ihrer Ausreise in die Türkei über familiäre Beziehungen
und einen regulären Aufenthaltstitel in Deutschland?

4. Inwieweit und auf welcher Rechtsgrundlage erfolgt derzeit eine Kooperation
zwischen deutschen und türkischen Behörden zum Zweck der Ausreise wehr-
dienstpflichtiger türkischer Staatsbürger, beispielsweise durch Nichtverlän-
gerung ihrer Aufenthaltstitel in Deutschland?

5. Welche Möglichkeiten bietet hierbei nach Einschätzung der Bundesregierung
das zwischen der Europäischen Union und der Türkei ausgehandelte Rück-
übernahmeabkommen, um türkische Staatsbürger in die Türkei abzuschieben,
welche dort mit einer Verurteilung zu rechnen haben, weil sie den Kriegs-
dienst aus Gewissensgründen verweigern?

6. Wie viele der gegenwärtig ca. 9 300 „ausreisepflichtigen“ türkischen Staats-
angehörigen in Deutschland (vgl. Bundestagsdrucksache 17/5010) begründen
nach Kenntnis der Bundesregierung ihren Verbleib in der Bundesrepublik
Deutschland mit dem Wunsch, den Kriegsdienst in der Türkei aus Gewissens-
gründen ablehnen zu wollen bzw. damit, dass ihnen im Fall einer Abschie-
bung in die Türkei eine Anklage nach Artikel 318 des türkischen Strafgesetz-
buchs („Entfremdung der Öffentlichkeit vom Militärdienst“) drohen würde?

7. In wie vielen Fällen wurden seit 2005 nach Kenntnis der Bundesregierung
Anklagen nach Artikel 318 des türkischen Strafgesetzbuchs erhoben, und in
wie vielen Fällen hat dies zu Verurteilungen mit Haftstrafen geführt?

8. Über welche Kenntnisse verfügt die Bundesregierung insbesondere hinsicht-
lich des Vorkommens von Folter und/oder anderen Formen grausamer, un-
menschlicher oder erniedrigender Behandlung von Kriegsdienstverweige-

rern in türkischen Militärgefängnissen?

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9. Welche konkreten Maßnahmen müsste die Türkei nach Einschätzung der
Bundesregierung im Bereich ihres militärischen Strafvollzugssystems durch-
führen, um die EU-Beitrittskriterien vollständig zu erfüllen?

10. Wie beurteilt die Bundesregierung die Konformität von Artikel 318 des tür-
kischen Strafgesetzbuchs mit der Europäischen Menschenrechtskonvention
und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte sowie mit dem UN-Zivilpakt, und welche Schlussfolgerungen zieht
sie hieraus in Gesprächen mit der türkischen Regierung?

11. Inwieweit hat die Bundesregierung auf bilateraler Ebene und im Zusam-
menhang mit den EU-Beitrittsverhandlungen die Türkei dazu aufgerufen,
das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im türkischen Recht zu verankern
bzw. einen zivilen Ersatzdienst einzuführen?

12. Welche Bedeutung besitzt nach Einschätzung der Bundesregierung die Auf-
rechterhaltung einer glaubwürdigen und zielorientierten EU-Beitrittsper-
spektive für innenpolitische Fortschritte in der Türkei bei Demokratie und
Menschenrechten, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung
hieraus für ihre eigene Positionierung in dieser Frage?

13. Unter welchen Voraussetzungen könnten nach Einschätzung der Bundes-
regierung wegen der gegenwärtigen Haltung der Türkei, Kriegsdienstver-
weigerung aus Gewissensgründen nicht anzuerkennen, die Betroffenen
einen Anspruch auf politisches Asyl in der Bundesrepublik Deutschland er-
werben?

14. Inwieweit wäre die Bundesregierung bereit, in der Bundesrepublik Deutsch-
land lebenden türkischen Staatsbürgern, die den Kriegsdienst in der Türkei
aus Gewissensgründen ablehnen, zumindest solange Einbürgerungserleich-
terungen zu gewähren, bis die Türkei das Recht auf Kriegsdienstverweige-
rung anerkannt und entsprechende Gesetzesänderungen vorgenommen hat?

Berlin, den 22. März 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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