BT-Drucksache 17/4611

Haltung der Bundesregierung zum medizinisch begründeten Eigenanbau von Cannabis

Vom 28. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4611
17. Wahlperiode 28. 01. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,
Elisabeth Scharfenberg, Volker Beck (Köln), Katrin Göring-Eckardt,
Sven-Christian Kindler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Haltung der Bundesregierung zum medizinisch begründeten Eigenanbau
von Cannabis

Das Verwaltungsgericht Köln hat am 21. Januar 2011 der Klage eines Patienten
mit Multiple Sklerose stattgegeben (Az. 7 K 3889/09) und einen ablehnenden
Bescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
als „rechtswidrig“ verworfen. Es lägen keine zwingenden Gründe für die Ableh-
nung des Antrags vor.

Der klagende Patient hatte beim BfArM eine Ausnahmegenehmigung nach § 3
Absatz 2 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) zum Eigenanbau von Cannabis
beantragt, weil er die monatlichen Kosten von bis zu 1 500 Euro für den Erwerb
von Cannabisblüten oder eines Cannabisextraktes nicht tragen kann. Während
das zuständige BfArM dem Widerspruch des Klägers stattgeben und die Erlaub-
nis (im Widerspruchsverfahren) erteilen wollte, wies das Bundesministerium für
Gesundheit (BMG) das BfArM an, einen ablehnenden Widerspruchsbescheid zu
erlassen (vgl. Schreiben des BfArM an das BMG vom 26. Februar 2010 und
Schreiben des BMG an das BfArM vom 16. Juli 2010). Das BMG argumentierte
in seinem oben genannten Schreiben, der Anbau solle versagt werden, denn für
den Patienten ständen Therapiealternativen zur Verfügung, die Arzneimittel-
und Therapiesicherheit sei beim Eigenanbau etwa aufgrund nicht bekannten
Wirkstoffgehaltes nicht gegeben, der Einbau eines „Einmauerschrankes“ oder
die Anschaffung eines Stahlschutzschrankes mit einem Widerstandsgrad I
oder höher sei notwendig und die Genehmigung des Eigenanbaus stelle einen
Verstoß gegen die Artikel 25 und 28 des Suchtstoffübereinkommens von 1961
(ÜK 1961) dar (§ 5 Absatz 2 BtMG). Demgegenüber hatte das BfArM geäußert
(vgl. Schreiben des BfArM an das BMG vom 29. Juni 2010), die Anschaffung
eines Wertschutzschrankes sei „unverhältnismäßig und nicht erforderlich“, aus
„fachlicher Sicht“ seien Schwankungen des Tetrahydrocannabinol-(THC)-
Wirkstoffgehaltes eher gering, der vom Kläger beantragte Eigenanbau sei eine
kostengünstige Therapiealternative, die Entscheidung gemäß § 5 Absatz 2
BtMG (Versagung einer Erlaubnis wegen Widerspruch zu internationalen Ab-
kommen) sei eine Kann-Vorschrift und der Artikel 23 Absatz 2 des Suchtstoff-

übereinkommens von 1961 (ÜK 1961) sei auf die Erteilung einer Einzelerlaub-
nis zu medizinischen Zwecken nicht anwendbar.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Aus welchen Gründen hat das BMG das BfArM angewiesen, einen ablehnen-
den Widerspruchsbescheid zu erlassen?

Drucksache 17/4611 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Welches sind die vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverwaltungs-
gerichtes (BVerwG) vom 19. Mai 2005 (Az. 3 C 17/04) vorhandenen ohne
weiteres verfügbaren und für den normalen Bürger erschwinglichen „Thera-
piealternativen“, die das BMG in seinem Schreiben vom 16. Juli 2010 an das
BfArM als Versagensgrund benennt?

3. Hält die Bundesregierung die in einem Schreiben des BfArM an das BMG
vom 26. Februar 2010 genannten monatlichen Kosten im Einzelfall für den
Kauf von Cannabisblüten von 450 bis 630 Euro bzw. für den Erwerb eines
Cannabisextraktes von bis zu 1 500 Euro monatlich (jeweils vor dem Hinter-
grund einer entsprechenden Ausnahmegenehmigung des BfArM nach § 3
Absatz 2 des BtMG) als für den Normalbürger erschwinglich und ohne Wei-
teres verfügbar im Sinne des Urteils des BVerwG vom 19. Mai 2005?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus bei
der Bescheidung von Anträgen nach § 3 Absatz 2 BtMG zum Eigenanbau
zu medizinischen Zwecken?

4. a) Wie begegnet die Bundesregierung vor dem Hintergrund dieser monat-
lichen Therapiekosten dem Vorwurf der Zwei-Klassen-Medizin?

b) Hält die Bundesregierung vor dem Hintergrund dieser Kosten an ihrer
Feststellung fest (vgl. Bundestagsdrucksache 17/3810), dass vermögende
Patienten bei der Verwendung eines auf der Grundlage einer Ausnahme-
genehmigung nach § 3 Absatz 2 BtMG erworbenen Cannabismedikamen-
tes nicht besser gestellt seien als weniger Vermögende?
Wenn nein, welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus?
Wenn ja, auf welchem Wege sind vorgenannte Cannabismedikamente für
Menschen mit geringem Einkommen erschwinglich, wenn diese nicht an
einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit
leiden und somit nach einem dem Urteil des Bundessozialgerichtes vom
27. März 2007 (Az. B 1 KR 30/06 R) keine Kostenerstattung durch ihre
Krankenkasse erhalten können?

