BT-Drucksache 17/4599

Die Konstruktion sogenannter Integrationsverweigerung

Vom 27. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4599
17. Wahlperiode 27. 01. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Ulrich Maurer, Wolfgang
Neskovic, Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma und der Fraktion DIE LINKE.

Die Konstruktion sogenannter Integrationsverweigerung

Der Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière, erklärte in der ARD-
Sendung „Bericht aus Berlin“ vom 5. September 2010 im Zusammenhang der
verpflichtenden Teilnahme an Integrationskursen, dass es „vielleicht 10 bis 15
Prozent wirkliche Integrationsverweigerer“ gebe, um die man sich verstärkt
kümmern müsse. Nach Einschätzung des neuen Präsidenten des Bundesamtes
für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Dr. Manfred Schmidt, kann jedoch nur
etwa 1 Prozent der Migranten mit dem Etikett „Integrationsverweigerer“ belegt
werden (epd-Gespräch vom 9. Januar 2011).

Als vermeintlicher Beleg für eine Integrationsverweigerung wird immer wieder
der Abbruch von bzw. das Nichterscheinen bei verpflichtenden Integrationskur-
sen herangezogen. Die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel sprach in diesem
Zusammenhang von vielen „Vollzugsdefiziten“ und kündigte eine entspre-
chende Überprüfung der Sanktionspraxis sowie „Strenge und striktes Fordern“
an (Plenarprotokoll 17/58, S. 6046 (C)). Die CDU beschloss auf ihrem 23. Par-
teitag im November 2010, dass es „in Fällen von Integrationsverweigerung […]
keine Toleranz mehr geben“ dürfe, und auch dies bezog sich auf die Teilnahme-
pflicht an Integrationskursen.

Dies steht allerdings im Widerspruch zu Antworten der Bundesregierung auf
Schriftliche Fragen der Fraktion DIE LINKE. von vor über einem Jahr. Dem-
nach kann eine Aussage, ob es sich bei denjenigen, die einer Verpflichtung zum
Sprachkurs nicht nachkommen oder diesen abbrechen „um ‚Verweigerer‘ han-
delt, […] nicht getroffen werden“, weil die vielfältigen Gründe für eine Nicht-
teilnahme statistisch nicht erfasst werden (Bundestagsdrucksache 16/14157,
S. 5). Damit dementierte die Bundesregierung die Aussage des damaligen stell-
vertretenden Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU Wolfgang Bosbach, wo-
nach es rund 40 Prozent „Kurs-Verweigerer“ bei Integrationskursen gebe. Der
Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern Dr. Christoph
Bergner erklärte im Oktober 2009 zudem: „Bei den Sanktionsmöglichkeiten bei
Verletzung der Teilnahmepflicht an einem Integrationskurs sieht die Bundes-
regierung keine Notwendigkeit für gesetzliche Änderungen“ (ebd., S. 10).
Dessen ungeachtet werden solche gesetzlichen Änderungen aktuell von der
Bundesregierung angestrebt (vgl. Bundestagsdrucksache 17/4401). Empirische
Erkenntnisse können diesen Meinungswandel nicht begründen: Die Fraktion
DIE LINKE. erkundigte sich bereits im Mai 2009 nach der Sanktionspraxis bei
einer Integrationskursverweigerung, und die Bundesregierung musste einräu-
men, über keinerlei entsprechende Erkenntnisse zu verfügen (vgl. Bundestags-
drucksache 16/12979, Antworten zu den Fragen 11 bis 13). In einer erneuten

Drucksache 17/4599 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Kleinen Anfrage regte die Fraktion DIE LINKE. eine Länderabfrage an, um die
entsprechenden Informationen zu erhalten (vgl. Bundestagsdrucksache 17/3147).
Selbst nachdem die Länderangaben zur „Sanktionierung integrationswidrigen
Verhaltens“ Informationen vorlagen, wurden sie der Fraktion DIE LINKE. je-
doch – auch auf Nachfragen (vgl. z. B. Plenarprotokoll 17/70, S. 7546 ff.) – vor-
enthalten, weil sie zunächst auf der Innenministerkonferenz (IMK) besprochen
werden müssten. Das Bundesministerium des Innern (BMI) stellte die Zahlen
dann erst auf weitere Nachfrage am 2. Dezember 2010 zur Verfügung (Aus-
schussdrucksache 17(4)140): Die These einer verbreiteten Integrations(kurs)ver-
weigerung stützen sie nicht – im Gegenteil.

