BT-Drucksache 17/5188

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 24./25. März 2011 in Brüssel

Vom 22. März 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5188
17. Wahlperiode 22. 03. 2011

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko,
Thomas Nord, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen, Wolfgang
Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Harald Koch, Stefan Liebich,
Niema Movassat, Paul Schäfer (Köln), Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 24./25. März 2011 in Brüssel

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Aus den Schlussfolgerungen der Staats- und Regierungschefs der Länder der
Eurozone vom 11. März 2011 geht hervor, dass die Sitzung des Europäischen
Rates am 24. und 25. März dazu genutzt werden soll, über die Europäische
Union Grundrechte der arbeitenden Menschen einzuschränken und erkämpfte
soziale Errungenschaften abzubauen. Dies zeigt sich bei allen Vorhaben, über
die der Europäische Rat möglichst abschließende Beschlüsse fassen soll:
beim Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM), bei den Vorschlägen
der EU-Kommission zur Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts
und zur makroökonomischen Koordinierung und beim „Pakt für den Euro“.

2. Bei dem von der Bundesregierung vorgeschlagenen und vom informellen
Eurozonengipfel bereits gebilligten „Pakt für den Euro“, der nichts anderes
ist als die sprachlich abgemilderte Version des bekannt gewordenen „Pakts
für Wettbewerbsfähigkeit“, geht es inhaltlich um EU-weite Eingriffe in
Tarifautonomie und Lohnpolitik, um weitere Privatisierungen sowie um
drastische Einschnitte bei den Renten, der Gesundheitsfürsorge und den
Sozialleistungen zu Lasten der betroffenen Menschen. Auch wird poli-
tischer Druck aufgebaut, damit die souveränen Mitgliedstaaten die Haus-
haltsbestimmungen ihrer Verfassungen unter Aufsicht der EU-Kommission
dem verfehlten „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ anpassen und der deut-
schen „Schuldenbremse“ angleichen. Mit diesen Vorgaben werden die sozial
inakzeptablen und ökonomisch unsinnigen Empfehlungen aus dem Jahres-
wachstumsbericht bzw. die Verpflichtungen im Rahmen des „Europäischen
Semesters“ noch einmal unterstützt und verstärkt.

3. In ihren Schlussfolgerungen haben die Staats- und Regierungschefs der Län-
der der Eurozone ihrer Erwartung Ausdruck gegeben, dass bis zum Europäi-

schen Rat die Arbeiten an den sechs Gesetzgebungsvorschlägen der EU-
Kommission zur Haushaltspolitik und zur makroökonomischen Koordinie-
rung im Wesentlichen abgeschlossen sein sollen.

a) Die Vorschläge der EU-Kommission zum „Stabilitäts- und Wachstums-
pakt“ ändern nichts daran, dass dieses Instrument ökonomisch prozyklisch
wirkt und damit notwendiges Wirtschaftswachstum behindert sowie Druck

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in Richtung auf einen weiteren Abbau öffentlicher (Sozial-)Leistungen
entfaltet. Sie verschärfen diese Wirkungen aber noch dramatisch. Nicht
hinzunehmen ist vor allem der vorgesehene Automatismus bei der Verhän-
gung von Sanktionen. Letztlich würde hier mit einer Minderheit der Stim-
men im Rat gegen einen Mitgliedstaat entschieden werden können. Das
verstieße fundamental gegen das demokratische Prinzip des Artikels 2 des
Vertrags über die Europäische Union (EUV) und des Artikels 20 des
Grundgesetzes.

