BT-Drucksache 17/4819

Geheimhaltung von BND-Akten zur NS-Vergangenheit

Vom 17. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4819
17. Wahlperiode 17. 02. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Wolfgang Neskovic, Petra Pau,
Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak
und der Fraktion DIE LINKE.

Geheimhaltung von BND-Akten zur NS-Vergangenheit

Nachdem am 7. Januar 2011 die „BILD“ meldete, dass die „Organisation Gehlen“
und später auch deren Nachfolger, der Bundesnachrichtendienst (BND), bereits
seit 1952 wusste, wo sich der für die Organisation der Vertreibung, Deportation
und Ermordung der europäischen Juden zuständige SS-Obersturmbannführer
Karl Adolf Eichmann versteckte, dieses Wissen jedoch geheim hielt und nicht an
die zuständigen Strafverfolgungsbehörden des Bundes oder befreundeter Staaten
weitergegeben hatte, berichtete am 15. Januar 2011 „DER SPIEGEL“, dass der
als „Schlächter von Lyon“ berüchtigte NS-Verbrecher Klaus Barbie 1966 zeit-
weise Agent des Bundesnachrichtendienstes gewesen sei.

Am 17. Januar 2011 meldete schließlich „DIE WELT“, dass Historiker jetzt den
Bundesnachrichtendienst erforschen dürften. BND-Chef Ernst Uhrlau hätte
„freien Aktenzugang“ versprochen und untersucht werden solle die Zeit von
1945 bis 1968, also die Amtszeit des ersten Chefs Reinhard Gehlen sowie die
Geschichte des BND-Vorläufers, der „Organisation Gehlen“. Mit den vier Histo-
rikern Prof. Dr. Jost Dülffer (Köln), Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke (Dresden),
Prof. Dr. Wolfgang Krieger (Marburg) und Prof. Dr. Rolf-Dieter Müller (Pots-
dam) sei wochenlang verhandelt worden und obwohl der Vertrag zwischen dem
BND und den Wissenschaftlern noch nicht unterschrieben sei, wären alle Be-
teiligten „optimistisch, dass man sich demnächst einigt“ (SPIEGEL ONLINE
vom 13. Januar 2011). Der Historikerkommission stehen nach Angaben der
„FAZ“ vom 16. Januar 2011 sieben Mitarbeiter einer internen BND-Arbeits-
gruppe „Geschichte des BND“ unter der Leitung des BND-Historikers Dr. Bodo
Hechelhammer „zur Seite – vielleicht auch gegenüber“. Sie hätten unter an-
derem die Aufgabe, „das Material aus etwa 5 000 archivalisch erschlossenen
Aktenvorgängen und etwa 15 000 auf Mikrofilm vorliegenden Vorgänge zu
sichten und zu deklassifizieren“. Laut „FAZ“ suche der BND derzeit dringend
„Archivare, die ihm bei dieser Arbeit helfen“. Ferner sei zugesagt worden, „dass
die Bearbeitung sonstiger Anträge auf Aktenfreigabe nicht behindert werde.
Auch solle die Exklusiv-Forschung der Kommission von einem möglichst
breiten Archivzugang der Fachöffentlichkeit begleitet werden“ (FAZ.NET vom

16. Januar 2011).

Dies stellt durchaus eine neue Qualität in der Vergangenheitspolitik dar. Bislang
hatte es seitens des Kanzleramtes und des BND einen gänzlich anderen Umgang
mit der braunen Vergangenheit des Geheimdienstes gegeben. Journalisten und
Wissenschaftler mussten erst langjährige Gerichtsverfahren anstrengen, bevor
auch nur eine Aktenseite, beispielsweise im Fall Karl Adolf Eichmann, eingese-
hen werden konnte. Und in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion

Drucksache 17/4819 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

DIE LINKE. „Freigabe von Stasi-Akten zur BND-Vergangenheit“ (Bundestags-
drucksache 17/2864) erklärte die Bundesregierung die Sperrung von Akten des
Ministeriums für Staatssicherheit zur NS-Vergangenheit einzelner ehemaliger
BND-Agenten damit, weil es sich um „Unterlagen über Mitarbeiter von Nach-
richtendiensten des Bundes, der Länder und der Verbündeten“ handeln würde.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wer trägt nach Auffassung der Bundesregierung die politische Verantwor-
tung dafür, dass im Bundesnachrichtendienst und seiner Vorläuferorganisa-
tion, der „Organisation Gehlen“, eine große Anzahl ehemaliger SS-, SD- und
Gestapo-Offiziere beschäftigt wurden, so dass von einer Auffangorganisation
für SS- und Gestapo-Leute, die im Geheimdienst, trotz Kriegsverbrechen und
Holocaust, nahtlos weiter Karriere machen konnten, gesprochen werden
kann?