Trotz der Unvollständigkeit der Angaben lassen sich folgende Ergebnisse fest-
halten: Fünf Bundesländer erklärten explizit, dass von aufenthaltsrechtlichen
Sanktionen deshalb kein Gebrauch gemacht werde, weil es im Zusammenhang
mit der Integrationskursteilnahme kein vorwerfbares Verhalten in nennenswer-
tem Umfang gebe (so auch der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundes-
minister des Innern, Dr. Ole Schröder, in einem Schreiben vom 3. November
2010 an die Fraktion DIE LINKE.). Andere Bundesländer gaben hierzu keine
oder keine klare Auskunft, aber auch aus ihren Angaben lässt sich schließen,
dass es dort allenfalls wenige Ausnahmefälle gibt.

Insgesamt gab es im Jahr 2009 etwa 20 000 statistisch erfasste Verpflichtungen
zur Integrationskursteilnahme (Bremen und Baden-Württemberg machten keine
Angaben, mehrere Bundesländer äußerten sich nicht zu Verpflichtungen durch
Sozialhilfeträger). Aus den zum Teil ausführlichen Auskünften anderer Bundes-
länder lässt sich aber schließen, dass knapp zwei Drittel aller Verpflichtungen
darauf beruhen dürften, dass Betroffene nach der Ersteinreise (etwa im Rahmen
des Familiennachzugs) noch nicht über ausreichende Deutschkenntnisse ver-
fügen. Etwa ein Drittel der Verpflichtungen erfolgt im Rahmen von Eingliede-
rungsvereinbarungen der Sozialhilfeträger, weitere 3 Prozent beruhen auf Ver-
pflichtungen durch Ausländerbehörden wegen angeblicher „besonderer Integra-
tionsbedürftigkeit“.

Zugleich wurden bundesweit im Jahr 2009 lediglich 598 Verletzungen der Teil-
nahmepflicht behördlich erfasst (ohne Baden-Württemberg, mehrere Bundes-
länder erklärten, dass es „um wenige Ausnahmefälle“ ginge). In 71 dieser 598
Fälle wurde ein Bußgeld nach § 98 Absatz 2 Nummer 4 des Aufenthaltsgesetzes
(AufenthG) verhängt, in 19 Fällen wurde Verwaltungszwang zur Durchsetzung
der Teilnahmepflicht angewandt. Vier Mal wurde eine Verlängerung der Aufent-
haltserlaubnis wegen verletzter Teilnahmepflicht abgelehnt, in einem Fall wurde
diese Maßnahme bestandskräftig. In keinem einzigen Fall wurde 2009 wegen
Verletzung der Pflicht zur Integrationskursteilnahme eine Ausweisung ausge-
sprochen.

Setzt man die erfassten maximal 100 Fälle, in denen ein Bußgeld oder andere
Zwangsmaßnahmen verhängt wurden, ins Verhältnis zu 20 000 erfassten Ver-
pflichtungen, ergibt sich rechnerisch eine Quote „wirklicher Integrationskurs-
verweigerung“ in Höhe von etwa 0,5 Prozent.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche „interessierte Seite“ meinte der Bundesminister des Innern, als er am
27. Oktober 2010 im Parlament behauptete, seine Aussagen zu den 10 bis 15
Prozent wirklichen Integrationsverweigerern seien „anders berichtet“ wor-
den und er habe in diesem Zusammenhang immer von Muslimen (und nicht
von Migranten) gesprochen (Plenarprotokoll 17/67, S. 7106 (B))?

a) Wie erklärt sich der Bundesminister des Innern, dass in den Medien und

Presseorganen seine Aussage anders als von ihm angeblich getätigt wie-
dergegeben wurde (vgl. Bundestagsdrucksache 17/3008, S. 7 f.)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4599

b) Wie erklärt sich der Bundesminister des Innern, dass auch sein Parla-
mentarischer Staatssekretär ihn so verstanden hat (vgl. Bundestagsdruck-
sache 17/3008, S. 7 f.), und welches Interesse verfolgt dieser, da insofern
auch er zur „interessierten Seite“ gerechnet werden muss?

c) Wieso bezog sich der Bundesminister des Innern nach seiner eigenen Aus-
sage nur auf Muslime, da es doch bei seiner Erklärung um die (Nicht-)
Teilnahme an Integrationskursen ging?

d) Wieso hat der Bundesminister des Innern im Interview mit „DER TAGES-
SPIEGEL“ (erschienen am 26. Oktober 2010) auf die Frage, „Herr Minis-
ter, Sie sagen, zehn bis 15 Prozent der Migranten seien integrationsunwil-
lig. Was wollen Sie dagegen unternehmen?“ nicht richtiggestellt, dass sich
seine Angabe nur auf Muslime bezogen haben soll, während ihm diese
Richtigstellung im Deutschen Bundestag tags darauf so wichtig erschien?

