BT-Drucksache 17/4671

Solidarität mit den Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern - Beendigung der deutschen Unterstützung von Diktatoren

Vom 8. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4671
17. Wahlperiode 08. 02. 2011

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Jan van Aken, Christine Buchholz, Dr. Diether
Dehm, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko,
Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln),
Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Solidarität mit den Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern –
Beendigung der deutschen Unterstützung von Diktatoren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die durch die öffentliche Selbsttötung des jungen, tunesischen Straßenhänd-
lers Mohamed Bouaziz in Sidi Bouzid ausgelösten Proteste in Tunesien,
Ägypten, Algerien, Libyen, Jordanien, Syrien, Saudi-Arabien und im Jemen
haben das Potential, die autoritäre Gesellschaftsordnung dieser Staaten
grundlegend zu verändern. Der Deutsche Bundestag solidarisiert sich mit den
demokratischen Bewegungen weltweit.

2. Hunderttausende Menschen in Tunesien konnten sich mit dem Schicksal von
Mohamed Bouaziz, der arbeitslos war und dessen auf Kredit gekaufte Waren
von der Polizei beschlagnahmt wurden, identifizieren. Das repressive Vorge-
hen der Sicherheitskräfte zuerst in Tunesien und nun in Ägypten und vielen
anderen Ländern der Region tut das ihre, um Millionen Menschen in der
Region zum Widerstand gegen ihre Regime zu ermutigen. Nach der Flucht
des Präsidenten Ben Ali aus Tunesien wurde eine Übergangsregierung einge-
setzt und mehrfach umgestellt, doch die Proteste halten an. Sie wenden sich
gegen die Präsenz der Anhänger des alten Regimes in der Übergangsregie-
rung und der Verwaltung.

3. Die Proteste werden von nahezu allen Schichten der Bevölkerung getragen
und fordern eine Verbesserung der Lebensbedingungen und die demokrati-
sche Öffnung der jeweiligen Systeme. Die Regierungen Algeriens, Tunesiens,
Ägyptens und des Jemen sind in der Vergangenheit äußerst repressiv gegen
jede Oppositionsbewegung vorgegangen. Von Versammlungs- und Koali-
tionsfreiheit kann in den betroffenen Staaten keine Rede sein. Parteien und
Organisationen wurden verboten, tausende Menschen ohne Anklage inhaf-
tiert und gefoltert und Demonstrationen unter Anwendung tödlicher Gewalt
aufgelöst. Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen

haben auf die schweren Menschenrechtsverletzungen seit Jahren hingewie-
sen. Die USA, Deutschland und die EU haben auf all diese Hinweise nicht
reagiert und die autoritären Systeme weiterhin unterstützt. Dies hat das An-
sehen Europas und der USA bei der Bevölkerung der betroffenen Staaten zu
Recht schwer beschädigt.

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4. Den USA, der EU und ihren Mitgliedstaaten galten die autoritären Regime in
Nordafrika als Garanten von Stabilität und als Verbündete im „Krieg gegen
den Terror“ und im „Kampf gegen die illegale Migration“. Deshalb ließen sie
ihnen freie Hand bei der Unterdrückung der Opposition und unterstützten
diese insbesondere, wenn es sich um vermeintlich islamistische Bewegungen
handelte.

5. Tunesien, Ägypten, Algerien, Jordanien und Jemen erhielten in den letzten
fünf Jahren polizeiliche Ausstattungshilfe durch das Bundeskriminalamt
(BKA) (Bundestagsdrucksache 17/766); Verbindungsbeamte des BKA hal-
ten sich gegenwärtig zumindest in Ägypten, Tunesien, Marokko und Jorda-
nien auf (Schenk, Dieter: Jemand muss das Schweigen brechen. Über die Zu-
sammenarbeit des BKA mit Folterstaaten, in: Martin H. W. Möllers/Robert
Chr. van Ooyen: Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2010/2011). Jemen, Tune-
sien und Marokko erhielten zusätzlich militärische Ausstattungshilfe, in de-
ren Rahmen auch Militärberater und Militärberaterinnen der Bundeswehr die
jeweiligen Streitkräfte unterstützten. Gegenüber Ägypten wurde im Januar
2009 ein umfangreiches Programm zur „Beratung, Ausbildung und Ausstat-
tungshilfe“ für die Grenzsicherung durch die Armee in Aussicht gestellt, wel-
che auch die „systematische Überwachung des Hinterlands“ ermöglichen
sollte. Soldaten der tunesischen, ägyptischen und der algerischen Streitkräfte
wurden an der Führungsakademie und anderen Ausbildungseinrichtungen
der Bundeswehr fortgebildet. Im Mai 2010 besuchte eine Delegation der
ägyptischen Armee die Offiziersschule der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck.
Im letzten Rüstungsexportbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2009
finden sich Algerien, Tunesien, Ägypten und Jemen als Empfänger konven-
tioneller deutscher Rüstungsexporte. Ägypten gilt mittlerweile als bedeu-
tendstes Entwicklungsland unter den Empfängern deutscher Waffenexporte,
die sich alleine zwischen 2008 und 2009 auf über 77 Mio. Euro mehr als ver-
doppelt haben. Darunter waren 2009 auch 884 Maschinenpistolen, wie sie die
ägyptische Polizei verwendet. Bislang hat sich die Bundesregierung gewei-
gert, Aussagen zu den Exporten von Tränengas und Wasserwerfern in die be-
treffenden Länder zu treffen (vgl. etwa Bundestagsdrucksache 16/9398); auf
Fotos von den Demonstrationen in Kairo konnte jedoch ein Wasserwerfer aus
deutscher Produktion im Einsatz gegen Demonstranten identifiziert werden
(Berliner Zeitung vom 3. Februar 2011).

