BT-Drucksache 17/4845

Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen statt Bundesfreiwilligendienst einführen

Vom 22. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4845
17. Wahlperiode 22. 02. 2011

Antrag
der Abgeordneten Harald Koch, Heidrun Dittrich, Diana Golze, Agnes Alpers,
Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Dr. Rosemarie Hein, Katja Kipping, Jutta
Krellmann, Richard Pitterle, Michael Schlecht, Sabine Stüber, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen statt Bundesfreiwilligendienst
einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der von der Bundesregierung geplante Bundesfreiwilligendienst schafft un-
nötige Parallelstrukturen zu den seit Jahrzehnten etablierten und gut funktionie-
renden Jugendfreiwilligendiensten. Es ist zu befürchten, dass der Bundesfrei-
willigendienst durch entsprechende Rahmenbedingungen attraktiver gestaltet
und damit zugleich die Nachfrage an bestehende Jugendfreiwilligendienste zu-
rückgehen wird. Konsequent wären eine Abschaffung des Wehr- und Zivil-
dienstes und damit auch eine Abschaffung des Bundesamtes für den Zivil-
dienst. Junge Menschen bleiben auch im Bundesfreiwilligendienst unterbe-
zahlte Lückenbüßer in einem willentlich ausgetrockneten Sozialsystem. Not-
wendig bleibt primär die Schaffung neuer sozialversicherungspflichtiger
Arbeitsplätze mit qualifizierten Beschäftigten. Mit einer Ausweitung auf einen
Freiwilligendienst aller Generationen wirkt die Bundesregierung diesem Ziel
konsequent entgegen.

Jugendfreiwilligendienste sind Bildungs- und Lerndienste sowie Lernorte
zwischen Schule und Beruf und müssen als solche gestärkt werden. Unter der
Voraussetzung von Mitbestimmungsrechten und ausreichender sozialer Absi-
cherung haben Jugendfreiwilligendienste eine wichtige gesellschaftliche und
individuelle Funktion. Sie fördern eigene Fähigkeiten, sie verschaffen soziale,
ökologische, (inter-)kulturelle, internationale und praktische Lernerfahrungen
und Kompetenzen, sie stärken Selbständigkeit, Selbst- und Verantwortungs-
bewusstsein, unterstützen bei der Suche nach persönlicher, gesellschaftlicher
und beruflicher Orientierung, sensibilisieren für gesellschaftliche Probleme und
ermutigen zur Partizipation an der Gesellschaft.

Jugendfreiwilligendienste können immer nur ergänzende und flankierende
Aufgaben übernehmen. Sie bedürfen einer strikten, ständig kontrollierbaren

und tatsächlich kontrollierten, dauerhaft gewährleisteten Arbeitsmarktneutra-
lität – die der bisherige Zivildienst nicht zu leisten im Stande war – und dürfen
nicht Ersatz für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse so-
wie betriebliche Ausbildungsplätze sein. Jegliche Verdrängung betrieblicher
Ausbildungsplätze sowie sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsver-
hältnisse ist abzulehnen. Auch dürfen die Jugendfreiwilligendienste nicht als
Warteschleifen für Jugendliche, die keinen Ausbildungs- oder Studienplatz fin-

Drucksache 17/4845 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

den, missbraucht werden. Jugendfreiwilligendienste dürfen zudem nur im ge-
meinwohlorientierten Bereich angesiedelt werden. Eine Verortung im profit-
orientierten, privatwirtschaftlichen Sektor ist abzulehnen.

Jedes Jahr bewerben sich mehr Jugendliche, als Plätze bei Jugendfreiwilligen-
diensten zur Verfügung stehen. Bereits heute kommen auf einen Platz drei Be-
werbungen. Aus diesem Grund ist die Platzanzahl mindestens zu verdoppeln.
Perspektivisch muss jedem Jugendlichen, der einen Jugendfreiwilligendienst
absolvieren möchte, ein Platz angeboten werden können. Jede Art von Zwangs-
dienst wird abgelehnt. Die Wehrpflicht muss nicht nur ausgesetzt, sondern ganz
abgeschafft werden. Zugleich muss die dauerhafte Konversion des Zivildiens-
tes, der ein Zwangsdienst war und noch ist, eingeleitet werden. Vorrangig müs-
sen neue sozialversicherungspflichtige, qualifizierte Arbeitsplätze mit tarifli-
chem Lohn oder zumindest Mindestlohn geschaffen werden. Die durch den
permanenten Wegfall des Zivildienstes frei werdenden Mittel müssen in die Ju-
gendfreiwilligendienste umgeschichtet werden. Generell ist die Finanzierungs-
struktur der Jugendfreiwilligendienste zu verbessern. Anstatt mit dem neuen
Bundesfreiwilligendienst teure und intransparente Parallelstrukturen zu schaf-
fen, ist das Geld zur noch stärkeren Aufstockung der Bundesförderung beste-
hender Jugendfreiwilligendienste zu verwenden. Um den Bildungs- und Lern-
charakter zu stärken, ist eine Erhöhung der Förderung für pädagogische Beglei-
tung sowie für Seminartage notwendig. Jugendliche dürfen während ihres Ju-
gendfreiwilligendienstes nicht allein gelassen werden. Es bedarf einer festen
Ansprech- und Betreuungsperson in den Einsatzstellen ebenso wie einer Aufar-
beitung von eventuellen Konflikten und Problemen in Seminaren. Dafür muss
genügend pädagogisches Personal beschäftigt werden. 25 Seminartage, wovon
fünf Tage für ein Seminar zur politischen Bildung zur Verfügung stehen, sind
im Rahmen eines zwölfmonatigen Freiwilligendienstes das Minimum.