2. Wie ist es zu erklären, dass der Bundesminister des Innern am 27. Oktober
2010 im Deutschen Bundestag erklärte, es müsse „ein Datenaustausch zwi-
schen dem Träger eines Kurses und den zuständigen Behörden möglich wer-
den“ und dies müsse sich ändern (Plenarprotokoll 17/67, S. 7106 (C)), ob-
wohl dieser Datenaustausch bereits nach geltender Rechtsgrundlage möglich
ist (vgl. § 8 der Integrationskursverordnung) und der Bundesminister deshalb
zuvor noch selbst erklärt hatte, dass die Datenübermittlungsregelungen, „die
bislang nur in einer Rechtsverordnung […] enthalten sind“, nunmehr „ge-
setzlich geregelt“ werden sollen (a. a. O., S. 7103 (C))?

a) Bedeutet die geplante Verankerung der Datenübermittlung im Aufent-
haltsgesetz, dass die bislang nur auf einer Verordnung beruhende Daten-
übermittlung rechtswidrig bzw. verfassungswidrig erfolgt, da das Grund-
recht auf informationelle Selbstbestimmung entsprechende Eingriffe nur
auf gesetzlicher Grundlage zulässt (bitte ausführen; auch die Begründung
zu § 88a Absatz 1 AufenthG auf Bundesratsdrucksache 704/10 lässt sol-
che Bedenken erkennen), und welche Konsequenzen folgen hieraus?

b) Wird sich durch die geplante gesetzliche Normierung in § 88a AufenthG
in der Praxis, in der Form oder im Umfang der Datenübermittlung Sub-
stantielles ändern, und wenn ja, was (bitte ausführen)?

3. Auf welche Erkenntnisse genau stützte sich der Bundesminister des Innern,
als er am 27. Oktober 2010 im Deutschen Bundestag erklärte, es liege „un-
streitig“ bzw. „offensichtlich ein Vollzugsdefizit“ bezüglich aufenthaltsrecht-
licher Sanktionen bei Nichtteilnahme an Integrationskursen vor (Plenarproto-
koll 17/67, S. 7106 (D))?

a) Wie ist diese Aussage damit zu vereinbaren, dass er nur kurz zuvor noch
erklärte, es gebe diesbezüglich „keine klaren Erkenntnisse“ (a. a. O.)?

b) Wie ist diese Aussage damit zu vereinbaren, dass sein Parlamentarischer
Staatssekretär nur wenig später erklärte, dass es „noch einer eingehenden
Analyse“ bedürfe, inwieweit der Umstand, dass von ausländerrechtlichen
Sanktionstatbeständen „vielfach nur in geringem Umfang Gebrauch ge-
macht wird“, „auf nachvollziehbaren rechtlichen oder praktischen Grün-
den beruht oder als Indiz für ausländerbehördliche Vollzugsdefizite anzu-
sehen ist“ (a. a. O., S. 7122 (A))?

c) Hat der Bundesminister des Innern in Betracht gezogen, dass es vor allem
deshalb nicht zu aufenthaltsrechtlichen Sanktionen kommen könnte, weil
es kein vorwerfbares Integrationskursverweigerungsverhalten in nennens-
wertem Umfang gibt, und wenn nein, warum nicht, und wenn ja, weshalb
werden entsprechende Vollzugsdefizite und eine angebliche Integrati-
ons(kurs)verweigerung öffentlich beklagt, obwohl es hierfür keine schlüs-

sigen Anhaltspunkte gibt (bitte, wie immer, alle Unterfragen getrennt be-
antworten)?

