BT-Drucksache 17/4679

Für ein offenes, rechtsstaatliches und gerechtes europäisches Asylsystem

Vom 8. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4679
17. Wahlperiode 08. 02. 2011

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, Sevim Dag˘delen,
Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und
der Fraktion DIE LINKE.

Für ein offenes, rechtsstaatliches und gerechtes europäisches Asylsystem

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die erste Phase der Harmonisierung des Asylsystems der Europäischen
Union hat nicht zu einem in der Praxis einheitlichen Verfahren mit hohen
Schutzstandards geführt. Insbesondere die damalige rot-grüne Bundesregie-
rung sorgte in den europäischen Verhandlungen dafür, dass nur Mindeststan-
dards auf niedrigem Niveau beschlossen wurden, die auch nach Einschätzung
der EU-Kommission eine „Asyl-Lotterie“ innerhalb der EU zur Folge haben:
Ob Flüchtlinge als Schutzbedürftige anerkannt werden oder nicht, ist maß-
geblich davon abhängig, über welches Land sie in die EU eingereist sind bzw.
welches Land als für sie zuständig erklärt wurde. Anerkennungsquoten bei
Flüchtlingen aus gleichen Herkunftsländern können je nach Mitgliedstaat
von 0 bis 80 Prozent reichen. Auch ob sie nach der Einreise inhaftiert werden
oder in Freiheit ihr Asylverfahren betreiben können, richtet sich nach den je-
weiligen nationalen Praktiken. Eine menschenwürdige Unterbringung und
Versorgung ist längst nicht in allen Mitgliedstaaten der EU gewährleistet, wie
insbesondere die katastrophalen Bedingungen in Griechenland deutlich ge-
macht haben.

2. Vor diesem Hintergrund beobachtet der Deutsche Bundestag mit großer Sorge,
dass Deutschland auch in der zweiten Phase zur Errichtung eines Gemein-
samen Europäischen Asylsystems bezüglich der Vorschläge der Europäischen
Kommission zur Durchsetzung höherer Schutzstandards eine „Bremserrolle“
eingenommen hat. Deutschland ist als geografisches Kernland der EU ein
Hauptprofiteur des jetzigen Systems, das den Mitgliedstaaten mit EU-Außen-
grenzen die Aufgabe der Abschottung überträgt und ihnen im Zweifelsfall
die Zuständigkeit zuweist, wenn Flüchtlinge die Grenzen überwinden konn-
ten. Der „Preis der Abschottung“ sind Zehntausende Tote: Schutzsuchende
und irreguläre Migrantinnen und Migranten sind infolge der stetig perfektio-
nierten Grenzüberwachung gezwungen, immer gefährlichere Wege zu gehen.
Zur Abwehr unerwünschter Migration und Flüchtlinge werden in Europa

wieder Mauern errichtet, und nicht einmal vor einer Zusammenarbeit mit
dem libyschen Regime, das die Menschenrechte und das Asylrecht mit Füßen
tritt, schreckt die EU zurück. Dies ist ein Offenbarungseid für die Menschen-
rechtspolitik der Europäischen Union.

3. Die zwangsweise Überstellung von Asylsuchenden ohne jede Prüfung an
einen anderen Staat nach der bundesdeutschen Drittstaatenregelung, ähnlich

Drucksache 17/4679 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

aber auch nach der so genannten Dublin-II-Verordnung der EU, basiert auf
der Annahme, dass grundlegende Menschen- und Asylverfahrensrechte dort
immer gewährleistet sind. Dass diese Annahme in der Realität nicht zutrifft,
hat die Bundesregierung mit dem im Januar 2011 verkündeten, längst über-
fälligen Überstellungsstopp nach Griechenland faktisch eingestanden. Nach
dem Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
vom 21. Januar 2011, mit dem sowohl Belgien als auch Griechenland wegen
Menschenrechtsverletzungen gegenüber einem afghanischen Asylsuchenden
verurteilt wurden, ist die Änderungsbedürftigkeit der Dublin-II-Verordnung
(EG Nr. 343/2003 vom 18. Februar 2003) und des bundesdeutschen Rechts
offenkundig.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich auf EU-Ebene