6. Deutschland darf sich nicht von seinen ökonomischen Interessen leiten
lassen. Ägypten dient Deutschland als Absatzmarkt für Maschinenteile, die
Kfz-, Elektronik- und IT-Industrie sowie als Rohstofflieferant; zudem gilt es
als wachsender Markt für erneuerbare Energien und Atomkraft. Deutschland
exportierte 2009 Waren im Wert von 3,2 Mrd. US-Dollar nach Ägypten und
ist damit drittgrößter Exporteur nach Ägypten. Importiert wurden Waren im
Wert von 1,16 Mrd. Euro, mehr als die Hälfte davon mineralische Brenn-
stoffe. Auch für Tunesien ist Deutschland drittgrößter Handelspartner und
Abnehmer insbesondere von elektronischen Produkten, die dort weiterverar-
beitet werden. In Tunesien stehen zusätzlich umfangreiche Privatisierungs-
programme und Investitionsprogramme im Bereich der erneuerbaren Ener-
gien und der Atomkraft an, von denen deutsche Investoren profitieren
wollen.

7. In Tunesien und Marokko wird die Einführung der Atomkraft von der EU im
Rahmen der euro-mediterranen Partnerschaft (EUROMED) unterstützt, wel-
che auch eine engere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus
und die Einrichtung einer Freihandelszone vorsieht. Neben der EUROMED
unterstützt die EU die nordafrikanischen Staaten insbesondere im Rahmen
des „Kampfes gegen die illegale Migration“ und bei der „Bekämpfung des

Terrorismus“. Es werden unter anderem ein Studienzentrum zum Terroris-

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mus (CAERT) in Algerien und ein Innovationsfonds in Ägypten für Reaktor-
sicherheit, Satellitentechnologie und IT-Sicherheit finanziert.

8. Die gegenwärtigen Proteste beweisen, dass auch in den arabischen Staaten
der Ruf nach demokratischen Reformen nicht zum Schweigen zu bringen ist,
und demontieren damit die angeblichen Konfliktlinien zwischen Demokratie
und arabischer Welt. Die Forderung der ägyptischen demokratischen Bewe-
gungen nach Rücktritt von Präsident Hosni Mubarak ist völlig berechtigt. Sie
haben damit das Potential, zu einer friedlicheren Weltordnung beizutragen.
Zugleich entlarven sie die falsche Ausrichtung der europäischen und US-
amerikanischen Außenpolitik. Eine sofortige Beendigung der Unterstützung
für die autoritären Regime in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel
kann zu einer tatsächlichen Demokratisierung des Maghreb und des Nahen
und Mittleren Ostens beitragen und somit auch bestehende Konflikte ent-
schärfen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. jegliche Unterstützung insbesondere Waffenlieferungen, Ausbildungs- und
Ausstattungshilfe für Polizei und Militär für die autoritären Regime in Ägyp-
ten, Algerien, Libyen, Jordanien, Jemen, Marokko und Saudi-Arabien unver-
züglich einzustellen;

2. im Rat der Europäischen Union aktiv zu werden, damit die Europäische
Union einen grundlegenden Wechsel zu einer demokratischen und fried-
lichen Außenpolitik gegenüber den arabischen Staaten vollzieht;

3. im NATO-Rat darauf hinzuwirken, dass die Polizei- und Militärhilfe gegen-
über Ländern mit autoritären Regimen in der arabischen Welt eingestellt
wird;

4. sich für den unverzüglichen Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Hosni
Mubarak öffentlich auszusprechen;

5. jegliche Gewalt gegen Demonstrationen aufs Schärfste zu verurteilen;

6. im UN-Sicherheitsrat eine Verurteilung der Gewalt in Ägypten, Algerien,
Libyen, Jordanien, Jemen, Marokko und Saudi-Arabien gegen Oppositio-
nelle, Demonstrantinnen und Demonstranten zu erwirken;

7. den Export von Ausrüstungsgegenständen für Polizei-, Geheimdienst-, und
Gendarmeriekräften, insbesondere von Schlagstöcken, Tränengas und Was-
serwerfern (sowie deren Komponenten) in Länder mit autoritären Regimen
zu untersagen, deren Ausfuhr zu erfassen und dem Bundestag hierüber regel-
mäßig Bericht zu erstatten;

8. jegliche Hilfe bei der Einführung der Atomkraft in Drittstaaten, insbesondere
solche Länder mit autoritären Regimen, einzustellen, für die Zukunft auszu-
schließen und dies auch von der EU im Rahmen der EUROMED einzufor-
dern;

9. Lebensmittelengpässe in der Region durch Hilfslieferungen abzumildern.

Berlin, den 8. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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