Drucksache 17/4599 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

4. Wenn der Bundesminister des Innern tatsächlich von 10 bis 15 Prozent mus-
limischen Integrationsverweigerern gesprochen (oder diese im Sinn gehabt)
haben sollte, wie hoch ist dann nach Auffassung des Bundesministeriums
die „Verweigerer-Quote“ bei Einwanderinnen und Einwanderern insgesamt?

a) Auf welche Studien, empirischen Angaben und Erkenntnisse stützt sich
das Bundesministerium dabei?

b) Welche relevanten Unterschiede gibt es zwischen muslimischen und nicht-
muslimischen Einwanderinnen und Einwanderern, wenn es um die Frage
der Integrationsverweigerung geht, und wie lassen sich diese möglichen
Unterschiede durch die Religion erklären, oder spielen vielmehr sozio-
ökonomische, bzw. bildungs- und schichtenspezifische Unterschiede dies-
bezüglich eine entscheidende Rolle (bitte darlegen)?

5. Wie genau lautet die Quellenangabe für die „große Studie über islamisches
Leben in Deutschland von Faruk Sen“, auf die sich der Bundesminister des In-
nern im Deutschen Bundestag zur Begründung seiner These von 10 bis 15 Pro-
zent muslimischen Integrationsverweigerern bezog (Plenarprotokoll 17/67,
S. 7110 (B)), und um welche Aussage(n) geht es dabei?

6. Auf welche empirischen Daten bezog sich der Bundesminister des Innern,
als er im Deutschen Bundestag von „[u]ngefähr 30 Prozent der Teilnehmer“
sprach, die einen Integrationskurs abbrächen oder ihn nicht erfolgreich zum
Abschluss brächten (Plenarprotokoll 17/67, S. 7106 (C))?

7. Lässt nach Ansicht der Bundesregierung der Umstand, dass Personen einen
Integrationskurs abbrechen oder ihn trotz einer Verpflichtung nicht innerhalb
einer bestimmten Zeit beginnen, die Schlussfolgerung zu, dass es sich bei die-
sen Personen um „Integrationsverweigerer“ oder „Integrationskursverweige-
rer“ handelt (bitte ausführen)?

a) Wenn nein, wie erklärt sich die Bundesregierung, dass dieser Umstand in
der Öffentlichkeit immer wieder mit einer angeblichen Integrationsver-
weigerung in Verbindung gebracht wird?

b) Wenn ja, wie ist dies zu vereinbaren mit der Antwort des Parlamentari-
schen Staatssekretärs Dr. Christoph Bergner (vgl. Bundestagsdrucksache
16/14157, S. 5), wonach eine solche Aussage wegen der vielfältigen – sta-
tistisch nicht erfassten – Gründe für einen Kursabbruch oder fehlenden
Kursbeginn nicht getroffen werden könne, und warum gilt diese Antwort
nicht mehr?

c) Inwieweit ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die (auch in An-
betracht aller statistischen Ungenauigkeiten und Lücken) bei türkischen
– im Vergleich zu anderen – Staatsangehörigen feststellbare überdurch-
schnittliche und nominal über 100 Prozent liegende Integrationskursteil-
nahme nach einer entsprechenden Verpflichtung (vgl. Bundestagsdruck-
sache 16/14157, S. 8 f.) ein Indiz dafür ist, dass türkische Staatsangehö-
rige integrationswilliger sind oder ihrer Integrationskursverpflichtung
bereitwilliger nachkommen als andere (bitte ausführen), und welche
Schlussfolgerungen zieht sie hieraus?

8. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung des Präsidenten des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Dr. Manfred Schmidt,
nur etwa 1 Prozent der Migranten könne mit dem Etikett „Integrationsverwei-
gerer“ belegt werden (epd-Gespräch vom 9. Januar 2011; bitte begründen)?

a) Inwieweit teilt die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-
linge und Integration diese Einschätzung des Präsidenten des BAMF (bitte
begründen)?
b) Auf welche Erfahrungen, Argumente, Daten und empirischen Studien
stützte sich der Präsident des BAMF bei seiner Einschätzung?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/4599

c) Wie konnte der Bundesminister des Innern zu der Einschätzung gelan-
gen, bei etwa 10 bis 15 Prozent aller Migranten bzw. Muslime (je nach-
dem, was gemeint war) handele es sich um „wirkliche Integrationsver-
weigerer“, wenn der Präsident des für Integration und die Durchführung
von Integrationskursen zuständigen Bundesamtes diesen Anteil auf nur
etwa 1 Prozent schätzt und auch die vorliegenden empirischen Angaben
der Bundesländer diese Einschätzung einer allenfalls marginalen Ver-
weigerungshaltung stützen (vgl. Vorbemerkung der Fragesteller; bitte
begründen), und hält der Bundesminister des Innern an seiner Einschät-
zung fest, und wenn ja, aus welchen Gründen?