1. für die ursprünglichen Vorschläge der EU-Kommission aus den Jahren 2008
und 2009 zur Verbesserung des Asylsystems im Sinne eines effektiven
Flüchtlingsschutzes einzusetzen und darüber hinausgehende Vorschläge in
diesem Sinne einzubringen, insbesondere zur Verhinderung einer Inhaftie-
rung von Schutzsuchenden; zudem soll sich die Bundesregierung für eine
Abschaffung der EU-Rückführungsrichtlinie und damit gegen eine Politik
der Entrechtung von Migrantinnen und Migranten einsetzen,

2. für ein grundlegend anderes Verantwortungsteilungsprinzip innerhalb der EU
einzusetzen, das sowohl die berechtigten Wünsche der Betroffenen als auch
die Größe und Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten berücksichtigt und in
einen fairen Ausgleich bringt,

3. für eine menschenrechtlich fundierte Asylpolitik einzusetzen, die einen siche-
ren Zugang zum Asylrecht ermöglicht und Schutzsuchende nicht zu „illega-
len“ Migrantinnen und Migranten erklärt, die es zu bekämpfen gilt; die
Grenzschutzagentur FRONTEX muss deshalb aufgelöst und durch eine euro-
päische Koordinierungsstelle zur menschenwürdigen und rechtsstaatlichen
Aufnahme von Flüchtlingen ersetzt werden.

Berlin, den 8. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Im Rahmen der zweiten Phase zur Errichtung eines Gemeinsamen Europäischen
Asylsystems legte die EU-Kommission mehrere Berichte zum Stand der (nicht)
erreichten Asyl-Harmonisierung vor (vgl. z. B. Ratsdokumente 15802/07,
11212/10, 13404/10) sowie entsprechende Änderungsvorschläge zum bestehen-
den Rechtsinstrumentarium. Diese Vorlagen zur Aufnahme-Richtlinie, zur
Dublin-II-Verordnung, zur Verfahrens- und Anerkennungs-Richtlinie (vgl.
Ratsdokumente 16913/08, 16929/08, 14959/09, 14863/09) enthalten in der Ten-
denz begrüßenswerte, wenn auch nicht weit genug gehende Verbesserungsvor-
schläge im Sinne eines effektiveren Flüchtlingsschutzes. Allerdings muss bei
einer Bewertung der Kontext des Gesamtansatzes der EU-Migrationspolitik ge-
sehen werden, der vor allem eine stärkere Abschottung der EU vor unerwünsch-
ter Migration, eine vorverlagerte Grenzabwehr in Zusammenarbeit mit Transit-
und Herkunftsstaaten sowie Maßnahmen zur effektiveren Abschiebung von

Menschen vorsieht.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4679

In der Mitteilung zur „künftigen Asylstrategie“ (Ratsdokument 11022/08) hatte
die EU-Kommission das Ziel verbesserter Standards und diesbezüglich not-
wendige Maßnahmen benannt. Dem Ressortbericht des Bundesministeriums des
Innern vom 4. Juli 2008 zu diesem Dokument lässt sich das „besondere deutsche
Interesse“ zu diesen Vorschlägen entnehmen: „Bei den Schutzstandards“ sei
„darauf zu achten, dass kein Automatismus bezüglich höherer und einheitlicher
Schutzstandards entsteht“. Deutschland will also an seinen, insbesondere An-
fang der 90er-Jahre eingeführten restriktiven Regelungen im Asylrecht fest-
halten.

Reinhard Grindel (CDU) kommentierte laut „FAZ“ vom 8. April 2009 den Vor-
schlag der EU-Kommission zu vorübergehenden Aussetzungen von Dublin-
Überstellungen bei überforderten Mitgliedstaaten: „Das wäre für Deutschland
die reine Katastrophe. Das würde bedeuten, dass wir den ganzen Asylkompro-
miss wegschmeißen könnten“. Er fürchtete einen „sprunghaften Anstieg der
Asylbewerberzahlen“. Nicht zuletzt angesichts des vom Bundesministerium des
Innern im Januar 2011 beschlossenen einjährigen Überstellungsstopps, der über
Vorschläge der EU-Kommission noch hinausgeht, erweist sich dies als groteske
Fehleinschätzung und populistische Stimmungsmache zur Verhinderung sub-
stantieller Verbesserungen im Asylsystem.