b) Die beiden vorgeschlagenen Verordnungen zur makroökonomischen Ko-
ordinierung und Überwachung stellen in das Zentrum ihrer Regelungen
ein Scoreboard „aus makroökonomischen und makrofinanziellen Indi-
katoren“, das von der EU-Kommission erst noch erlassen werden soll. Die
Mitgliedstaaten sollen dazu nur gehört, das Europäische Parlament in
keiner Weise beteiligt werden. In den Verordnungen fehlen hinreichend
bestimmte Vorgaben für die Aufstellung eines solchen Scoreboards. Es ist
zwar zu erwarten und erscheint sinnvoll, auch das Gebot eines außenwirt-
schaftlichen Gleichgewichts einzubeziehen, das nach dem deutschen
Grundgesetz Verfassungsrang hat. Dem würde aber ein asymmetrischer
Ansatz nicht entsprechen, der nur Leistungsbilanzdefizite berücksichtigt,
die negative Wirkung lange andauernder Leistungsbilanzüberschüsse je-
doch ausblendet. Das aber versucht die Bundesregierung mit Macht
durchzusetzen.

4. Es ist die Schaffung eines permanenten Europäischen Stabilisierungsmecha-
nismus beabsichtigt, der den in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Mit-
gliedstaaten gegen „strenge Auflagen“ Kredite gewährt oder ihnen auf dem
Primärmarkt Staatsanleihen abkauft. Um das rechtlich zu ermöglichen, soll
auf der Sitzung des Europäischen Rates im vereinfachten Vertragsän-
derungsverfahren Artikel 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Euro-
päischen Union (AEUV) um einen Absatz 3 ergänzt werden. Bei diesem
Mechanismus geht es nicht um solidarische Hilfe für die Menschen in den be-
troffenen Ländern. Vielmehr dient der Stabilisierungsmechanismus in erster
Linie den Gläubigerbanken, die auch eine etwaige Beteiligung privater Gläu-
biger (z. B. in Form von Umschuldungen) in ihre Zinsen „einpreisen“ wer-
den. Damit wird – unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des ESM –
ein neuer und jetzt dauerhafter Bankenrettungs- und Bankenbereicherungs-
mechanismus geschaffen; finanziert von den Beschäftigten, den Rentner-
innen und Rentnern, Arbeitslosen, Studierenden und anderen, die die Haupt-
last der Anpassungsprogramme tragen. Die Ursachen der fortbestehenden
Finanz- und Wirtschaftskrise hingegen werden nicht angegangen.

5. Über die konkrete Ausgestaltung des ESM, auch über den Rechtscharakter
der zu seiner Einrichtung erforderlichen Vereinbarung, gibt es bislang keine
verbindlichen Aussagen. Es besteht aber offensichtlich nicht die Absicht, im
Rahmen und unter Beachtung des geltenden EU-Rechts zu agieren, etwa ein
in das Primärrecht einzufügendes Protokoll zu vereinbaren oder eine ver-
stärkte Zusammenarbeit gemäß Artikel 20 EUV zu begründen. Dann müssten
entgegenstehende Regelungen des AEUV verändert werden wie das Verbot
der finanziellen Beistandsgewährung nach Artikel 125 AEUV. Stattdessen
soll die Vereinbarung offenbar außerhalb der Normen der Europäischen
Union nach den Regeln des Völkerrechts getroffen werden. Auch ist damit zu
rechnen, dass der ESM als Institution wieder in der Rechtsform einer privat-
rechtlichen Aktiengesellschaft etabliert werden soll. Damit würde insgesamt
gegen das Vertragsrecht der EU verstoßen. Zugleich würde Artikel 23 des
Grundgesetzes umgangen, würden die erkämpften Informations- und Mitwir-
kungsrechte des Deutschen Bundestages missachtet.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5188