9. Wie hoch schätzt die Bundesregierung aufgrund der von den Bundeslän-
dern im Rahmen der Länderabfrage zur „Sanktionierung integrationswid-
rigen Verhaltens“ zur Verfügung gestellten statistischen Angaben ungefähr
die Zahl oder die Quote derjenigen, die einer Verpflichtung zur Integra-
tionskursteilnahme aus vorwerfbaren Gründen nicht nachkommen (vgl.
Vorbemerkung der Fragesteller; bitte begründen)?

a) Welche Erkenntnisse und Schlussfolgerungen hat die Bundesregierung
aus der genannten Länderabfrage gezogen, und inwieweit teilt sie ins-
besondere die Ausführungen in der Vorbemerkung der Fragesteller
hierzu, wonach von einer vorwerfbaren Integrationskursverweigerung in
nennenswertem Umfang keine Rede sein kann, und welche Schlussfol-
gerungen zieht sie hieraus, auch in Bezug auf die von ihr diesbezüglich
geplanten Gesetzesänderungen (bitte begründen)?

b) Inwieweit teilt die Bundesregierung angesichts der Zahl von bundesweit
0 Ausweisungen nach § 55 Absatz 2 Nummer 9 bis 11 AufenthG im Jahr
2009 die Auffassung, dass diese Rechtsgrundlagen zu Ausweisungen bei
integrationswidrigem Verhalten, die seit August 2007 bestehen, offen-
kundig an der Realität vorbeigehen und die entsprechende Gesetzesän-
derung eine rein symbolische Bedeutung hatte (bitte begründen)?

c) Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die geplanten gesetzlichen
Änderungen zur Datenübermittlung im Zusammenhang der Integrations-
kursteilnahme dazu führen werden, dass eine Integrationskursverweige-
rung in wesentlich anderer Größenordnung als etwa 1 Prozent bekannt
werden könnte, und wenn ja, worauf stützt sie sich hierbei, und wie be-
gründet sie dies?

d) Welche statistischen Erhebungen in welcher Form und in welchem Um-
fang sind künftig geplant, um genauere Erkenntnisse zu dem Umfang
einer vorwerfbaren Integrationskursverweigerung zu erhalten?

10. Auf welche Erkenntnisse oder Daten stützte der Bundesminister des Innern
folgende Aussagen im Interview mit „DER TAGESSPIEGEL“ (erschienen
am 26. Oktober 2010):

a) „Eine so starke Ausprägung von Parallelgesellschaften und eine so
große Konzentration von Migranten mit mäßigem Integrationswillen
findet man nirgendwo anders“ als in Berlin (bitte differenziert nach star-
ker „Ausprägung von Parallelgesellschaften“ und verbreitetem „mäßi-
gem Integrationswillen“ beantworten)?

b) Diese Situation in Berlin sei auch „in der Illusion von Rot-Grün und den
Linken“ begründet, „dass sich aus einem ungeordneten Nebeneinander
verschiedener Kulturen ganz natürlich ein friedliches Zusammenleben
entwickeln würde“, und diese „Multikulti-Illusion“ sei in Berlin „immer
besonders stark verbreitet“ gewesen?

Drucksache 17/4599 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

c) Was versteht der Bundesminister des Innern unter „Parallelgesellschaf-
ten“, was versteht er unter „Migranten mit mäßigem Integrationswillen“,
und woran lässt sich dieser Wille festmachen oder messen?

d) Wie begründet der Bundesminister die in Buchstabe b zitierten Ausfüh-
rungen angesichts des Umstands, dass in Berlin in den für Integrations-
versäumnisse entscheidenden 80er- und 90er-Jahren vor allem die CDU,
der die beklagte „Multikulti-Illusion“ nicht unterstellt werden kann, an
der Regierung war und den Regierenden Bürgermeister stellte?