Jugendliche müssen sich Jugendfreiwilligendienste auch leisten können. Dafür
ist eine Festlegung auf eine angemessene Aufwandsentschädigung, die in ganz
Deutschland einheitlich zu regeln ist, notwendig. Dies dient auch der Öffnung
der Jugendfreiwilligendienste für neue Zielgruppen, wobei hier besonders Mig-
rantinnen und Migranten, Menschen mit Behinderung sowie sozial Benach-
teiligte in den Blick genommen werden müssen. Wenn durch die Ableistung
eines Jugendfreiwilligendienstes das Kindergeld entfällt, müssen Jugendliche
eine erhöhte Aufwandsentschädigung erhalten. Ebenfalls müssen die Jugend-
lichen, die einen Jugendfreiwilligendienst leisten, entsprechend den bisherigen
Regelungen im Zivildienst sozialversichert sein. Zusätzlich zu einer Festlegung
und Erhöhung der Aufwandsentschädigung ist eine breite Anerkennungskultur
für Jugendfreiwilligendienste zu schaffen. Das betrifft nicht nur die Anrech-
nung von Zeiten, erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten bei Ausbildung und
Studium, sondern auch die Einführung eines Freiwilligendienstausweises, der
zu Ermäßigungen im öffentlichen Personennahverkehr, bei kulturellen Angebo-
ten sowie in anderen Bereichen berechtigt.

Zur Stärkung der Jugendfreiwilligendienste als Lern- und Bildungsdienste ge-
hören neben der Beachtung von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungs-
prinzipien Mitbestimmungsstrukturen für die Jugendlichen. Dies betrifft zum
einen die Möglichkeit der Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz
und zum anderen die Mitbestimmung an Zielen, Inhalten und Ausrichtung der
Jugendfreiwilligendienste selbst. Gremien der Mitbestimmung sind deshalb bei
jedem Träger von Jugendfreiwilligendiensten notwendig.

Die Umsatzsteuerbelastung der Jugendfreiwilligendienste bleibt auch nach dem
„Gesetz zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten“ von 2008 bestehen.
Die dort vorgenommene Regelung zur Umsatzsteuerbefreiung bei der Überlas-

sung von Freiwilligen hat sich als nicht praktikabel erwiesen. Deshalb ist eine
europarechtskonforme Regelung notwendig, die die tatsächlichen Kosten der

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4845

Überlassung von Freiwilligen für die gemeinnützigen Träger und entsprechen-
den Einsatzstellen der Jugendfreiwilligendienste von der Umsatzsteuer befreit.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. umgehend den Entwurf eines Gesetzes für Jugendfreiwilligendienste vorzu-
legen, der

a) Jugendfreiwilligendienste als Lern- und Bildungsdienste für Jugendliche
und junge Erwachsene bis 27 Jahre definiert und diese rechtlich zu so-
zialversicherungspflichtiger Beschäftigung sowie Ausbildung abgegrenzt;

b) Mindeststandards und inhaltliche Leitlinien für die Durchführung von Ju-
gendfreiwilligendiensten festlegt;

c) die angemessene Aufwandsentschädigung für die Jugendlichen be-
stimmt;

d) festlegt, dass Jugendfreiwilligendienste nur und dauerhaft arbeitsmarkt-
neutral und in gemeinwohlorientierten Bereichen eingesetzt werden. Die
Arbeitsmarktneutralität ist regelmäßig bei Trägern und Einsatzstellen zu
prüfen;

e) die Mitbestimmungsmöglichkeiten von Jugendlichen bei Trägern der Ju-
gendfreiwilligendienste eindeutig regelt;

f) den Umfang von Bildungsseminaren, einschließlich Seminare zur politi-
schen Bildung, auf mindestens 25 Tage festlegt;

g) regelt, dass der Bezug des Kindergeldes um die Zeit des Jugendfreiwilli-
gendienstes, in der kein Kindergeld gezahlt wird, sich verlängert;

2. die durch den Wegfall des Zivildienstes frei werdenden Mittel für den weite-
ren Ausbau der Jugendfreiwilligendienste zu verwenden. Dafür sind die not-
wendigen rechtlichen Grundlagen zu schaffen. Mindestens eine Verdopp-
lung der Plätze sowie eine weitere Erhöhung der Förderpauschalen ist zu er-
reichen;

3. jegliche Bestrebungen hin zu Parallelstrukturen wie einem Bundesfreiwilli-
gendienst in Konkurrenz zu den Jugendfreiwilligendiensten zu unterlassen;

4. die Attraktivität von Jugendfreiwilligendiensten durch die Schaffung einer
breiten Anerkennungskultur sowie von Vergünstigungen zu verbessern;

5. gezielt jugendliche Migrantinnen und Migranten, Menschen mit Behinde-
rung sowie sozial Benachteiligte für Jugendfreiwilligendienste zu gewinnen;

6. die tatsächlichen Kosten der Überlassung von Freiwilligen an gemeinnüt-
zige Träger und entsprechende Einsatzstellen durch Jugendfreiwilligen-
dienste europarechtskonform von der Umsatzsteuer zu befreien.

Berlin, den 22. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.