6. Der „Pakt für den Euro“ wurde dem Deutschen Bundestag im Entwurf am
Morgen des Tages zur Kenntnis gegeben, an dem er von den Staats- und Re-
gierungschefs der Länder der Eurozone gebilligt wurde. Vorherige Fassungen
unter dem Namen „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ hat die Bundesregierung
unter Verletzung ihrer Informationspflichten dem Deutschen Bundestag vor-
enthalten. Die unsozialen Inhalte des Pakts beziehen sich vor allem auf Be-
reiche, die in die einzelstaatliche Zuständigkeit fallen und daher verbind-
lichen Festlegungen auf EU-Ebene nicht zugänglich sind, auch nicht durch
die Staats- und Regierungschefs. Offenbar soll die Realisierung der Inhalte
des Pakts einzelnen Mitgliedstaaten, die in finanziellen Schwierigkeiten sind,
im Rahmen einer Kreditvergabe durch den ESM aufoktroyiert werden. Dabei
stellen die Schlussfolgerungen der Staats- und Regierungschefs den Pakt in
einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem „Europäischen Semester“ und
den „Integrierten Leitlinien“. Diese Instrumente sowie deren vertragliche
Grundlagen rechtfertigen aber keine politischen Einwirkungen der Organe
der Europäischen Union oder der anderen Mitgliedstaaten in Richtung auf
eine Reduzierung staatlicher Grundrechte und auf die Aufgabe der staat-
lichen Souveränität im Hinblick auf die jeweilige Haushaltspolitik.

7. Die Flucht aus dem Vertragsrecht der Europäischen Union und aus dem Ver-
fassungsrecht der Mitgliedstaaten hat seine Ursache in der unzeitgemäßen
Ausrichtung der Bestimmungen des EU-Rechts, das insoweit im Wesent-
lichen immer noch dem Maastricht-Vertrag entspricht und neoliberale Kon-
zeptionen der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts widerspiegelt. Hier ist
eine Novellierung der durch den Lissabon-Vertrag bestätigten Rechtslage
unabdingbar: Änderungen dürfen aber nicht rückwärtsgerichtet sein, sich
nicht der Diktatur der Finanzmärkte unterwerfen. Sie müssen sich nach vorne
orientieren in die Richtung auf ein soziales und ein solidarisches Europa. Nur
so kann der soziale und poltische Zusammenhalt der Europäischen Union
gewahrt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. auf dem Frühjahrsgipfel der Vertragsänderung zur Ergänzung des Artikels 136
AEUV entgegenzutreten und sich stattdessen für grundlegende Änderungen
der Europäischen Verträge einzusetzen, die Änderungen der Artikel 123, 125
und 126 sowie 136 AEUV mit dem Ziel einer solidarischen EU einschließen,
und das in einem ordentlichen Vertragsänderungsverfahren unter Einbe-
rufung eines Konvents,

2. sich für die Aufnahme einer sozialen Fortschrittsklausel in das EU-Primär-
recht einzusetzen und so ein soziales Europa anstelle eines Europas des
Sozialabbaus voranzubringen,

3. eine Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, insbesondere einen
Automatismus bei der Verhängung von Sanktionen, abzulehnen,

4. Vorschlägen zur makroökonomischen Koordinierung nur zuzustimmen,
wenn die Inhalte des Scoreboards schon in den entsprechenden Verordnun-
gen hinreichend konkret bestimmt werden, wenn sie auch Ungleichgewichte
durch übermäßige Leistungsbilanzüberschüsse als negative Abweichungen
erfassen, wenn sie die Tarifautonomie nicht antasten und staatliche Lohnfin-
dungsmechanismen (z. B. Indexierung) respektieren,

5. Sorge dafür zu tragen, dass Konkretisierungen des geltenden Vertragsrechts
weder durch völkerrechtliche Vereinbarungen noch durch persönliche Ab-
sprachen der Staats- und Regierungschefs getroffen werden, sondern durch
die vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren unter Beteiligung des Europäi-

schen Parlaments und – über das Gesetz über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Euro-

Drucksache 17/5188 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
päischen Union (EUZBBG) – auch unter Mitwirkung des Deutschen Bundes-
tages,

6. von allen Vereinbarungen welcher Art auch immer Abstand zu nehmen,
durch die Verpflichtungen zu Änderungen des Grundgesetzes, auch im Ver-
hältnis von Bund und Ländern, begründet werden sollen.

Berlin, den 22. März 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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