11. Wieso hat das Bundesministerium des Innern die Angaben der Bundesländer
zur Sanktionspraxis nicht der Abgeordneten Sevim Dag˘delen zur Verfügung
gestellt, spätestens, nachdem sie auf der IMK besprochen worden waren, ob-
wohl die Abgeordnete Sevim Dag˘delen hiernach nicht nur im Rahmen einer
Kleinen Anfrage, sondern auch mehrfach mündlich (nach)gefragt hatte und
ihr eine Beantwortung nach der IMK zugesichert worden war (so auch der
Bundestagspräsident in einem Schreiben vom 18. November 2010 an die
Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion DIE LINKE., vgl.
außerdem Bundestagsdrucksache 17/3147 sowie die Plenarprotokolle 17/67,
S. 7121 ff. und 17/70, S. 7546 ff.)?

12. Welche Kenntnisse oder Schätzungen hat die Bundesregierung dazu, wie
viele Personen nach § 44a Absatz 1 AufenthG im Grundsatz zur Integra-
tionskursteilnahme verpflichtet, nach Absatz 2 jedoch wegen Unzumutbar-
keit oder einer anderen Ausbildung hiervon ausgenommen sind, und wie
wird dieser Personenkreis von den zuständigen Behörden erfasst?

13. Wie reagiert die Bundesregierung auf die Kritik an den geplanten Gesetzes-
änderungen zur Datenübermittlung im Zusammenhang der Integrations-
kursteilnahme,

a) etwa des Deutschen Anwaltvereins (Ausschussdrucksache 17(4)155,
S. 6 f.), der sowohl die geplante als auch die derzeitige Datenübermittlung
als einen Verstoß gegen Datenschutzrecht und das Grundrecht auf in-
formationelle Selbstbestimmung erachtet, weil die Kenntnisse (über die
Teilnahme an einem Integrationskurs) ohne Probleme bei den Betroffenen
selbst erhoben werden können und keine gewichtigen Gründe dem ent-
gegenstehen;

b) etwa des Deutschen Caritasverbands (Stellungnahme vom 16. Dezember
2010 zu Bundesratsdrucksache 704/10, S. 6 ff.), der die geplante ver-
pflichtende Prüfung bei jeder Verlängerung eines Aufenthaltstitels, ob
einer eventuellen Pflicht zur Integrationskursteilnahme nachgekommen
wurde, angesichts der geringen Fallzahlen als bürokratische Belastung
und als überflüssige, unverhältnismäßige und überdies die Betroffenen
unter unzutreffenden Pauschalverdacht stellende Regelung ansieht;

c) etwa des Deutschen Caritasverbands (Stellungnahme vom 16. Dezember
2010 zu Bundesratsdrucksache 704/10, S. 8 ff.), nach dem die geplante
Datenübermittlung nach § 88a AufenthG den verfassungsrechtlichen An-
forderungen der Normenbestimmtheit und -klarheit nicht gerecht wird
und überdies Kontrollmechanismen und Einverständnisregelungen für
die Betroffenen geschaffen werden müssten

(bitte alle Unterfragen, wie immer, getrennt beantworten und die Antwort
nachvollziehbar begründen)?

d) Inwieweit sind die vom Bundesrat vorgeschlagenen, den Dateneingriff
ausweitenden Änderungen zum geplanten § 88a AufenthG (vgl. insbe-
sondere die Nummern 9 und 10 auf Bundesratsdrucksache 704/1/10:
Übermittlung auch des Abschlusstestergebnisses, Übermittlung ohne Er-

suchen) nach Auffassung der Bundesregierung mit den Anforderungen
des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung vereinbar?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/4599

14. Wie ist es zu erklären, dass das Bundesministerium des Innern laut Beschluss
der IMK vom 18./19. November 2010 (zu TOP 25, Punkt 3c) gegenüber dem
Bundesministerium für Arbeit und Soziales bemüht sei, auf eine „konse-
quente Anwendung der sozialrechtlichen Sanktionsinstrumente“ hinzuwir-
ken, obwohl das BMI erst im Oktober 2010 erklärt hat (vgl. Bundestags-
drucksache 17/3339, Antworten zu den Fragen 4 und 5), dass „nicht nach-
vollzogen werden“ könne und auch „keine Erkenntnisse“ dazu vorlägen,
dass die Grundsicherungsstellen ihrem Auftrag nicht nachkämen bzw.
rechtswidrig keine Sanktionen feststellten (bitte ausführen)?

a) Warum hat der Bundesminister des Innern diese Auskunft, wonach nicht
daran gezweifelt wird, dass die Grundsicherungsstellen ihrer gesetzli-
chen Pflicht zur Sanktionierung entsprechender Verstöße auch nach-
kommen, nicht auch gegenüber seinen Länderinnenministerkollegen ge-
geben?

b) Hat das Bundesministerium des Innern seine diesbezügliche Auffassung
womöglich geändert, und geht es nunmehr davon aus, dass die Grund-
sicherungsstellen bei Pflichtverletzungen der Leistungsberechtigten
rechtswidrig handeln und keine Sanktionen ergreifen, und wenn ja, auf
welche empirischen Erkenntnisse stützt sie diesen Auffassungswandel?

15. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus neuen Studien,
die – wie z. B. die Studie der Bertelsmann Stiftung vom Dezember 2010
„Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ – zeigen, dass es bei Einstellungen
zu Familie und Beruf mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes zwischen
Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte gibt, in Bezug auf die Frage,
wie sinnvoll es ist, eine Debatte über eine vermeintliche Integrationsver-
weigerung oder Integrationsbereitschaft überhaupt bzw. nur oder insbeson-
dere in Bezug auf die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund zu
führen (auf Bundestagsdrucksache 17/3339 hat die Bundesregierung in ih-
rer Antwort zu Frage 11c eingeräumt, dass es auch in Bezug auf die Ver-
breitung „demokratiedistante[r] Einstellungen“ keinen wesentlichen Unter-
schied z. B. zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gibt)?

a) Inwieweit hält es die Bundesregierung für angezeigt, eine Debatte über die
(vermeintliche) Integrations(un)willigkeit von Menschen ohne Migra-
tionshintergrund zu führen, da nach den Ergebnissen der oben genannten
Bertelsmann-Studie diese im Vergleich zu Menschen mit Migrationshin-
tergrund ein merklich geringeres Interesse an beruflichem Fortkommen
haben?

b) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Ergebnis
der oben genannten Bertelsmann-Studie, wonach es in Haushalten mit
Personen mit Migrationshintergrund häufiger vorkommt als in anderen
Haushalten, dass überwiegend oder ausschließlich der Mann für den
Haushalt und/oder die Pflege von Kindern und/oder Angehörigen zustän-
dig ist, angesichts eines in Politik und Öffentlichkeit verbreiteten gegen-
teiligen Bildes zur Frage der geschlechtlichen Arbeitsteilung in privaten
Haushalten von eingewanderten Personen?

c) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Ergebnis
der oben genannten Bertelsmann-Studie, wonach Personen mit Migra-
tionshintergrund im Vergleich zu solchen ohne Migrationsgeschichte häu-
figer eine Kindergartenpflicht befürworten und überdies weniger der Aus-
sage zustimmen, wonach „im Grunde die Mutter nicht berufstätig sein und
ihre Kinder zu Hause erziehen“ sollte, in Bezug auf ein verbreitetes ge-
genteiliges Bild in Politik und Öffentlichkeit, wonach eine traditionelle
Mutterrolle in „Migranten-Haushalten“ womöglich stärker verbreitet sei

und wonach insbesondere Zugewanderte angeblich besonders dazu ange-
halten werden müssten, ihre Kinder in den Kindergarten zu geben?

Drucksache 17/4599 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

d) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den Ergeb-
nissen mehrerer Studien (etwa PISA oder IGLU), wonach eingewanderte
Eltern bei gleicher Schulleistung ihrer Kinder wesentlich höhere Bil-
dungsziele anstreben als einheimische Eltern, was einem verbreiteten Bild
in Politik und Gesellschaft entgegensteht, wonach Migrantinnen und Mi-
granten die Wichtigkeit von Bildungserfolgen ihrer Kinder besonders ver-
mittelt werden müsse?

16. Stimmt die Bundesregierung angesichts ihrer Antwort zu Frage 9 auf Bun-
destagsdrucksache 17/3339, wonach die Teilnahme muslimischer Schüle-
rinnen und Schüler am gemischtgeschlechtlichen Sportunterricht dem von
Schülerinnen und Schülern anderer Religionszugehörigkeit aus muslimisch
geprägten Ländern entspricht und überdies die Hauptgründe für fehlende
Teilnahmen am gemischtgeschlechtlichen Unterricht sind, dass dieser nicht
angeboten wird bzw. dass es überhaupt kein Sportangebot gibt, der Aussage
zu, dass die Frage der Teilnahme am gemischtgeschlechtlichen Sportunter-
richt nicht mit der (muslimischen) Religionszugehörigkeit der Kinder
erklärt werden kann, welche Schlussfolgerungen zieht sie hieraus ange-
sichts eines in Politik und Öffentlichkeit zumeist gegenteiligen Bildes, und
wenn nein, bitte nachvollziehbar begründen?