5. Welche Haltung hat die Bundesregierung zu einer Gesetzesregelung, durch
die schwerstkranke Patienten, die nicht an einer regelmäßig tödlich verlaufen-
den Krankheit in einem weit fortgeschrittenen Stadium leiden, deren Sym-
ptome aber durch Standardtherapien nicht zu lindern sind, einen Anspruch
auf Kostenübernahme für Medikamente im Off-Label- oder No-Label-Use
gegen die Krankenkasse erhalten würden, wenn diese Medikamente von
einem Arzt verschrieben werden?

6. a) Trifft es zu, dass das BMG in einem Schreiben an das BfArM als Teil einer
Versagensbegründung herangeführt hat, dass der Kläger nicht versucht
habe, die Kostenerstattung für Dronabinol durch die Krankenkasse vor
dem Sozialgericht zu erreichen (vgl. Schreiben des BMG an das BfArM
vom 3. März 2010)?
Wenn ja, wie verträgt sich dies mit der Tatsache, dass das Bundessozial-
gericht im konkreten Fall des Klägers, anders als vom BMG behauptet, ei-
nen Anspruch auf Kostenübernahme durch die Krankenkasse abgelehnt
hat (Az. B1 KR 51/03 B)?

b) Wie verträgt sich die Argumentation der Bundesregierung mit dem Urteil
des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19. Mai 2005, nach dem der Ver-
weis auf ein Arzneimittel, das weder ohne Weiteres verfügbar noch für
den normalen Bürger erschwinglich sei, keine Alternative sei, die das
öffentliche Interesse am Einsatz von Cannabis entfallen lasse?
7. a) Trifft es zu, dass das BfArM in einem Schreiben an das BMG vom
26. Februar 2010 eine Versagung des Antrags aus Gründen der Qualität

14. Wird die Bundesregierung (für die Bundesrepublik Deutschland) Berufung
gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtes Köln einlegen?

Berlin, den 28. Januar 2011
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4611

des Pflanzenmaterials nicht als geboten ansah und die Forderung nach
Arzneibuchqualität als „unverhältnismäßig und sachlich nicht geboten“
bezeichnete?

b) Welche konkret benennbaren und durch Auflagen nicht vermeidbaren
oder wenigstens verringerbaren gesundheitlichen Risiken (zum Beispiel
Verunreinigungen, Gefahr einer Über- oder Unterdosierung) sprechen
aus Sicht der Bundesregierung gegen die Genehmigung zum Eigen-
anbau?

8. Trifft es zu, dass das BMG in einem Schreiben an das BfArM vom 16. Juli
2010 den Wirkstoffgehalt, die Qualität und die Menge des im Einzelfall
angebauten und gelagerten Wirkstoffes als nicht bekannt bezeichnet hat und
eine Dosierempfehlung dem Arzt daher unmöglich sei?

Wenn ja, warum kann der Wirkstoffgehalt, die Qualität und die Menge des
im Einzelfall angebauten Cannabismedikamentes nach Auffassung der
Bundesregierung nicht durch entsprechende Auflagen der Erlaubnisbe-
hörde eingegrenzt werden?

9. a) Trifft es zu, dass die Bundesregierung „schwerwiegende Nebenwir-
kungen, wie z. B. epileptische Anfälle“ bei Überdosierungen als mög-
liche Versagensgründe genannt hat (vgl. Schreiben des BMG an das
BfArM vom 16. Juli 2010)?

b) Welche wissenschaftlichen Untersuchungen können diese vermuteten
Nebenwirkungen für welche Patientengruppe belegen und für wie wahr-
scheinlich ist aufgrund dieser Untersuchungen deren Auftreten?

c) Welche zugelassenen und apothekenpflichtigen Medikamente sind der
Bundesregierung bekannt, die bei einer Überdosierung keine schweren
bzw. vergleichbaren Nebenwirkungen verursachen?

10. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass es sich bei § 5
Absatz 2 BtMG (Versagen der Genehmigung aufgrund internationaler
Suchtstoffübereinkommen) um eine Kann-Bestimmung handelt, die ein
Ermessen der jeweiligen Behörde eröffnet?
Wenn nein, warum nicht?

11. Trifft es zu, dass die Bundesregierung den angeblichen Verstoß gegen inter-
nationales Recht (Artikel 28 und Artikel 23 ÜK 1961) in einem Schreiben an
das BfArM vom 16. Juli 2010 und die „enge Zusammenarbeit“ mit dem In-
ternationalen Suchtstoffkontrollrat (INCB) als Versagensgründe genannt hat?

12. Wie bewertet die Bundesregierung die in einem Gutachten von Prof.
Dr. Lorenz Böllinger vom 28. April 2010 vertretene Rechtsaufassung, dass
sich weder durch wörtliche, systematische oder historische Auslegung noch
durch die teleologische Auslegung des Suchtstoffübereinkommens von 1961
die Notwendigkeit der Schaffung einer nationalen Cannabisagentur bei
einem im Einzelfall erlaubten Cannabisanbau zu medizinischen Zwecken
begründen lasse?

13. Warum ist die Bundesregierung der Auffassung, dass der Eigenanbau von ge-
ringen Mengen Cannabis zu medizinischen Zwecken durch einen oder eine
geringe Zahl weiterer Patienten aus sachlichen Gründen die Errichtung einer
nationalen Überwachungs- bzw. Cannabisagentur zum Aufkauf der Ernte er-
fordert (vgl. Schreiben des BMG an das BfArM vom 19. März 2010)?
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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