Eine Aufkündigung des Asylkompromisses „drohte“ der Bundesregierung aller-
dings von anderer Seite: Das Bundesverfassungsgericht hatte im Rahmen zahl-
reicher einstweiliger Anordnungen – erstmalig im Beschluss vom 9. September
2009 (2 BvQ 56/09) – deutlich gemacht, dass es angesichts der Situation in Grie-
chenland seine Urteile vom 14. Mai 1996 zur Änderung des Grundrechts auf
Asyl (2 BvR 1938/93 und 2315/93) bezüglich der angenommenen Sicherheit
von EU-Mitgliedstaaten für überprüfungsbedürftig hält. Genau so entschied
dann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 21. Januar
2011 in der Sache M.S.S. gegen Belgien und Griechenland: Die Haft- und
Lebensbedingungen Asylsuchender und die Mängel des Asylverfahrens in
Griechenland stellten ebenso Menschenrechtsverletzungen dar wie die Praxis
Belgiens, Asylsuchende in ein solches Land – zumal ohne wirksamen Rechts-
behelf – zu überstellen.

Insbesondere PRO ASYL hat frühzeitig und immer wieder durch Recherchen
und Berichte belegt, dass die Menschenrechte im Umgang mit Schutzsuchenden
in Griechenland und an den EU-Außengrenzen verletzt werden (vgl. z. B. deren
Petition an den Deutschen Bundestag vom 21. Februar 2008). Auch die Fraktion
DIE LINKE. hat bereits im April 2008 auf die unhaltbaren Zustände in Griechen-
land und einen entsprechenden Handlungsbedarf hingewiesen – und seitdem
hierzu kontinuierlich nachgefragt (vgl. die Antworten der Bundesregierung auf
die Kleinen Anfragen auf Bundestagsdrucksachen 16/8861, 16/11543, 16/12647,
16/14149, 17/203, 17/1340, 17/4356). Die Bundesregierung hat die Situation in
Griechenland hingegen lange Zeit beschönigt, und bis zuletzt wurden Überstel-
lungen nach Griechenland im Einzelfall so vollzogen, dass den Betroffenen
nicht einmal die Gelegenheit blieb, Rechtsschutz zu suchen – den sie spätestens
vom Bundesverfassungsgericht erhalten hätten. Der gesetzliche Ausschluss ei-
ner aufschiebenden Wirkung von Rechtsmitteln bei Abschiebungen in angeblich
sichere Drittstaaten oder Mitgliedstaaten der EU nach § 34a des Asylverfahrens-
gesetzes ist nach dem Urteil des EGMR vom 21. Januar 2011 zwingend zu
ändern und in der Praxis nicht mehr anzuwenden.

Das Grundprinzip der Dublin-II-Verordnung, wonach im Regelfall derjenige
Mitgliedstaat zur Aufnahme und Durchführung eines Asylverfahrens verpflich-
tet ist, der eine unerlaubte Ersteinreise in die EU nicht verhindert oder durch Vi-
sumerteilung „verursacht“ hat, ist zutiefst unsolidarisch und sorgt dafür, dass die

südlichen und östlichen Randstaaten der EU überdurchschnittlich belastet wer-
den. Dies trägt dazu bei, dass sich diese Länder umso rigider abschotten – wie

Drucksache 17/4679 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
der erste Einsatz eines FRONTEX-Einsatzteams und der geplante Mauerbau an
der griechisch-türkischen Grenze, aber auch die Zusammenarbeit und geplante
Rückübernahmeabkommen mit Ländern wie Libyen oder auch die Türkei, in
denen nicht einmal die Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt gilt, und
illegale Massen-Zurückschiebungen auf Hoher See aufgegriffener Flüchtlinge
nach Libyen durch Italien zeigen. Erforderlich ist stattdessen ein Prinzip der
Verantwortungsteilung, das den Wünschen der Schutzsuchenden weitest mög-
lich Rechnung trägt und im Übrigen einen Ausgleich innerhalb der EU entspre-
chend der Größe und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten
vornimmt.

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