2. Wer trägt nach Auffassung der Bundesregierung die politische Verantwor-
tung dafür, dass die beim Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes (BND),
der „Organisation Gehlen“, schon 1952 vorhandenen Informationen zum
Aufenthaltsort des NS-Verbrechers Karl Adolf Eichmann in Argentinien
seitens der Bundesregierung nicht genutzt bzw. an die zuständigen Strafver-
folgungsbehörden des Bundes oder befreundeter Staaten weitergegeben wur-
den, und wieso wurde die entsprechende Information erst 1958 an die USA
weitergeleitet?

3. Wer genau im Bundeskanzleramt hat aus welchen Gründen entschieden, eine
vollständige Einsichtnahme und/oder Veröffentlichung der mehrere Tausend
mikroverfilmte Seiten umfassenden BND-Akte über Karl Adolf Eichmann
nicht zuzulassen?

4. Welche Gründe sprechen seitens der Bundesregierung selbst 65 Jahre nach
Ende des Zweiten Weltkriegs dafür, die Akten des BND über den Nazi-
Kriegsverbrecher Karl Adolf Eichmann auch weiterhin geheim zu halten?

5. Wie verträgt sich diese bisher geübte Praxis der Geheimhaltung mit dem
sonst zu jeder Feierstunde verkündeten Anspruch, eines stets offenen und
kritischen Umgangs mit der NS-Vergangenheit?

6. Warum gibt es bis heute kein, mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz vergleich-
bares, „Nazi-Unterlagen-Gesetz“?

7. War Hans Josef Maria Globke, der Kommentator der Nürnberger Rasse-
gesetze und vom 27. Oktober 1953 bis zum 15. Oktober 1963 unter Bundes-
kanzler Konrad Adenauer Chef des Bundeskanzleramts, in dieser Funktion
für den BND und seine Vorläuferorganisation, die „Organisation Gehlen“,
zuständig?

Wenn nein, wer war es dann?

8. Stuft die Bundesregierung die Geheimhaltung des, spätestens seit 1952 dem
BND, bzw. seiner Vorgängerorganisation der „Organisation Gehlen“ bekann-
ten Aufenthaltsortes von Karl Adolf Eichmann, als Strafvereitelung im Amt
ein (bitte begründen)?

9. Wie beurteilt die Bundesregierung aus heutiger Sicht das Verhalten der dama-
ligen Verantwortungsträger, und welche Schlussfolgerungen für den heutigen
Umgang mit noch nicht veröffentlichten Dokumenten zur NS-Vergangenheit
zieht sie daraus?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4819

10. Hat es von Seiten ausländischer Regierungen bzw. ausländischer Geheim-
dienste den Wunsch gegeben, die BND-Akten zum Fall Karl Adolf
Eichmann nicht zu veröffentlichen, und wenn ja, um welche ausländischen
Regierungen bzw. ausländischen Geheimdienste handelte es sich dabei, und
wann und in welcher Form wurden diese Bitten geäußert?

11. Hat es von Seiten der Bundesregierung Bemühungen gegeben, mögliche
Bitten anderer Staaten und ihrer Geheimdienste auf Geheimhaltung der
Akten im Fall Karl Adolf Eichmann zu entkräften, und wenn ja, wann und
wie verliefen diese Bemühungen gegebenenfalls?

12. Sieht die Bundesregierung ein übergeordnetes allgemeines Interesse an der
Offenlegung von Akten, die die NS-Vergangenheit von Institutionen des
Bundes betreffen?

13. Nach welchem Verfahren wird entschieden, über welchen BND-Mitarbei-
ter mit NS-Vergangenheit etwas an die Öffentlichkeit gelangt?

Gibt es ggf. eine „Veröffentlichungsstrategie“ des Amtes, und wenn ja, wie
sieht diese aus?

14. Ist der Vertrag mit den in den Medien genannten vier Historikern zur Erfor-
schung der Frühgeschichte des BND von 1945 bis 1968 mittlerweile unter-
zeichnet worden, und wenn ja, wann ist dies geschehen?