17. Stimmt die Bundesregierung angesichts ihrer Antwort zu Frage 9 auf Bun-
destagsdrucksache 17/3339, wonach insbesondere Schülerinnen nichtmus-
limischen Glaubens aus muslimisch geprägten Ländern häufiger nicht am
Sexualkundeunterricht teilnehmen als muslimische, der Aussage zu, dass
ein in Politik und Öffentlichkeit verbreitetes Bild, wonach insbesondere
muslimische Kinder häufiger nicht am Sexualkundeunterricht teilnähmen
bzw. wonach ihre Religion der Grund hierfür wäre, falsch ist, welche
Schlussfolgerungen zieht sie hieraus, und wenn nein, bitte nachvollziehbar
begründen?

18. Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass in Politik und Öffentlichkeit
breit über eine angeblich verbreitete Integrations(kurs)verweigerung unter
Migrantinnen und Migranten debattiert wurde und wird, obwohl es hierfür
keinerlei empirische Belege gibt?

19. Welche Aufklärungsmaßnahmen und Initiativen plant die Bundesregierung
angesichts einer verbreiteten und offenbar durch die „Sarrazin-Debatte“
noch verstärkten Muslim- bzw. Islamfeindlichkeit, die sich z. B. darin aus-
drückt, dass nach einer jüngsten Umfrage des französischen Meinungsfor-
schungsinstituts IFOP (vgl. dpa vom 4. Januar 2011) 40 Prozent der Deut-
schen den Islam als eine Bedrohung der „nationalen Identität“ ansehen, drei
Viertel der Deutschen der Auffassung sind, dass Muslime nicht gut inte-
griert seien und 67 Prozent eine „Verweigerungshaltung der Muslime“ als
wichtigsten Grund für bestehende Integrationsprobleme ansehen?

20. Wie beurteilt die Bundesregierung aktuelle Einstellungsuntersuchungen,
die u. a. zu dem Ergebnis kommen, dass 58,4 Prozent der Deutschen die
Religionsausübung von Muslimen in Deutschland einschränken wollen
(vgl. Decker u. a.: „Die Mitte in der Krise“, S. 134) bzw. dass mehr als ein
Viertel der Befragten den Zuzug von Muslimen nach Deutschland generell
unterbinden will (vgl. Heitmeyer: „Deutsche Zustände“, Folge 9), und wie
gedenkt sie, gegen solche Werthaltungen, die das friedliche Zusammen-
leben gefährden können, aktiv zu werden?

21. Wieso kann die Bundesregierung keine Einschätzung zum Anteil der Inte-
grationsverweigerer innerhalb der deutschen Bevölkerung ohne Migra-
tionshintergrund geben, obwohl es zahlreiche Untersuchungen, Studien und
Befragungen zu Einstellungen der deutschen Bevölkerung zu den Themen

Einwanderung, Akzeptanz von Eingewanderten und anderen Religionen,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/4599

fremdenfeindliche Einstellungen usw. gibt (bitte näher begründen; Nach-
frage zu Bundestagsdrucksache 17/3339, Antwort zu Frage 13)?

22. Wie rechtfertigt die Bundesregierung, nachdem sie eingestanden hat, dass
die eingeschränkten Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes nicht
zum Ziel haben, eine „soziale Integration“ der Betroffenen zu gewährleisten
(vgl. Bundestagsdrucksache 17/3339, Antwort zu Frage 11b), diese staat-
liche Integrationsverweigerung angesichts des Umstands, dass ein nicht
unbeträchtlicher Teil dieser Personen dauerhaft in Deutschland verbleibt,
und zwar neben den durch Behörden und Gerichte als schutzbedürftig
Anerkannten auch viele derjenigen, die nach einer Ablehnung aus unter-
schiedlichen Gründen nicht abgeschoben werden können, und dann nicht
nur die Betroffenen, sondern auch die Gesamtgesellschaft unter den Folgen
dieser staatlichen Integrationsverweigerung zu leiden haben?

Berlin, den 27. Januar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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