Wenn nein, warum nicht?

15. Wie und nach welchen Kriterien wurden die Historiker für die Historiker-
kommission ausgewählt (bitte für jeden einzeln begründen)?

16. Gab es auch andere Kandidaten/Kandidatinnen, und wenn ja welche?

17. Hat einer oder mehrere der vier „Auserwählten“ vorher bereits Kontakte
zum BND oder anderen Sicherheitskräften gehabt, und wenn ja, wer und in
welcher Form?

18. Wie genau sieht der Vertrag mit den an der Historikerkommission Beteilig-
ten im Hinblick auf Forschungsauftrag, zentrale Fragestellung des Projekts,
Themensetzung, Zeitrahmen, Budget, Beschränkungen, Sicherheitsüber-
prüfungen, Publikationsrechten etc. aus?

19. Wird den vier Historikern, die der BND in die Historikerkommission zur
Aufarbeitung seiner Frühgeschichte berufen hat, volle Akteneinsicht, dar-
unter auch in alle Akten zu und über Karl Adolf Eichmann, gewährt wer-
den?

a) Wenn ja, warum wird den Historikern volle Akteneinsicht gewährt,
während die Bundesregierung der Journalistin Gabriele Weber seit Jah-
ren die Einsicht verwehren will und gegen eine Akteneinsicht vor dem
Bundesverwaltungsgericht einen Rechtsstreit führt?

b) Wenn ja, worin besteht dann genau die Aufgabe der siebenköpfigen
BND-internen Historikerarbeitsgruppe unter der Leitung des BND-His-
torikers Dr. Bodo Hechelhammer?

c) Wenn nein, warum nicht, und wie soll dann die Akteneinsicht für die
Historikerkommission vonstatten gehen, und nach welchen Kriterien
werden die Akten als einseh- und auswertbar ausgewählt?

d) Wenn nein, wie vereinbart die Bundesregierung dann diese Beschrän-
kungen mit der Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre gemäß
Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes?

20. Wer entscheidet darüber, welche Akten für das Forschungsvorhaben als

relevant zu betrachten sind und welche nicht?

Drucksache 17/4819 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
21. Wie viele laufende Meter Akten und zentrale Karteien (Personal- und
Sachkarteien) zur Frühgeschichte des BND und der „Organisation Gehlen“
von 1945 bis 1968 lagern im Archiv des BND oder dem Kanzleramt, und
wie viele davon sind bereits erschlossen (bitte nach Lagerort, Anzahl der
laufenden Meter und Umfang der zentralen Karteien aufschlüsseln)?

22. Wie viele dieser laufenden Meter sind bereits im Bundesarchiv zugänglich?

23. Wie viele Archivare und Historiker sind im Rahmen des Projektes zur Er-
forschung der Frühgeschichte des BND und der „Organisation Gehlen“
derzeit beschäftigt, bzw. sollen zukünftig mit der Erschließung der Akten
beschäftigt sein?

24. Wann sollen die Erschließungsarbeiten abgeschlossen sein?

25. Wie viele Archivare und Historiker sind derzeit mit der Deklassifizierung
von Verschlusssachen aus der Frühgeschichte der „Organisation Gehlen“
und des BND beschäftigt, und wie viele sollen es zukünftig sein?

26. Hat der BND die von ihm verwahrten und bisher nicht an das Bundesarchiv
abgegebenen Akten und zentralen Karteien vollständig erschlossen, und
liegen die entsprechenden archivalischen Findmittel vor?

27. Werden die Ergebnisse des Forschungsvorhabens in jedem Fall publiziert
werden, und wie verhält es sich mit Angaben zu Personen, die als ehema-
lige Mitarbeiter des BND, bzw. der „Organisation Gehlen“ Gegenstand der
Untersuchung sein könnten?

28. Wie soll während des mehrjährigen Forschungsprojektes mit Anträgen auf
Akteneinsicht und Freigabe seitens anderer Wissenschaftler, Journalisten
und Politiker etc. verfahren werden?

Gibt es diesbezüglich bereits eine „Bearbeitungsstrategie“, oder werden
einfach alle Anträge chronologisch (Datum der Antragstellung) der Reihe
nach abgearbeitet, und wie soll der in der „FAZ“ erwähnte breite Archivzu-
gang der Fachöffentlichkeit konkret aussehen?

Berlin, den 17. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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